Virales Marketing für Neonazis

Rechte Propaganda in sozialen Netzwerken wie Youtube, Facebook und Wikipedia

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit kommt an Techniken wie Social Media Optimization und Viralem Marketing nicht mehr vorbei. Keine politische Partei kann auf Twitter, Blogs und andere Bausteine des Online Campaignings verzichten. Jetzt hat auch die rechte Szene in Deutschland das Web 2.0 entdeckt.

"Handlungsbedarf bei Wikipedia" sah Anarch, ein Mitglied der rechtsextremen Community Thiazi-Net im Sommer 2008. Er nannte Namen, welcher Wikipedia-Artikel sich die Kameraden besonders annehmen sollten, welche Wikipedia-Autoren vertrauenswürdig, weil national gesonnen, und welche das eher nicht seien. Warum? "Wikipedia steht in einer Googlesuche regelmäßig auf den ersten fünf Plätzen. Wir könnten mit relativ geringem Aufwand bei einem wirkmächtigen Medium Einfluss gewinnen.", so Anarch.

"Die Neonazis stehen vor einem Dilemma", sagt der Münchner Journalist Robert Andreasch: "Entweder bleiben sie unter sich und können offen reden. Oder sie wollen öffentlich wirksam werden - dann müssen sie in offene Webangebote hinein." Die rechte Gegen-Wikipedia "Metapedia" ist inhaltlich unattraktiv und offen ideologisch. So tobt seit mehr als einem Jahr ein "Sockenpuppen-Zoo" durch die deutschsprachige Wikipedia. Sockenpuppen heißen in Analogie zu den von Bauchrednern eingesetzten Handpuppen mehrere Accounts einer Person, die angelegt werden, um Mehrheiten innerhalb einer Community vorzutäuschen. Während die Wikipedia nichts Grundsätzliches gegen mehrere Accounts eines Benutzers einzuwenden hat, sind Sockenpuppen verpönt.

Ein solcher Account hatte beim Artikel "Joseph Mengele" Zitate eingefügt wie "Beim Augenlicht meiner Mutter, ich habe nie jemandem etwa zuleide getan" oder sich über Benno Ohnesorg lustig gemacht: "Wie wärs mit 'Ohnesorg war einfach ein Schwachkopf, der zur richtigen Zeit und vom richtigen Täter erschossen wurde'? Damit ist seine historische Relevanz ja erschöpfend umfasst..." Im Beitrag "Ich hatt' einen Kameraden" wurde wochenlang heftig gegen einen Hinweis auf die NS-Rezeption des Liedes gekämpft. Es handele sich um ein antifaschistisches Lied, versuchten einige Bearbeiter zu suggerieren. Das Foto, das die angebliche Friedfertigkeit des Liedes belegen sollte, war betitelt mit "Inschrift auf einem Brunnen". Spätere Bearbeiter berichtigten: "Inschrift auf einem Kriegerdenkmal" - es handelt sich um das Kriegerdenkmal in Speyer in Form eines Brunnens. Burschenschaften und ihre Geschichte sind in der Wikipedia im Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Relevanz überrepräsentiert; Kritik wie der Hinweis auf personelle Verflechtungen mit rechtsextremen Organisationen kommt zu kurz und wird immer wieder entfernt.

Viele der genannten Beiträge wurden inzwischen überarbeitet. Doch für wie lang? Nach seiner Enttarnung brüstete sich ein Bearbeiter mit seiner Wikipedia-Arbeit: "Ja, ich habe Sockenpuppen mißbräuchlich eingesetzt (...) und eine Menge Leute verarscht und auch vor den Kopf gestoßen, keine Frage!" und rief den Wikipedianern höhnisch zu: "Ihr werdet sehen, auch ohne mich bleibts dasselbe in grün ;-)"

Spielen die Neonazis das Drehbuch der Weltwirtschaftskrise nach? Hoffen sie auf ein neues 1933? Dass der Zeitpunkt für die Propaganda-Initiative kein Zufall ist, glaubt Holger Kulick von "Mut gegen rechte Gewalt": "Für die NPD beispielsweise stehen die Zeiten auf Sturm. Es wird zur 'Systemüberwindung' des 'liberalkapitalistischen Systems und des bestehenden volksfeindlichen Parteienstaats' aufgerufen. Und in Internet-Foren haben alle bekannten Vorurteile natürlich Hochkonjunktur. Die Bösen sind die Amerikaner, Alliierten und die Juden und die 'Ostküste' mit der Wallstreet in New York."

Mit Jugend- und Protest-Themen in Soziale Netzwerke

Zwar gibt es unter dem Namen NS-Treff eine eigene rechtsextreme Mini-Community nach Facebook-Vorbild. Doch um öffentlichkeitswirksam zu werden, ist virales Marketing in den diversen Subkulturen der großen Communitys ein erfolgversprechenderes Aktionsfeld. Eine Protestkultur etwa fand sich seit den späten Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in einer Neubelebung vorgeblich keltischer, germanischer oder indianischer Religiosität zusammen. Soziologen sprechen in Analogie zu den Neuen Sozialen Bewegungen von einer "neuen religiösen Bewegung". Den meisten Anhängern neuheidnischer Religiosität ist klar, dass es sich um eine moderne Rekonstruktion handelt, die heutigen Bedürfnissen gerecht wird, nicht um eine historisch belegbare vorchristliche Tradition.

Für rechtsextreme Ideologen hingegen ist der Bezug zur angeblichen uralten germanischen Religion ein wesentlicher Glaubensinhalt und gehört zur rechtsesoterischen Folklore: Die "Ariosophie", deren Anfänge im frühren 20. Jahrhundert liegen, erlangte Einfluss auf NS-Größen bis hin zu Heinrich Himmler und Adolf Hitler. Ihre Vertreter hießen Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels. Die Ariosophie inspirierte auch die "Thule-Gesellschaft", die bei der Entstehung der NSDAP eine Rolle spielte.

Unter dem Namen "Thule-Gesellschaft" finden sich bei Facebook heute höchst unterschiedliche Personen zusammen. . Nur für Insider entschlüsselbar: Einer, der sich Raimo Rosendahl nennt, schmückt sich mit dem Porträtfoto von Guido von List. Eine Facebook-Gruppe hat sich um den NS-Ideologen Alfred Rosenberg versammelt, eine andere um den Vordenker der sogenannten "Neuen Rechten" Armin Mohler. Die Mitglieder, zum Teil fiktiv, sollen weltweite Anhängerschaft vortäuschen, bei dem ein oder anderen Namen handelt es sich offenkundig um einen "nom de guerre". Einige Fotos zeigen offen rechtsextreme Symbole.

Wer auf Youtube einschlägige Suchbegriffe eingibt, findet von Handy-Videos zu Nazi-Aufmärschen bis zu professionell gemachten Imagefilmen die gesamte Bandbreite viralen Marketings für rechtsextreme Personen und Themen: Auftritte rechter Bands, den Liedermacher und NPD-Anhänger Frank Rennicke im Interview oder einen Werbefilm für völkische Esoterik unter dem Banner der "Schwarzen Sonne".

"Die Betreiber beliebter sozialer Netzwerke haben kaum eine Chance, jeden einzelnen Eintrag zu kontrollieren", sagt Holger Kulick von "Mut gegen rechte Gewalt". "Sie sind darauf angewiesen, dass andere Mitglieder der Community die Augen offen halten und auf Einträge, die ihnen auffallen, aufmerksam machen". Er rät: "Wer solche Seiten bemerkt, kann sie bei uns oder auch bei jugendschutz.net melden."

Versteckspiel im Web 2.0

Um Jugendliche zu erreichen, sprang die NPD in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder auf fahrende Propaganda-Züge auf: Als Computerspiele populär wurden, ließ sie Nazi-Computerspiele verbreiten. Als BBS-Mailboxen der letzte Schrei waren, eröffneten die Jungen Nationaldemokraten ein rechtes Mailbox-Netz. Mit dem Aufkommen des Web wurde daraus ein Web-Angebot. Palästinensertücher und Che-Guevara-T-Shirts gehören heute zu den gängigen Verkleidungen. Vom Neopaganismus über die Schwarze Szene in der Musik bis hin zur Anthroposophie wird aufgegriffen, was auch nur entfernt Anknüpfungspunkte für die rechte Ideologie bietet. Die unfreiwilligen Wirts-Kulturen sind damit alles andere als glücklich. Sie distanzieren sich von der rechtsextremen Szene und verweisen auf ihre Aufklärungsarbeit. Sehr zur Freude der rechten Kameraden, die anschließend triumphierend auf ihre angebliche Nähe zur Antifa hinweisen.

"Versteckspiel" nennt der Verein "Agentur für soziale Perspektiven" diese Mimikry. "Rechtsextreme Propaganda bedient sich inzwischen ausdrücklich als 'links' eingeordneter Codes", beschreibt Holger Kulick vom Verein Mut gegen rechte Gewalt die Strategie. Er verweist auf die Geschichte: "Schon die Nazis haben die Sonnwendfeiern und Fackelzüge von der Wandervogelbewegung und linken Jugendorganisationen der Weimarer Republik abgekupfert." So bezeichnen sich rechte Propagandisten in Sozialen Netzwerken gern selbst als "linksliberal" oder gar "linksradikal". Damit schlagen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: unerfahrende Benutzer zu verwirren - und den politischen Gegner zu verleumden.

Kulturelle Hegemonie vortäuschen

Die Wikipedia-Strategie der national gesonnenen Bearbeiter beginnt beim simplen Löschen wie etwa dem Hinweis auf Massenerschießungen in Dachau während der NS-Zeit. Stößt das Vorgehen auf Widerspruch, pochen die Kameraden energisch auf das Einhalten der Wikipedia-Regeln: Kein "Point of View" (POV), neutral solle die Information sein. Wikipedia-Autor "The Brainstorm" hat die Erfahrung gemacht: "Wenn man die NS-Rezeption eines Themas bei einem Artikel einfordert oder sich gegen Verharmlosung einsetzt wie etwa beim Thema Waffen-SS, wird das oft sehr aggressiv als 'Antifa-POV' abgetan". Missliebige Literaturangaben werden als "nicht reputabel" gelöscht. Versucht wird auch, Gegner so zu provozieren, bis sie sich zu einer verbalen Entgleisung hinreißen lassen, um sie dann als "Vandalen" anzuzeigen und eine Sperrung nach den Wikipedia-Regeln zu erreichen.

Auf Dauer halten sich die Fehlinformationen nicht. Mit technischen Hilfsmitteln wie dem "Checkuser-Verfahren" entlarvt die Wikipedia immer neue Sockenpuppen eines Benutzers, der sich "Rosa Liebknecht" nannte - mehrere hundert wurden inzwischen enttarnt. In mühsamer Kleinarbeit korrigieren die ehrenamtlichen Wikipedia-Autoren die einseitigen Einträge. Inhaltlich beobachtet Wikipedia-Autor Alexander Klimke einen Trend "hin zu subtilen oder sehr fachspezifischen Änderungen, die weitgehend nur noch durch Experten beurteilt werden können." Insgesamt, so Klimke, nehmen die "Großschadenedits" ab, aber: "Die Kleinschadenedits werden besser getarnt". Diese zu enttarnen, verlange entsprechende Fachkenntnis. Die Diskussion auf Expertenniveau gelinge nur einem kleinen Teil der Rechtsextremen, die dann, so Klimke, "aber auch entsprechend besonders gefährlich sind."

Dass den Kampf um die Köpfe in der Wikipedia auf beiden Seiten Akademiker führen, wird am Beispiel "Schwarze Feder" deutlich, einem Autoren, der Manipulationen in der Wikipedia aufdeckte. Der habilitierte Genetiker Volkmar Weiss, der die These einer biologisch vorgegebenen Intelligenz vertritt, schrieb "von Kollege zu Kollege" an den Doktorvater des Wikipedia-Autoren, um den Nachwuchswissenschaftler anzuschwärzen - zu seiner Empörung ohne den gewünschten Erfolg.

Weitere Hassgegner der rechtsextremen Intellektuellen sind Journalisten. "Das extrem rechte "Deutsche Rechtsbüro" hat erklärt, dass man in gewissen Fällen Journalisten straffrei angreifen und ihr Equipment zerstören dürfe. Das stimmt zwar nicht, aber seitdem gehen die Kameraden oft tätlich auf Journalisten los", berichtet Robert Andreasch, der selbst bereits Opfer solcher Angriffe wurde. Ein aktuelles Beispiel ist der Angriff auf den tschechischen "Stern"-Fotografen Stanislav Krupar. Viele gegen einen - so sieht das auch online aus. Doch so viele Kameraden, wie es scheinen könnte, sind es nicht: "Es geht eher darum, Mehrheiten vorzutäuschen" urteilt Wikipedia-Autor "The Brainstorm". Bei einschlägigen Themen wie völkischer Esoterik, Neuheidentum, Holocaust-Leugnung und weiteren Verschwörungstheorien seien rasch ein halbes Dutzend "Polit-Socken", wie die Wikipedianer sie nennen, beisammen. "Die diskutieren alle anderen in Grund und Boden", so "The Brainstorm". Dass an den als Beleg angebrachten "Fakten" nichts dran ist, muss der einzelne ernsthafte Experte unter den Wikipedianer erst einmal beweisen. Hauptsache, die Diffamierung aus der Sicht der Rechtsextremen funktioniert. So wurde der Eintrag über den FAZ-Journalisten Richard Herzinger mit dem Attribut "jüdisch" versehen, um die Israel-Berichterstattung des Journalisten zu diskreditieren.

Hauptberufliche Marketing-Experten

Eine erfolgreiche Gegenstrategie besteht darin, sich über die Rechtsextremen online lustig zu machen. Das ist Ziel von satirischen Projekten wie der "Front deutscher Äpfel", samt Jugendorganisation Nationales Frischobst Deutschland (NFD) sowie Frauenorganisation Bund weicher Birnen (BWB). Der Webauftritt nimmt Wortwahl und Tonfall der NPD auf: Hier gibt es das "Weltnetz", wie die Nazis das Internet nennen, und die Menüpunkte "Heim" oder "Brett" statt "Home" und "Forum". Auch diese Taktik versuchen die rechten Öffentlichkeitsarbeiter aufzugreifen und machen sich in der Wikipedia über die ernsthaften Autoren lustig. Von einer "rechten Spaßguerilla" spricht Günter Schuler, Autor des Buchs "Wikipedia inside" folgerichtig auf npd-blog.info.

Unter Personen der Neonazi-Szene ist inzwischen ein regelrechter Wettbewerb darüber ausgebrochen, wessen Wikipedia-Eintrag der längste ist. "Es gibt mindestens eine Person, die hauptberuflich für die NPD im Web 2.0 unterwegs ist", bestätigt Holger Kulick von "Mut gegen rechte Gewalt". "Ein entschlossener Polit-Autor kann mit seinem Socken-Zoo eine Zeitlang Dutzende ernsthafter Wikipedianer beschäftigen, bis er enttarnt wird", fürchtet "The Brainstorm".

"Neonazistische Hetze sowie die Teilnahme der extremen Rechten an Online-Communitys und deren Vernetzung im Internet dürfen kein Normalzustand werden", fordert Robert Andreasch. "Hier besteht ein Bildungsauftrag. Die Internetnutzer müssen im Umgang mit dem Internet sensibilisiert und aufgeklärt werden" erklärt der Berliner Rechtsanwalt Alexander Klimke. Langfristig, so hofft er, setze sich auch in den Communitys nach einer kurzen Schrecksekunde "the wisdom of the crowds" gegen den Marketing-Angriff durch. Ein Verbot aber bringe nichts. "Die Devise heißt: wachsam bleiben", sagt auch Holger Kulick. "Denn die rechten Werbespezialisten suchen sich immer neue Themen und Symbole aus, um auf den jeweils aktuellen Trend aufzuspringen."