Frankreich: Ausnahmezustand Schweinegrippe

Die neue Influenza regt die französischen Behörden zu geheimen Projekten an, die Kritikern Furcht vor "sekundären Effekten" auf Freiheitsrechte bereiten

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Geht es um die neue Grippe A/H1N1, dann keimen im Nachbarland Frankreich Nachrichten mit Schockpotential: War Ende Mai in einem Geheimpapier, das vom Journal du Dimanche enthüllt wurde, die Rede von Zwangsimpfungen, bei denen das Militär eine Rolle spielen könnte (vgl. Frankreich: Militär koordiniert Grippebekämpfung), so sorgt jetzt eine Veröffentlichung der Gewerkschaft Syndicat de la magistrature für Beunruhigung in den Medien. In deren Folge sah sich gestern sogar Justizministerin Michèle Alliott-Marie gezwungen, öffentlich der Existenz eines weiteren Geheimpapiers zu widersprechen.

Dokumente, die aus dem mutmaßlichen Geheimpapier stammen, das in Kreisen der Justiz – les magistatrats, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Verwaltungsmitarbeiter - zirkuliert, hatte das Syndicat de la magistrature (SM) in der Tageszeitung Libération veröffentlicht. Demnach plant die Regierung für den Fall der Pandemie Maßnahmen, die derart in die Rechtssprechung eingreifen würden, dass der SM vom Schockwort „Ausnahmezustand“ Gebrauch macht: Gerichtsverhandlungen, die nur mehr mit einem, statt mehreren Richtern durchgeführt werden, Ausschluss der Öffentlichkeit von Verhandlungen, Minderjährige, die einem Strafgericht unterstellt werden, ein vorläufig Festgenommener darf seinen Anwalt erst nach Ablauf einer 24stündigen Frist, statt früher, sehen, die U-Haft darf von einem Richter ohne Verhandlung von 3 auf 6 Monate verlängert werden, Verjährungsfristen werden ausgesetzt und anderes mehr. Was damit in Gang gebracht würde, umgehe die normale Rechtssprechung derart, dass man dies, so die Interpretation des SM nur als „liberticide“ bezeichnen kann, als Abmurksen von essentiellen Freiheitsrechten. Die Gewerkschaft verfasste ein Schreiben an die Justizministerin, in dem der Skandal dieses empörenden „Projektes, das mit gerichtlichen Verfügungen operiert“ herausgestellt wurde. Die Beraubung der Freiheitsrechte sei der Schweinegrippe gegenüber unangemessen.

Das Justizministerium bestätigte der Tageszeitung Figaro die Existenz eines solchen „Projekts“ - allerdings mit dem Hinweis, dass es sich nur um ein Arbeitspapier handele, das sich über graduelle Anpassungen Gedanken mache, die im Falle einer Pandemie nötig werden könnten. Man verwies darauf, dass man ganz im Gegenteil den „Schutz“ der Öffentlichkeit und der in der Verfassung garantierten Grundrechte im Sinne habe, dass dies im Vordergrund des Projekts stünde. Man habe sich gefragt, ob es im Falle einer Pandemie vernünftig sei, öffentliche Verhandlungen durchzuführen. Zudem seien die Maßnahmen punktuell geplant, geographisch begrenzt, vorgesehen sei darüberhinaus, dass derartige Maßnahmen dem obersten Gerichtshof vorgelegt würden und dem Parlament. Man hoffe, dass dieses „Projekt“ niemals in Kraft treten werde, selbstverständlich würde sich die Justiz zuvor mit den Gesundheitsbehörden absprechen.

Der Alarmruf der Gewerkschaft bleib auch in höheren Kreisen nicht ungehört. Die Justizministerin erklärte Justizministerin Michèle Alliot-Marie stellte sich in den Gängen des Parlaments den Pressevertretern, deklarierte, dass „es keinen geheimen Plan gibt“. Wie in allen anderen Ministerien habe man auch damit begonnen, über die Risiken der neuen Influenza zu räsonieren und Verantwortliche wurden avisiert, dass sie alle Möglichkeiten zu bedenken hätten, insbesondere den Fall, dass ganz Frankreich von der Epidemie blockiert werde. Diese Maßnahmen seien für eine „katastrophale Situation“ gedacht und man habe noch überdies nicht darüber abgestimmt, keine definitiven Entscheidungen getroffen. Konkrete Details über das besprochene Maßnahmenpaket wollte die Justizministerin aber nicht bekannt geben.

Kritiker werfen der Regierung und den Behörden vor, völlig intransparent zu arbeiten, abgeschottet von der Öffentloichkeit und sich ausschließlich auf technische Lösungen zu versteifen, die soziale Solidarität würde völlig außer acht gelassen: “Unsere Sorge heißt, die Demokratie aufrecht zu erhalten“, lautet der Titel des Aufrufs, den eine Gruppe reputierter Politiker, Wissenschaftler, Gewerkschaftler und Mediziner (naturellement auch ein Nobelpreisträger) verfasst haben. Kommentare sprechen von sekundären Effekten der bislang bekannten Pandemie-Bekämpfungs-Konzepte auf die Freiheit.

Noch steht die Influenza A noch auf Warnstufe 5, doch wird immer wieder spekuliert, dass sich dies nach Ferienschluss ändern könnte und bald le niveau d’alerte 6, das für die Pandemie vorgesehen ist, erreicht werden könnte. Gestern berichtete Libération von mehren Schulenklassen und ganzen Schulen, die wegen Grippefällen geschlossen wurden. Spannend wird, wie man in den kommenden Herbst und Wintermonaten mit den vielen Grippefällen alter und neuer Art zurechtkommen wird.

Gestern sorgten schon mal neue Zahlen von „Les Grog“, einem Zusammenschluss mehrerer „regionaler Gruppen zur Beobachtung der Grippe“, für einen kalten Hauch, der das hysterische Moment gut leiten kann. Zwar nimmt sich die genannte Chiffre von wöchentlich durchschnittlich etwa 20.000 Personen, die seit August in Frankreich an der neuen Grippe erkranken gegenüber den Zahlen, die eine normale Grippewelle im 60 Millionen Land annehmen kann, relativ harmlos aus (wie auch die Grippe A auch), aber die Zahl kann als absolut alarmierend verstanden werden, natürlich folgte daraus ein weiterer Disput. Als Fehlermarge der Schätzungen gab Grog übrigens 20% an, die Schätzungen basieren auf Angaben eines Netzwerks von etwa 5.000 Ärzten. Staatliche Stellen hatten zuletzt 5.000 neue Fälle pro Woche gemeldet.