Einkommensungleichheit als Krisenmotor

Namhafte Wirtschaftswissenschaftler diskutieren eine neue Verteilungspolitik, um die Fehlentwicklungen der vergangenen 30 Jahre zu korrigieren

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Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise forderte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt Ende Juli ein „konsequentes Belastungsmoratorium“ für die deutschen Unternehmen. Wohin der Chef des „sozial- und tarifpolitischen Spitzenverbandes der gesamten deutschen Wirtschaft“ mit dieser kryptischen Formulierung zielte, ist bis heute nicht ausreichend geklärt, doch wer Hundt eine Woche zuvor genau zugehört hatte, konnte sich wenigstens Ungefähres vorstellen. Seinerzeit äußerte sich der Arbeitgeberpräsident vor der Bundespressekonferenz zum Thema Tarifpolitik und erklärte auf Nachfrage, dass er sich eine Senkung der Tariflöhne in Deutschland zwar nicht vorstellen könne, entsprechende „Kostenentlastungen“ in einzelnen Branchen „aus betriebswirtschaftlicher Sicht“ aber „durchaus berechtigt“ seien. Mitte August ließ Hundts Verband das heiße Eisen vorerst fallen, wollte aber festgestellt wissen, dass die deutschen Unternehmen auf den Einsatz flexibler Beschäftigungsformen angewiesen seien, um „auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Arbeitsplätze zu sichern“.

Dank der flexiblen Beschäftigungsformen wie der Zeitarbeit haben viele Menschen mit geringer Qualifikation über eine einfache, entsprechend geringer entlohnte Tätigkeit den Einstieg in Arbeit geschafft. (…) Der Einstieg in Arbeit darf gerade angesichts der weiterhin hohen Arbeitslosigkeit bei gering Qualifizierten nicht durch einen Rückfall in eine unnötige, unverhältnismäßige Beschränkung flexibler Erwerbsformen verbaut werden. (…) Eine Abwertung flexibler Erwerbsformen wie der Zeitarbeit oder der Teilzeitbeschäftigung als „atypisch“ oder sogar „prekär“ ist deshalb nicht nur falsch, sondern arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv.

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

Der lange Weg in die Spaltung

Der arbeitgebernahe Protest gegen hohe Lohn- und Arbeitskosten, die angeblich entscheidend dazu beitragen, die Effizienz und internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu ruinieren, ist mindestens so alt wie die Bundesrepublik. Doch seit den frühen 80er Jahren hat sich die Idee, Lohnerhöhungen unter den Produktivitätsfortschritt zu drücken und sowohl die Lohnstruktur als auch die Arbeitsverhältnisse immer weiter auszudifferenzieren, zum politischen Programm mit erkennbar hoher Praxistauglichkeit entwickelt.

In einer aktuellen Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung zeichnen Gustav Horn, Katharina Dröge, Simon Sturn, Till van Treeck und Rudolf Zwiener nach, wie internationale Organisationen – allen voran OECD, IMF und EU-Kommission – ihren Mitgliedern schon vor knapp 30 Jahren eine weitgehende Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und die Orientierung an angelsächsischen Vorbildern empfahlen. Um die steigende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Wirtschaftssysteme aufrechtzuerhalten, sollten, so der allgemeine Tenor, die Lohnkosten möglichst gering gehalten und in den unteren Einkommensbereichen weit gespreizt werden.

In Deutschland war das Vorhaben besonders erfolgreich und führte ab Mitte der 90er Jahre zu einer regelrechten Spaltung der Gesellschaft, die auch von der OECD festgestellt wurde. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fand es nun allerdings nicht mehr opportun, dass die real verfügbaren Einkommen im unteren Fünftel der Privathaushalte innerhalb eines Jahrzehnts absolut zurückgingen, der Anteil der Löhne am Volkseinkommen deutlich gesenkt wurde und unzählige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen wurden, die der Arbeitgeberverband nicht „atypisch“ oder „prekär“ nennen möchte, die aber dessen ungeachtet so beschaffen sind, dass sie mindestens eine genaue Bezeichnung verdient haben.

Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt vollzog sich nicht im luftleeren Raum. Flankierend verabschiedeten die politischen Verantwortungsträger steuer- und sozialpolitische „Reformen“ mit dem unverblümten Ziel der Leistungsbeschränkung, welche die Umverteilung, die sich unter anderem am sogenannten Gini-Koeffizienten ablesen lässt, weiter vorantrieb. Im vergangenen Herbst musste die OECD feststellen, dass Einkommensungleichheit und relative Armut hierzulande in den vergangenen Jahren deutlich stärker gewachsen sind als im Durchschnitt ihrer Mitgliedsländer. Im Mai 2009 wurde überdies konstatiert, dass sich die Steuern- und Sozialabgaben hierzulande ausgerechnet bei den Gering- und Durchschnittsverdienern konzentrieren.

Deutschland belastet wie kaum ein anderes OECD-Land die Einkommen von Gering- und Durchschnittsverdienern mit Sozialabgaben und Steuern. Dies gilt für Singles wie auch für Paare und Familien mit zwei Erwerbstätigen. (...) So beliefen sich 2008 in Deutschland laut OECD-Studie Taxing Wages Steuern und Sozialabgaben für einen alleinstehenden Geringverdiener mit 2/3 des Durchschnittsverdienstes auf 47,3 Prozent der Arbeitskosten (Bruttoverdienst plus Sozialbeiträge der Arbeitgeber).

OECD

Die dramatischen Ungleichgewichte in der Einkommens- und Vermögensverteilung bilden freilich kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Immer mehr Ökonomen, so etwa der Pariser Wirtschaftswissenschaftler Jean-Paul Fitoussi oder Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, sehen in ihnen eine der Wurzeln der Wirtschafts- und Finanzkrise.

Von Roosevelt zu Reagan

Paul Krugman, 2008 Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, war lange Zeit nicht dafür bekannt, Erklärungen für Marktentwicklungen außerhalb des ökonomischen Universums zu suchen. Unter dem Eindruck der Bush-Regierung sah sich Krugman allerdings nicht nur zu einem Standortwechsel, sondern auch zu einer inhaltlichen Kurskorrektur gezwungen, die er 2007 in seinem Buch „The Conscience of a Liberal – Reclaiming America from the Right“ dokumentierte. Unter dem gleichen Titel betreibt Krugman noch immer einen Blog für die „New York Times“.

Der Ökonom wirft einen Blick zurück in die 30er Jahre, als Präsident Franklin D. Roosevelt nach der Weltwirtschaftskrise den „New Deal“ zum Fundament einer ausgewogenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neugestaltung zu machen versuchte. In den 70er Jahren hätten die Republikaner diesen lange Zeit erfolgreichen Konsens aufgekündigt und mit Ronald Reagan schließlich den ersten Präsidenten der „Movement Conservatism“ ins Weiße Haus schicken können.

Die konservative Bewegung umfasst über die Republikanische Partei und republikanische Politiker hinaus Medienkonzerne, Denkfabriken, Verlage und mehr. (…) Geld ist der Kitt der Konservativen Bewegung, die überwiegend von einer Handvoll extrem reicher Privatpersonen und von einer Reihe von Großkonzernen finanziert wird, die allesamt von wachsender Ungleichheit, einem Ende der progressiven Besteuerung und einem Rollback des Wohlfahrtsstaates, kurz, von einer Umkehrung des New Deal profitieren würden.

Paul Krugman

Um Krugmans Zeit- und Argumentationslinie zu folgen, beschreibt die Studie der Böckler-Stiftung (Seiten 12-15) die Stationen, die in den USA über Jahrzehnte zu einer schrittweisen Deregulierung der Finanzmärkte führten. Der Bogen erstreckte sich von der Teil-Privatisierung von Fannie Mae und Freddie Mac in den späten 60ern über die vorgebliche „Antidiskriminierungspolitik“ durch Kreditvergabe an Minderheiten (seit den 70er Jahren) bis zur Aufhebung des Trennbankensystems (1999) und der Bewerbung von Ninja-Krediten (no income, no job, no assets) im frühen 21. Jahrhundert. Von all diesen Maßnahmen profitierten nur die Spitzen der Gesellschaft – Minderheiten, Geringverdiener und Erwerbslose hatten allenfalls das Gefühl, an der Wertschöpfung, an Wohlstand und Aufschwung teilnehmen zu können. Am Ende blieben sie auf einem Schuldenberg sitzen.

Die Wachstumsmodelle, die unausweichlich in die Krise führten, basierten folglich in den USA und Deutschland auf niedrigen Löhnen und stagnierenden Realeinkommen, auf die die Menschen in den Vereinigten Staaten mit der unbeschwerten Aufnahme von Krediten reagierten, während hierzulande vielfach Konsumverzicht geübt und dadurch der Binnenmarkt geschwächt wurde.

Mit der aktuellen Finanzkrise werden die Grenzen dieser beiden unterschiedlichen Wachstumsmodelle deutlich: Beide basierten auf der Notwendigkeit, die von einer steigenden Einkommensungleichheit ausgehende stagnative Grundtendenz durch andere Nachfragequellen zu kompensieren, und zwar entweder durch erhöhte Verschuldungsmöglichkeiten (USA, Großbritannien, Spanien) oder durch exportbasiertes Wachstum (Deutschland, Japan, China).

IMK der Hans-Böckler-Stiftung

Ein Arbeitgeberideal als politisches Programm

Die Autoren der Böckler-Studie sehen infolge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise einen Stimmungs- und Meinungsumschwung, wenn es darum geht, die Ursachen für die grundlegenden wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Weichenstellungen der vergangenen Jahrzehnte zu beschreiben. Die rein ökonomischen Faktoren Globalisierung, Rationalisierung oder technischer Fortschritt treten in neueren Betrachtungen hinter dem deutlich erkennbaren politischen Willen zurück, eine gezielte Umverteilung zugunsten der privilegierten gesellschaftlichen Gruppen herbeizuführen.

Großteils scheint ein Konsens zu bestehen, wonach stärkere Gewerkschaften, koordinierte Lohnverhandlungen, Mindestlöhne und andere Institutionen, welche die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer stärken, zu einer egalitäreren Verteilung der Lohn- und Haushaltseinkommen, vermutlich auch zu einer höheren Lohnquote, beitragen. Zudem lässt sich über Steuerpolitik und die Bereitstellung öffentlicher Güter die Schieflage der primären Einkommensverteilung teilweise korrigieren. Die Einkommensverteilung ist demnach keine rein exogene Variable, sondern – zumindest teilweise – politisch beeinflussbar.

IMK der Hans-Böckler-Stiftung

Die von den Autoren angedeutete Schlussfolgerung, dass vor allem „linke“ Regierungen geeignet seien, eine hohe Gewerkschaftsdichte, zentralisierte Lohnverhandlungen und eine hohe öffentliche Beschäftigung umzusetzen, um die Schieflage wieder in eine halbwegs erträgliche Balance zu bringen, erscheint angesichts der deutschen Situation allerdings fraglich. Schließlich wurden die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und die Schwächung des Sozialstaats hierzulande unter einer rot-grünen Bundesregierung initiiert oder konsequent weiterentwickelt. Ähnliches wird sich der amerikanische Ex-Präsident Bill Clinton, der nachgewiesenermaßen kein Republikaner war, vorwerfen lassen müssen, und über die Amtszeit des ehemaligen Labour-Chefs Tony Blair oder des französischen Sozialisten François Mitterrand existieren sehr unterschiedliche Ansichten.

Die von Krugman angedeutete Allianz aus Mandatsträgern, Wirtschaftsführern, Denkfabriken und selbsternannten Eliten lässt sich also kaum parteipolitisch fixieren. Vielmehr scheint es sich um eine mittelfristig stabile Interessengemeinschaft zu handeln, die auch unter veränderten politischen Rahmenbedingungen oder nach Regierungswechseln ausreichend Freunde, Unterstützer und Gleichgesinnte findet.

Gleichmäßige Gerechtigkeit

Um zu verhindern, dass sich die Schere weiter öffnet und den gesellschaftlichen Zusammenhalt irgendwann dauerhaft sprengt, schlagen die Autoren der Böckler-Studie zahlreiche Maßnahmen vor, die von der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns über die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifabschlüssen bis zur Neuregelung der Leiharbeit reichen, die so gestaltet werden soll, „dass sie zwar zur Bewältigung von Auftragsspitzen attraktiv bleibt, jedoch nicht mehr gezielt zum Ersatz regulärer Beschäftigungsverhältnisse genutzt werden kann“. Mit diesen Maßnahmen könne im Bereich der Primärverteilung erreicht werden, dass die Lohnbildung nicht weiter hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleibe. Im Rahmen neuer wirtschaftspolitischer Anstrengungen soll aber auch eine gleichmäßigere Sekundärverteilung der Einkommen erreicht werden.

Dabei müssen Vermögen und höhere Einkommen stärker belastet und untere Einkommen etwas entlastet werden. Die Einführung einer Vermögenssteuer und einer Finanztransaktionssteuer sowie eine höhere Erbschaftssteuer wären Schritte in diese Richtung. Zugleich sollte bei der Einkommenssteuer der Spitzensteuersatz erhöht, und der Tarif gestreckt werden, so dass die höheren Steuersätze erst bei höheren Einkommen erreicht werden.

IMK der Hans-Böckler-Stiftung

Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ wird in der Studie offenbar sehr bewusst vermieden. Die Autoren verweisen zwar auf theoretische „Gerechtigkeitsüberlegungen“, wollen die Debatte aber wohl nicht mehr mit Formulierungen führen, die im politischen Schlagabtausch zu indifferenten und schwer verifizierbaren Wertungen geführt haben. Stattdessen wird eine Modellrechnung zur Diskussion gestellt, die von dem Szenario ausgeht, dass sich Deutschland ab 1999 auf eine an der Produktivität orientierte Lohnpolitik verständigt hätte und die Reallöhne im Jahr 2007 um elf Prozent über dem tatsächlichen Niveau gelegen hätten.

So wäre nach den Modellsimulationen eine stabile Lohnquote ab 1999 mit einem höheren realen BIP und höherer Beschäftigung einhergegangen, während der nominale Außenbeitrag nach neun Jahren im Saldo um rund 35 Mrd. Euro niedriger ausgefallen wäre. Damit hätte Deutschland zu einer Verringerung der globalen Ungleichgewichte beitragen können. Dies hätte auch bedeutet, dass die – im Nachhinein als wenig zielführend zu bezeichnende – Auslandsorientierung des deutschen Finanzsystems weniger extrem ausgefallen wäre. Verstärkend in die gleiche Richtung hätte ein geringerer Anstieg der privaten Sparquote gewirkt. Optimalerweise wäre die bessere Lohn- und Konsumentwicklung durch eine stärker expansiv ausgerichtete makroökonomische Politik unterstützt worden, welche über eine geringere Arbeitslosigkeit letztlich wieder positiv auf die Einkommensverteilung zurückwirkt.

IMK der Hans-Böckler-Stiftung

Die Diskussion über Alternativen zu einer die Ungleichheit in Sachen Einkommen, Vermögen und gesellschaftliche Teilhabe flächendeckend begünstigenden und verschärfenden Wirtschaftspolitik kann die Krise nicht mehr ungeschehen machen und ihre Auswirkungen möglicherweise nur in Teilbereichen abfedern. Allerdings zeigt die aktuelle Situation, wie sich politische Weichenstellungen über Jahrzehnte entwickeln und eine – in diesem Fall negative – Wirkung entfalten können. Von der nationalen und globalen Reaktion auf die Krise hängt so aller Voraussicht nach die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung vergleichbarer Ereignisse ab.