Das Soziale ist wie das Wetter

In der deutschen Sozialwissenschaft macht sich das Netzwerkparadigma auf, Boden gutzumachen. Impulse kommen aus der amerikanischen Relationalen Soziologie

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Warum lagen die Meinungsforschungsinstitute bei der Prognose der Wahlergebnisse der letzten Bundestagswahl so weit daneben? Eine Antwort bietet die Relationale Soziologie, eine revolutionäre Art, Personen und Gesellschaft zu denken, die in Amerika weitaus etablierter ist als in Deutschland. Um soziale Prozesse besser erklären zu können, bemühen sich deutsche Soziologen, dem Paradigma auch in Deutschland mehr Gehör zu verschaffen.

In der Woche vor der letzten Bundestagswahl am 18. September 2005 hatten vier Wahlforschungsinstitute der CDU/CSU einen Stimmenanteil von fast 42 Prozent vorhergesagt. Tatsächlich bekam die Union dann aber nur gut 35 Prozent. Bloß ein Ausrutscher? "Die Annahmen sind falsch", sagt Klaus Liepelt, Professor für empirische Medien- und Sozialforschung an der Hochschule Mittweida. "Es hat sich gezeigt, wenn Prozesse in Gang kommen, die sehr schnell und nachhaltig sind, dann sind die mit den konventionellen Methoden nicht mehr zu messen." Der Gründer des Meinungsforschungsinstituts Infas hat 50 Jahre lang Umfragen entworfen und Stichproben zu Prognosen hochgerechnet. Doch nun fordert er von seiner Branche viel mehr kritische Distanz zu dieser Methode und eine Öffnung für das Netzwerkparadigma.

Bislang wird in der empirischen Sozialforschung in Deutschland vor allem auf Attribute von Personen geachtet. Umfragen machen einen Großteil der Forschung aus. Erhoben werden dabei Dinge wie Alter, Einkommen, politische Präferenz oder Organisationszugehörigkeit. Daraus wird dann beispielsweise versucht, Schlüsse über Wahl- oder Konsumentscheidungen zu ziehen. Beim Netzwerkparadigma, erklärt der Soziologe Christian Stegbauer von der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, spielen Beziehungsstrukturen und soziale Netzwerke eine wesentliche Rolle. "Wer hat überhaupt eine Möglichkeit, mit wem ins Gespräch zu kommen? Das ist eigentlich viel bedeutender, wenn man herausfinden will, wie Präferenzen jenseits des individuellen Handelns entstehen, die sich nämlich aus der Beziehungsstruktur ergeben."

Liepelt und Stegbauer gehören zu einem Kern von Sozialwissenschaftlern, die das Netzwerkparadigma selbstbewusst einfordern. "Mittlerweile ist es zu einer Bewegung geworden, sehr stark in den USA, doch in Deutschland ist da einiges an Nachholbedarf", sagt Stegbauer.

Harrison C. White und die Harvard-Strukturalisten

Harrison C. White

Einer der Protagonisten der Netzwerkforschung ist der amerikanische Soziologieprofessor Harrison C. White von der Columbia University (Interview). Gemessen an seinen Doktoranden, die heute erfolgreiche Lehrstühle innehaben, zählt er zu den Einflussreichsten der heutigen amerikanischen Soziologie. Ein dominierendes Paradigma der amerikanischen Nachkriegssoziologie war der Strukturfunktionalismus des Harvard-Soziologieprofessors Talcott Parsons. 1963 wurde White Dozent am Soziologiefachbereich, den Parsons 1946 als Chairman in Department of Social Relations umbenannt hatte. Doch was White im Seminar Introduction to Social Relations lehrte, entsprach so gar nicht der Lehre Parsons.

Für White war Sozialstruktur kein harmonisches Zusammenspiel von Normen und Werten, in dem Individuen durch Attribute klassifiziert werden, sondern vielmehr eine Regelmäßigkeit, mit der soziale Beziehungen Muster ergeben. 1970, mittlerweile war White selber Chairman, stellte er den alten Soziologiefachbereich wieder her und begrub das Parsons’sche Paradigma.

Jede Soziologie ist relationale Soziologie. Man muss nur erkennen, dass in der sozialen Realität alles Beziehungen und Prozessen entspringt.

Harrison C. White

Anders als in Amerika konnten die Harvard-Strukturalisten um White in Deutschland kaum Fuß fassen, Parsons blieb jedoch durchaus nicht unerhört. Diese Situation hat in der deutschen Sozialwissenschaft ohnehin bestehende Gräben zwischen Mikro- und Makrosoziologie, Individuum und Gesellschaft nur noch vergrößert. Spätestens seit der Erstveröffentlichung seines Theoriewerks Identity and Control Anfang der 90er ist White auch bei der Schließung dieser Mikro-Makro-Lücke einer der Protagonisten. In diesem, mittlerweile in zweiter Auflage veröffentlichtem Buch, verschmilzt White Sozialstruktur und Kultur zu soziokulturellen Formationen, in denen weder Individuum noch Gesellschaft im Vordergrund des soziologischen Interesses stehen. Vielmehr gibt es eine Gleichzeitigkeit von sozialer Entstehung "von unten" und kultureller Rückkopplung "von oben". Ergebnis ist eine revolutionäre Art, das Soziale zu denken. "Auf diese Weise kommen wir natürlich auch zu Personen, aber wir fangen nicht damit an." Möglicherweise sei das abschreckend, gibt White ob der radikalen Neuinterpretation des Individuums zu.

In der Netzwerksoziologie sind Personen etwas anderes, als im Alltag darunter verstanden wird, nämlich "nicht etwas, das immer schon da ist, sondern etwas, das sozial produziert wird", erklärt Boris Holzer zurzeit Soziologieprofessor an der Universität Luzern. Man mag auf der Arbeit ein ganz anderer Mensch sein als zu Hause oder unter Freunden. Der Netzwerktheorie nach bestimmen die sozialen Beziehungen, was eine Person ist, nicht die Person, welche Beziehungen sie hat. Dieses hat Konsequenzen für die empirische Sozialforschung. Aus einem sich andauernd wandelnden sozialen Gefüge Stichproben zu nehmen und diese zu Prognosezwecken hochzurechnen, sei in etwa so, wie einen Film anzuhalten und dann von den Standbildern auf den Ausgang des Films zu schließen. Dabei laufe bei jedem Befragten nicht nur ein anderer Film ab, sondern gleichzeitig auch noch ganz viele, von denen in der Befragungssituation aber einer ausgewählt würde.

Eine klassische Analyse sozialer Beziehungen aus den 1920ern zeigt, dass sich Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen unterscheiden können. Knoten im Netzwerk sind Arbeiter mit der Aufgabe, ein elektrisches Bauteil herzustellen: Verdrahter (Kreise), Löter (Rauten) und Kontrolleure (Quadrate). Kanten geben die Art der Beziehung an: Zielperson ist Freund und Empfänger von Hilfsdiensten (schwarz), nur Freund (rot) oder nur Empfänger von Hilfe (grün).

Transatlantischer Austausch

Um der Relationalen Soziologie in Deutschland Gehör zu verschaffen, haben Protagonisten wie Liepelt und Stegbauer eine Arbeitsgruppe Netzwerkforschung innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründet. "Was fehlte, war eine Plattform, eine Möglichkeit, sich über Theorien und natürlich auch über die Weiterentwicklung von Methoden auszutauschen", sagt Stegbauer rückblickend. Die kommende Herbsttagung ist dem Thema Netzwerke und Kommunikation: komplementäre Perspektiven? gewidmet.

Im Diskurs der Teildisziplinen geht es nicht nur darum, was die deutsche Soziologie von den US-Kollegen aufnehmen, sondern auch, was man zurückgeben könne. White denkt dabei besonders an die europäische Stärke in der Theorie und Philosophie. "Vielleicht kann man damit eine größere Tiefe erreichen." Als Vertreter der deutschen Systemtheorie von Niklas Luhmann würde Holzer es begrüßen, "wenn auch diese Art der Soziologie ein bisschen reimportiert wird nach Amerika." Mit Parsons musste dort nämlich auch Amerikas größter Vertreter dieser Systemtheorie den Rückzug antreten.

Ähnlichkeit bzw. Unterschiede von Netzwerk- und Systemtheorie sind aktuell Gegenstand eines angeregten Diskurses innerhalb der deutschen Soziologie. Stephan Fuchs glaubt, "dass die Netzwerk- und Systemtheorie angeregten Versuche auf einen Paradigmenwechsel hinauslaufen." Der deutsche Soziologieprofessor an der University of Virginia arbeitet an der Vereinigung beider Theorien, deren Gemeinsamkeit er in den Grundannahmen sieht. "Es ist ein Beziehungsdenken, kein Substanzdenken." Eine harte Nuss gibt ihm dabei das letzte große Werk Luhmanns mit auf den Weg, demnach Gesellschaft nur funktioniert, wenn es gelingt, Individuen zu rekrutieren. Schließlich sei Kommunikation auf das Mitmachen von Individuen angewiesen. Angesichts solcher Paradoxe empfiehlt White, ausgetretene Pfade zu verlassen.

Man kann nichts falsch machen, wenn man dem Common Sense abschwört, denn das öffnet einen dafür, die Dinge anders zu sehen.

Harrison C. White

Wahlprognosen angesichts Nichtlinearität

Mittlerweile steht die nächste Bundestagswahl an und Wahlforscher Liepelt fragt sich, wieso die Umfrageforschung vor Wahlen immer wieder Fehlprognosen riskiert, ohne über die eigenen, seit über fünfzig Jahren praktizierten Methoden kritisch nachzudenken.

Zur Wahlforschung empfiehlt er eine Orientierung an der Wetterforschung, die aus der gründlichen Analyse ihren Vorhersagepannen gelernt habe. "In Schönwetterlagen, wenn ein Hochdruckgebiet da ist, kann man Sonnenschein und blauen Himmel voraussagen; und zwar für ein paar Tage, vielleicht auch für eine Woche. Aber wenn sich das Wetter verändert, es muss nicht gleich ein Tornado sein, sind die kurzfristigen Vorhersagen, auf die es besonders ankommt, noch ziemlich ungenau." Zur Wettervorhersage werden daher verschiedene mögliche Wetterbefunde gleichzeitig simuliert, und am Ende bleibt der am wenigsten unwahrscheinliche Befund als Prognose übrig. "So ähnlich kann man das, ohne Wassertropfen mit Wählern zu verwechseln, auch mit den komplexen Stoffwechselprozessen machen, die sich in einem Wahlkörper vollziehen."

Wie in allen komplexen Netzwerken können kleine Ursachen große Wirkungen haben. Die richtige Story zur richtigen Zeit kann eine neue Partei auf den Plan katapultieren. Die neuen Rahmenbedingungen des World Wide Web sowie die allgemeine Beschleunigung der Ereignisse haben dieses Grundgesetz der Nichtlinearität lediglich verstärkt. Andererseits müssen große Ursachen nicht auch große Wirkung entfalten. Viel Werbegeld sichert noch lange nicht den Wahlsieg. Gewiss scheint Liepelt nur dieses: "Vor einer Wahl hat keiner das letzte Wort – die Umfrageforschung schon lange nicht."