Cyber ist Punk, Dampf ist Punk und die Bombe ist es erst recht...

Atompunk

Gogbot 09: Atompunk Edition - vom Steampunk zurück in eine strahlende Zukunft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bereits zum vierten Mal fand in diesem Jahr im niederländischen Enschede das Gogbot Festival statt. Nachdem das ursprünglich von der Planetart Gruppe initiierte Straßen- und Konzertevent im letzten Jahr ganz im Zeichen des Steampunk stand - und dessen Kern um ein Ideechen verfehlte - erfand man sich dieses Jahr gleich selbst ein Genre: Den Atompunk.

Die Idee dahinter sieht etwa so aus: Cyber ist Punk, Dampf ist Punk und die Atombombe ist es erst recht. Der interessierte Leser wird nun nach DEM Atompunk Roman fragen. Beim Cyberpunk war das William Gibsons "Neuromancer", beim Steampunk Bruce Sterlings "Differenzmaschine". Was den Atompunk angeht: Nun, mir wäre kein entsprechendes Werk bekannt. Immerhin liefert Steam- und Cyberpunk Ikone Bruce Sterling im amerikanischen Magazin "wired" eine etwas vage Definition für ein Genre, das sich selbst noch gar nicht kennt.

Atombombe

Atompunk ist demnach die "streng prädigitale Periode die den Modernismus der Jahrhundertmitte beinhaltet, aber auch den Geist des Atom- und Raumfahrtzeitalters und ganz besonders jede Menge Kommunismus und Kommunismus-Paranoia". Darunter können wir uns dann langsam doch irgendwas vorstellen. Viktorianische Steampunkästehtik wurde ersetzt durch den Monumentalismus amerikanischer und russischer Atomwaffenfabriken und Raketentestgelände, das alles durchsetzt mit 60er Jahren Designexperimenten und Kalter Krieg Paranoia, oder irgendwie in der Art...

Bruce Sterling

Bruce Sterling ist es übrigens auch, der wie im letzten Jahr das Vorwort der Broschüre zum Festival 2009 verfasst hat und dort noch einmal zu erklären versucht, warum beim Atompunk - an dessen Definition man nach Aussage der Veranstalter Planetart seit Dezember 2008 in einer Mailingliste herumwerkelte - Atom und Punk einfach zusammengehören:

Weil man Punk selber machen kann. Die Werkzeuge dafür sind da: Suchen, Finden, Ausschneiden, Remixen, Einfügen, um High Tech und Low Life zu verbinden. Es kostet uns nichts weiter als die Mühe und erfordert keine offizielle Genehmigung.

Und weiter:

Das Atom meint eine ganze Welt: Die fantastische Welt des atomaren Zeitalters. Hektisch und fiebrig, spacig und radioaktiv, es war ein Zeitalter, das innerhalb von nur 20 Jahren lebte und starb wie ein verdammter Punk Poet.

(Entnommen dem offiziellen Festival Programm)

Mit anderen Worten: Mr. Sterling weiß selbst nicht genau, wohin die Reise geht, aber das Thema lässt Spielraum und genau den will die Kunstinitiative Planetart, die hinter dem Gogbot Festival steckt, Kreativen bieten. In diesem Jahr sind es rund 200 verschiedene Künstler, Performer, Musiker, Technophile und Akteure, die mit ihren ganz eigenen Interpretationen Enschede im Dunkeln grün leuchten lassen - natürlich nur im übertragenen Sinn. Am Donnerstag eröffnete Ex Atari Teenage Riot Frontmann Alec Empire mit einem Atompunk Special DJ Set und entfesselt damit lautstark die bösen Geister des Atomzeitalters, die bis zum Sonntag in mannigfaltiger Gestalt durch Enschedes Straßen spuken.

Abacus Theater

Da röhrt plötzlich ein Korso abstruser Fahrzeuge voller barbarischer Gestalten in schwarzem Leder mit Drummer oder Skelett als Sozius durch die Fußgängerzone wie eine postapokalyptische Gang, die direkt der Mad Max Trilogie entsprungen sein könnte. Dahinter steckt Jan Wessels Abacus Theater mit seinen "mobilen visuellen Szenen".

Punktrabant

Die restliche postapokalyptische Population aus Schrottbildhauern, Pyromanen, Technikfreaks, Robotkünstlern, Medienkünstlern und DJs hat eine Art Survivalisten Camp um die große Kirche mitten in Enschede errichtet. Hier tobt das prä- und postnukleare Drama umgeben von einem Verteidigungswall aus Straßencafes, in denen Enscheder Ureinwohner und Angereiste entspannt den Zirkus beobachten. Die Mad Max Vehikel von Abacus parken neben dem "Punktrabant" von Olaf Mooij, einem klassischen DDR Trabant versehen mit Irospikes - der damit auch das perfekte Maskottchen für das Atompunk Gogbot abgibt -, einem Jet, einer Mondrakete, einer Atombombe und einem Robotdrummer.

Gogbot

Ab und zu staken Gestalten auf Stelzen wie mutierte radioaktive Zombies über den Platz und verfolgen kreischend die Besucher. Über dem Tumult schwebt ein heliumgefülltes Atomium, direkt vor der "Grote Kerk", vor deren Pforte das Chaos keinen Halt gemacht hat. Im Eingangsbereich der Kirche empfängt die Besucher ein Kosmonaut, an einem Stand gegenüber kann man Bücher von William S. Burroughs kaufen. Der Innenraum des Gotteshauses ist zum Multi Media Art Event Center geworden.

Radioaktive Zombies

Die interaktive Skulptur eines Einhorns namens "Pony" rennt auf der Stelle und wird umso schneller, je mehr man sich ihr nähert. Gleich daneben Marnix de Nijs "Beijing Accelerator", der an eine Art Trainingszentrifuge für Kampfpiloten erinnert. Ein kleines Mädchen benutzt ihn wie ein Karussell, dreht sich immer schneller, während auf einem sich mitdrehenden Monitor Panoramabilder einer Stadt eingeblendet werden. Dahinter füllt eine riesige Videowand den halben Raum aus.

Kühlschränke

Verlässt man das Kirchenschiff durch eine Seitentür stößt man draußen auf einen Stapel von 20 Kühlschränken. Neugierige drängen sich davor, stöbern hinter Kühlschranktüren und entdecken dabei Soundstrukturen, Bücher und andere Materialien. "Coldwar" heißt diese Installation von Lorenz Dexler und Martin Rein-Cano. Kein Zweifel, die Besucher haben Spaß am Detektivspiel im Sperrmüll. Kunst zum Anfassen kommt gut an.

Stickboy

Auf der anderen Seite startet "Stickboy" eine seiner Schlagzeugperformances. Der Drumroboter ist Teil von Frank Barnes Projekt "Robocross", hat vier Arme, zwei Beine, einen beweglichen Kopf mit metallischem Irokesenlook, spielt Songs von ACDC, den Ramones und Black Sabbath - und ist damit eindeutig ein Publikumsliebling beim diesjährigen Gogbot. Etwas abseits vom Geschehen ragt Marc Weemens und Inge Rosenbooms "Bar Raketa" wie eine Weltraumrakete auf einem russischen Propagandaposter hoffnungsvoll in den Himmel.

Bar Raketa

Das bildschöne Comicstrip-Raumfahrzeug ist tatsächlich als mobile kleine Bar gedacht, die man über eine Leiter erklimmen kann. Die Atompunk-Ära ist eben auch die des Traums von der Mondlandung. Abends wird die Rakete in den Lichtschein von Frank Dobbers sieben Meter hohem Atompilz getaucht sein. Gleich daneben kann man in einem Zelt Designgegenstände aus der DDR bestaunen wie Artefakte einer untergegangenen Zivilisation. Die Objekte wurden von Design-Historiker und Autor Günther Höhne aus Berlin zusammengetragen.

Aber das Gogbot ist eine Veranstaltung, die nicht nur Musik und Kunstformen verbindet, sondern auch Welten. Zeitgleich findet in SecondLife eine Parallelveranstaltung statt. In der Nacht zum Samstag, noch vor meiner Anreise schaue ich mich in NewBerlin, einer der Second Life Locations um. Zu meiner Überraschung treffe ich dort auf den Avatar des australischen Multimedia Künstler Stelarc - ja, der mit dem Ohr am Arm - der gerade an einer Installation werkelt. Übrigens etwas mit Ohren. Für ihn scheint Second Life noch relativ neu zu sein, zumindest lässt er seine Installation von einem anderen Avatar herrichten. Woher ich komme, will er wissen und glaubt, weil ich jetzt in NewBerlin bin, müsste ich wohl auch im realen Berlin sitzen.

Stelarc

Seine Live Performance warte ich nicht mehr ab. Es ist drei Uhr morgens und am nächsten Tag will ich nach Holland fahren. Aber außer Second Life gibt es noch andere Schnittstellen des Gogbot mit dem Cyberspace. Bruce Sterling himself huscht am nächsten Tag in der Menge an mir vorbei. Vielleicht traut er seinen Atompunk-Definitionsversuchen selbst nicht so ganz und will sich deswegen persönlich ein Bild machen. Dabei schmunzelt er vor sich hin, als hätte er Spaß an der Sache. So wie viele andere. Kein Wunder, denn das Gogbot verzichtet auf den erhobenen Zeigefinger und die Hochnäsigkeit des klassischen Kunsthappenings, ist mehr ein Flohmarkt über den man zwischen den Einkäufen bummeln kann - und es nimmt sich selbst nicht bierernst.

Apropos: Es gibt in diesem Jahr sogar ein eigens gebrautes Atompunk Bier. Hätte ich ganz gern probiert, komme aber leider nicht mehr dazu. Nur einer von vielen Punkten, die mir aus Zeitmangel entgehen. Wie die Bilder von Musikpionier und Producer Brian Eno. Nach gut fünf Stunden muss ich zurück. Müde, gut amüsiert und immer noch nicht wesentlich schlauer, wenn es um die Frage geht, was Atompunk eigentlich ist. Nur soviel: Schrill, laut, bunt, lustig, actionreich, nachdenklich und sehr punkig. Gut so. Weitermachen!