Künftige Bundesregierung ohne Legitimation?

Verfassungswidrige Überhangmandate machen es möglich - CDU und FDP können wahrscheinlich bereits mit 44% Stimmanteil die Regierung stellen

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Man stelle sich folgendes Szenario vor: Wenn am Sonntagabend das vorläufige Endergebnis der Bundestagswahlen vorliegt, kommen CDU und FDP zusammen auf 44% der abgegebenen Stimmen, während SPD, Grüne und Linke zusammen 47% der Stimmen auf sich vereinigen können. Doch in den Jubel der SPD über die neu erkämpfte Vizekanzlerschaft platzt die Pressemeldung, dass CDU und FDP bereits erste Sondierungsgespräche für eine schwarz-gelbe Koalition anberaumt haben. Merkel und Westerwelle planen nicht etwa eine Minderheitsregierung, sondern sie verweisen darauf, dass sie trotz eines Rückstands von drei Prozentpunkten die absolute Mehrheit der Sitze erringen konnten. Verantwortlich für dieses, auf den ersten Blick absurd klingende, aber dennoch sehr realistische Szenario ist eine Besonderheit des deutschen Wahlrechts – das Überhangmandat, das 2008 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde.

Was sind eigentlich Überhangmandate?

Bei den Bundestagswahlen hat jeder Wähler zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme wählt er direkt den Vertreter seines Wahlkreises, mit seiner zweiten Stimme wählt er die Landesliste der von ihm bevorzugten Partei. Die Zweitstimmen werden bundesweit ausgezählt und die Anzahl der Wählerstimmen in den Bundesländern bestimmt letztendlich, wie viele Kandidaten der betreffenden Landeslisten in den Bundestag einrücken. Die errungenen Direktmandate werden von dieser Zahl jedoch abgezogen. Wenn eine Partei also 20 Kandidaten nach Berlin entsenden darf, aber bereits 15 Direktmandate gewonnen hat, werden demnach die restlichen fünf Mandate über die Landesliste vergeben. Problematisch wird die Situation allerdings dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als sie Abgeordnete entsenden dürfte. Da man den gewählten Wahlkreiskandidaten natürlich jedoch nicht ihr Mandat absprechen darf, kommen sie mit sogenannten Überhangmandaten dennoch in den Bundestag.

Wenn die CDU in Baden-Württemberg 34% der Zweitstimmen bekommt, so darf sie rund 28 Abgeordnete in den Bundestag entsenden. Sollte sie nun aber in 35 der 37 Wahlkreise den Sieger stellen, so steigt die Zahl der baden-württembergischen CDU-Abgeordneten in Berlin auf 35. Von der Landesliste zieht in diesem Falle kein einziger Kandidat in den Bundestag ein – dafür hat die CDU allerdings sieben Überhangmandate erringen können. Diese Überhangmandate sind nicht auf einen bestimmten Abgeordneten anrechenbar, da jeder der 35 Wahlkreiskandidaten seinen Wahlkreis gewonnen hat. Überhangmandate treten immer dann auf, wenn beide Volksparteien relativ schwach sind, eine von ihnen aber fast landesweit bei den Erststimmen siegt.

Ein warmer Regen für die Union

Bei den kommenden Bundestagswahlen werden aller Voraussicht nach etliche Überhangmandate für die CDU anfallen. Besonders in Baden-Württemberg und Sachsen rechnen die Wahlforscher mit einer großen Zahl von Überhangmandaten für die CDU. Die meisten Wahlforscher halten eine Gesamtanzahl von 20 Überhangmandaten für realistisch, während ein Modell des Politikwissenschaftlers Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen sogar 32 Überhangmandate für die Union für möglich hält. 32 Mandate entsprechen ungefähr 5% der Wählerstimmen.

Die Union könnte somit dank der Überhangmandate so viele Abgeordnete nach Berlin schicken, wie sie es sonst nur mit ihrem Ergebnis, plus fünf Prozentpunkten, tun könnte. Das ist natürlich in einer fairen Wahl kaum zu rechtfertigen. Nicht umsonst warnen Verfassungsrechtler wie der ehemalige Bundesverfassungsrichter Gottfried Mahrenholz bereits im Vorfeld der Wahl vor Wahlergebnissen, die möglicherweise den Wählerwillen auf den Kopf stellen könnten.

Stimmenabgabe paradox

Verfassungsrechtlich besonders fragwürdig ist die aus den Überhangmandaten resultierende Gefahr des negativen Stimmgewichts. Wenn ein Wähler in einem Bundesland, in dem seine Partei aller Voraussicht nach Überhangmandate gewinnen wird, seine Zweitstimme für diese Partei abgibt, so schädigt er sie im Endeffekt. Auf die Anzahl der Mandatsträger in seinem eigenen Bundesland hat er keinen Einfluss, da seine Partei ja in diesem Falle sowieso mehr Mandatsträger entsendet, als sie es nach Aufschlüsselung der Zweitstimmen dürfte. Je mehr Zweitstimmen diese Partei in diesem Bundesland bekommt, desto weniger Überhangmandate wird sie entsenden dürfen.

Besonders problematisch wird diese Praxis, wenn die Zweitstimmen auf die Länder verteilt werden. Aufgrund der zusätzlich abgegebenen Zweitstimmen für die CDU in Baden-Württemberg könnte der baden-württembergischen Landesliste ein zusätzliches Mandat zugerechnet werden, das der CDU in einem anderen Bundesland abgezogen wird. Ohne Überhangmandate wäre dies kein Problem, da nun beispielsweise anstatt eines hessischen ein baden-württembergischer Abgeordneter in den Bundestag einziehen würde. Da die CDU in Baden-Württemberg in diesem Falle aber durch die Überhangmandate bereits mehr Abgeordnete entsendet, als sie nach Aufschlüsselung der Zweitstimmen dürfte, hat dieses theoretische zusätzliche Mandat in Baden-Württemberg keine Auswirkung, während das hessische Mandat wegfällt.

Ein Wähler, der in Baden-Württemberg der CDU seine Zweitstimme gibt, schädigt also aller Voraussicht nach seine Partei. Das ist mit dem Grundsatz der Gleichheit und der Unmittelbarkeit von Wahlen nicht zu vereinbaren, wie es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 3. Juli 2008 feststellte.

Sie können heute mit einer Stimme für die CDU praktisch gegen die CDU gestimmt haben, ohne es zu merken. Und das ist eine Unmöglichkeit. Das schaffen noch nicht einmal Bananenrepubliken. Die müssen das Wahlergebnis fälschen, um zu dem Ergebnis zu kommen.

Hans Meyer, Staatsrechtsprofessor von der FU Berlin

Derlei Paradoxien sind bei den Bundestagswahlen keineswegs neu und keineswegs unbekannt. Bei Wahlen 2002 hätte die SPD einen Bundestagsabgeordneten mehr stellen können, wenn sie in Brandenburg nur 549 Zweitstimmen weniger bekommen hätte - in Berlin wären damals 55.000 Zweitstimmen weniger nötig gewesen, um in toto einen Abgeordneten mehr zu stellen. Vollkommen paradox verhielt es sich bei der nachträglichen Abstimmung zu den Bundestagswahlen 2005 in Dresden (Falsch gewählt: Warum eine Stimme schädlich sein kann). Da zum Nachwahltermin bereits feststand, dass die CDU in Sachsen Überhangmandate gewinnen konnte, forderten CDU und FDP die Wähler auf, ihre Erststimme der CDU und ihre Zweitstimme der FDP zu geben. Hätten mehr als 41.226 Dresdner ihr Kreuz bei der CDU gemacht, hätte sie einen Bundestagsabgeordneten weniger gestellt, als bei einem schlechteren Ergebnis. Wenn die Gegner der CDU nun plötzlich ihr Kreuz bei der CDU machen, während die Unionsanhänger ihr Kreuz bei einer anderen Partei machen, so ist dies im höchsten Maße paradox.

Überhangmandate gab es bei fast jeder Bundestagswahl. Jedoch waren sie nie entscheidend für die Regierungsbildung. Lediglich 1994 konnte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl durch die Überhangmandatsträger seine Kanzlerschaft sichern – ohne Überhangmandate hätte Schwarz-Gelb damals nur zwei Sitze mehr als die Opposition gehabt, mit den Überhangmandaten waren es jedoch zehn. Bei der Wahl Kohls stimmten jedoch überraschenderweise mindestens drei Abgeordnete der Koalition gegen ihn – ohne die Überhangmandate hätte es damals womöglich sogar einen Bundeskanzler namens Rudolf Scharping oder zumindest Neuwahlen gegeben.

Als das Bundesverfassungsgericht im letzen Jahr die Praxis der Überhangmandate für verfassungswidrig erklärte, gab es der Politik eine Frist bis zum Jahr 2011, um das Wahlrecht zu erneuern. Da sie bereits vor einem Jahr auf Überhangmandate spekulierten, interpretierten CDU und FDP den Spruch der obersten Verfassungsschützer in einer sehr eigenwillig desinteressierten Art und Weise. Beide Parteien erklärten es zum obersten Ziel, nur nichts zu übereilen und das Gesetz erst in der nächsten Legislaturperiode ändern zu wollen.

Dass die Parteien so lange gewartet haben, hat ja nichts damit zu tun, dass es so schwierig sei, es zu ändern, sondern weil - und hier ist der Bösewicht ganz leicht zu identifizieren - weil die CDU oder die Union die Änderung nicht wollte.

Hans Meyer

Der größte Wahlbetrug der Geschichte?

Wenn SPD-Politiker nun im Vorfeld der Wahlen Zeter und Mordio schreien, um der Union ein Bekenntnis zur Großen Koalition abzuringen, so ist dies ebenso durchschaubar wie absurd. Als die Grünen im Frühjahr 2009 einen Gesetzesänderungsvorschlag einbrachten, der den Wünschen des Bundesverfassungsgerichts Rechnung trägt, stimmte die SPD gegen eine Änderung des Gesetzes. Man könne ja nicht anders als sein Koalitionspartner stimmen, so die kurzsichtige Erklärung der SPD. Wer jetzt vom „größten Wahlbetrug der Geschichte“ schwadroniert, wie es der SPD-Politiker Claus Schmiedel tut, hätte sich vorher überlegen sollen, warum er gegen die Gesetzesänderung stimmt. Wenn die Union nun durch Überhangmandate in die privilegierte Situation kommt, ihren Juniorpartner auszutauschen, darf sich die SPD nicht beschweren – schließlich stand es in ihrer Macht, das Gesetz zu ändern. Nibelungentreue und Opportunismus zahlen sich nun einmal nur selten aus.

Gestern ließ Wolfgang Schäuble die Sozialdemokraten via Süddeutsche Zeitung wissen, dass er derlei künstliche Aufregung für „Schiss“ hält. Inhaltlich mag man Schäuble da kaum widersprechen, dennoch ist es mehr als befremdlich, wenn der Innenminister eines Landes, zu dessen Aufgabenbereich auch der Schutz der Verfassung zählt, derart leichtfüßig in Kauf nimmt, eine Regierungskoalition zu bilden, die nur durch Umstände entstanden ist, die durch das Verfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurden.

Wenn es nach den Wahlen zu einer schwarz-gelben Koalition kommen sollte, die nur durch Überhangmandate der Union zustande kommt, so wäre die neue Bundesregierung verfassungswidrig gewählt worden. Klagen, mit denen die Wahl angefochten werden könnte, haben dennoch keine Aussicht auf Erfolg, da die Politik in diesem Falle geschickt eine Lücke ausnutzte, die ihr das Bundesverfassungsgericht durch eine unnötig lang erscheinende Frist erst ermöglicht hat. Eine schwarz-gelbe Regierung hätte somit ein sehr ernsthaftes Legitimationsproblem. Sie wäre nicht nur von weniger als der Hälfte der Bundesbürger, und nicht nur von weniger als der Hälfte der Wähler, sondern sogar von weniger als der Hälfte der Wähler gewählt worden, die ihre Stimme für eine der Parteien abgegeben haben, die im Bundestag sitzen.