Der wagemutige Journalist, der sich in die Höhle der Linkspartei wagte

SZ-Magazin überrascht vor der Wahl mit Milieustudie zur Links-Partei

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Seit die Bundeswehr wegen der Auslandseinsätze wieder Tapferkeitsmedaillen verteilt, will auch der deutsche Journalist in der Heimat nicht zurückstehen. Dort mehren sich die Fälle von Tapferkeit. Den Anfang machte der Journalist Jan Fleischhauer („Villenviertel-Jan“) vom Spiegel mit seinem mutigen Bekenntnis, nicht mehr links, sondern konservativ zu sein. Ihm folgte diese Woche Tobias Haberl vom Magazin der „Süddeutschen“ nach. Unter dem Titel „Mein Jahr in der Linkspartei“ schildert er auf sieben Seiten sein waghalsiges Experiment, für ein Jahr in die diese Partei einzutreten.1

Was wissen wir über die Linkspartei? Praktisch nichts! Ihre öffentlichen Veranstaltungen sind kaum zugänglich, ihr Parteiprogramm kennen nur Eingeweihte und ihre Repräsentanten treten in der Regel vermummt auf. Umso verdienstvoller ist es, dass Tobias Haberl sich mit Wallraffscher Methode als Journalist unerkannt hinab in dieses soziale Milieu begeben hat, wo er einen „ganz besonderen Menschenschlag“ kennen lernte. Für die Erforschung dieses Milieus ist Haberl schon alleine wegen seiner sozialen Herkunft prädestiniert, die eine hohe Affinität zu sozialen Themen erkennen lässt: „In meiner Familie ist keiner arbeitslos, keiner in einer Gewerkschaft, die meisten sind selbständig, gut situiert, viele Ärzte, ein paar Anwälte.“

Auch das Weltbild dieses Autors empfiehlt ihn als idealen Prospektor auf dem unbekannten Terrain von Armut und Hartz IV: „Wenn ich morgen meinen Job verliere, versuche ich einen neuen zu finden, egal wo, egal was, ich käme nie auf die Idee, den Fehler im System zu suchen.“ So gegen das Gezeter der Langzeitarbeitslosen gewappnet, steigt der SZ-Magazin-Redakteur hinab in die sozialen Niederungen der Linkspartei. Um die persönliche Tapferkeit und den Wagemut dieses Mannes richtig würdigen zu können, muss man freilich Details aus seiner Biografie kennen. So schreibt er in dem Artikel über sich: „Ich weiß noch, wie erschrocken ich bin, als ich zum ersten Mal einen Schulfreund besuchte, der mit seinen Eltern in einer 75-Quadratmeter-Mietwohnung lebte.“ Trotz dieser traumatischen Erfahrung begibt sich der Autor hinunter in die Höhlenwelt der Hartz IV-Empfänger, die von Amtes wegen ja auf maximal 40 Quadratmeter hausen müssen und wir erahnen das Ausmaß an innerer Stärke des Autors.

Vorbilder für den Gang in die Unterwelt

Mit seiner wagemutigen Aktion tritt Tobias Haberl in die Fußstapfen literarischer Vorbilder. Bereits um 1900 herum erscheinen in Deutschland eine Reihe von populären Veröffentlichungen bürgerlicher Autoren, die sich der Welt des städtischen Proletariats, die sich der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter widmen. Aufsehen erregte etwa die Studie des Theologen Paul Göhre „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“ von 1891.2

Ihr folgten zahlreiche ähnliche Publikationen, etwa der Bericht „Dreieinhalb Monate Fabrik-Arbeiterin“ der Frauenrechtlerin Minna Wettstein-Adelt von 18933 Die Welt des Proletariats wird in diesem Genre der Sozialreportage als ein fremdes und unbekanntes Terrain geschildert, weniger bekannt als das „dunkelste Afrika“. Die Welt der Armen und Arbeiter ist hier ein „terra incognita“, das es wie bei einer Expedition zu entdecken gilt, ein Abstieg in die untersten Etagen der Gesellschaft. „Aus der Tiefe“4, nannte 1909 folgerichtig der Sozialforscher Adolf Levenstein seine Briefsammlung von Arbeitern.

Nicht nur rhetorisch gemeint, sondern physisch ganz konkret war der Abstieg des österreichischen Gerichtsassessors Hermann Drawe zusammen mit dem Journalisten Jürgen Kläger hinab in die Kanalisation des Wiens der Jahrhundertwende, um das dort hausende Subproletariat zu fotografieren. „Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“ ist der Titel des daraus entstanden, 1908 in hoher Auflage erschienen Buches, das den bezeichnenden Zusatz: „Ein Wanderbuch aus dem Jenseits“ trägt.5 Geführt vom „Kiebitz“ – einem „Unterweltler“ – dokumentieren sie die elenden Notunterkünfte in der Kanalisation von Wien, die überfüllten Wärmestuben und die billigen Massenquartiere. Ihre Ausflüge in das dunkle Reich des Subproletariats gleichen einer wagemutigen Expedition in unbekanntes Terrain, gleichen einem bewaffneten Streifzug durch das Land der „gefährlichen Klassen“. Den Abstieg in die soziale Unterwelt schildert Kläger so: „Es war zehn Uhr abends, als wir unsere Wanderung antraten. Der Hausmeister öffnete blitzschnell mit einem Dietrich die kleine, eiserne Türe des Turmes und wir stiegen die enge, stark gewundene Treppe hundert Stufen hinab bis zur Sohle des Kanals.“ Und: An Waffen trugen wir für alle Fälle je einen englischen Schlagring mit gehärteten Stahlspitzen und einen kleinen Revolver mit.“

Nach „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“ und „Dreieinhalb Monate Fabrik-Arbeiterin“ also jetzt „Mein Jahr in der Linkspartei“. Ob unser tapferer SZ-Magazin-Journalist bei seinem Streifzug durch die unbekannte, dunkle Welt der Linkspartei auch einen kleinen Revolver bei sich hatte, wissen wir nicht. Aber auch er ist mit ungeahnten Schwierigkeiten bei seiner verdeckten Exkursion konfrontiert und muss sich Fragen stellen wie: „Kränke ich einen Hartz-IV-Empfänger, wenn ich das teuerste Gericht auf der Karte bestelle?“

Von den bürgerlichen Forschungsreisenden in die Welt des Proletariats zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist bekannt, dass sie versuchten, sich wie ihre Forschungsobjekte zu kleiden, was oft schiefging. In diese Kleiderfalle tappt allerdings auch Tobias Haberl bei einer Versammlung der Genossen im Münchner Wirtshaus „Bürgerheim“: „Nach zwei Stunden merke ich, dass ich eine Prada-Jeans anhabe, man kann hinten den Aufnäher sehen. Den Rest des Abends tue ich so, als würde ich mich am Hintern kratzen.“

Mein Vater hat gut verdient

Und was hat uns der Autor aus den Tiefen des modernen Prekariats an Erkenntnissen mit hochgebracht in die lichte Welt des SZ-Magazins? Es sind gründlich belegte Sätze wie „Wenn Obama von Abrüstung spricht, ist er ein Held, tut es Gysi, ist er naiv.“ Unser Held des Journalismus weiß, dass das Programm der Linken einfach deshalb „sinnlos“ ist, weil ja die Partei momentan mit niemand koalieren will.

Seine politischen Analysen gewinnen Seite für Seite an Brillanz, etwa wenn er die von der Linken geforderte Börsenumsatz- und Erbschaftssteuer ablehnt: „Erstens bin ich Aktionär und zahle ohnehin 25 Prozent Abgeltungssteuer. Das reicht, finde ich.“ Und auch bei der Diskussion zur Erbschaftssteuer gleicht die Argumentation von Haberl einem funkelnden Feuerwerk an differenzierter Argumentation: „Zweitens werde ich erben, mein Vater hat gut verdient.“

Man kann dem SZ-Magazin nur danken, dass es, anstatt seine Seiten mit Banalitäten wie Finanzspekulationen oder raffgierige Banker zu füllen, eine Woche vor der Wahl sich mit einem sehr tapferen Artikel dem wichtigen Thema Linkspartei widmet und dem Leser das schöne Fazit mit auf den Weg in die Wahlurne gibt: „Politik ist nichts für mich und die Linke auch nicht.“