Der sicherheitsindustrielle Komplex der EU

Ben Hayes von Statewatch über die Schaffung neuer "Bedrohungen", um neue Befugnisse und Mittel der Sicherheitsagenturen einzuführen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Rahmen der gegenwärtigen schwedischen EU-Präsidentschaft findet am 29. und 30. September in Stockholm die Fourth European Security Research Conference statt. Dieser "bedeutende Bestandteil der Entwicklung ziviler europäischer Sicherheitsforschung" wird von der Europäischen Kommission in Zusammenarbeit mit der schwedischen "Governmental Agency for Innovation Systems" organisiert und findet innerhalb des "European Security Research Programme" (ESRP) des 7. Forschungsrahmenprogramms (FP7) statt.

Pünktlich zur Konferenz, die "Stakeholder" und "Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft" zusammenbringen will, erhellt eine kritische Studie die Verbindungen europäischer Sicherheitspolitik und der Industrie. NeoConOpticon - Der sicherheits-industrielle Komplex der EU, geschrieben von Ben Hayes und veröffentlicht vom Transnational Institute (TNI) in Zusammenarbeit mit Statewatch, gibt einen umfassenden Überblick über neue Anwendungen und Apparaturen, die vorgeblich "Sicherheit" für europäische Bürger produzieren sollen. Vor allem aber identifiziert der Bericht die Akteure von "Angebot und Nachfrage" einer "Sicherheit", die zur hochprofitablen Ware geworden ist.

Ben Hayes ist seit 1996 Mitglied der Bürgerrechtsorganisation Statewatch in London. Er arbeitet auch für das European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin und das Transnational Institute (TNI) in Amsterdam.

Neue Sicherheit und neue Bedrohungen

In "NeoConOpticon" folgst du der Theorie, dass sich die Europäische Union zu einem "sicherheitsindustriellen Komplex" entwickelt, wie du ihn bereits in einer deiner letzten Studien "Armed Big Brother" beschrieben hast. Sicherheitspolitik wird hinter verschlossenen Türen entschieden, beeinflusst von "think tanks", Lobby-Gruppen und natürlich Sicherheits- und Verteidigungskonzernen. Auch in den Forschungsprogrammen der EU werden informelle Gruppen ins Leben gerufen, die wiederum andere wenig greifbare informelle Strukturen einrichten und über ihr eigenes Millionenbudget entscheiden. Wer sind die Akteure?

Ben Hayes: Die Europäische Kommission hat ein eigenes Generaldirektorat für Forschung, das für die meisten Forschungsprogramme der EU zuständig ist. Allerdings werden die Bereiche, in denen "Sicherheitsforschung" betroffen ist, dem "Generaldirektorat Unternehmen und Industrie" übergeben. Eine Maßnahme, die vor allem den Wunsch der EU entspricht, die "industrielle Wettbewerbsfähigkeit" im Sektor von "Homeland Security" zu verbessern und auf einem extrem lukrativen Markt in Konkurrenz zur USA zu treten.

Die Kommission hat zudem schrittweise "Beratungsgremien" etabliert (die Group of Personalities, das European Security Research Advisory Board und das European Security Research and Innovation Forum), um übergreifende Vorhaben und strategische Prioritäten der EU im Bereich Forschung und Entwicklung zu entwerfen. Diese informellen Gremien, die außerhalb der normalen Entscheidungsstrukturen der EU eingerichtet wurden, werden von privaten Interessen bestimmt. Eine kleine Gruppe bekannter multinationaler Konzerne aus dem Verteidigungssektor wurde besonders gut repräsentiert – Thales, EADS, Finmeccanica und Sagem Défénsé Sécurité. Ebenso wurden israelische Agenturen und Gesellschaften einbezogen, um die EU zur Sicherheitsforschung zu beraten.

Gibst du uns einen Überblick technischer und sozialer Mittel von Überwachung und Kontrolle, die wir in den nächsten Jahren erwarten können?

Ben Hayes: Die EU hat bereits eine Reihe von überwachungsfreundlichen Gesetzen eingeführt, mehr sogar als die USA. Diese Maßnahmen beinhalten die verpflichtende Überwachung von Telekommunikation; die Einführung von Fingerabdrücken in EU-Reisepässen, Visa und Aufenthaltserlaubnissen sowie die Einführung biometrischer Identifikationssysteme; Auswertung und Austausch von Flugdaten; Überwachung finanzieller Transaktionen. Im Rahmen des europäischen Sicherheitsforschungsprogramms hat die EU Aufträge für Forschung und Entwicklung erteilt, z.B. Satellitenaufklärung und –verfolgung, die Nutzung unbemannter Luftfahrzeuge (UAV oder Drohnen) für Polizei und Grenzüberwachung, automatisierte Fahndungssysteme, Anwendungen zum Datamining und die sogenannte intelligente Videoüberwachung, die an Systeme zur Verhaltenserkennung gekoppelt ist. Dieses gesamte Programm dient in Wirklichkeit dazu, Europas Polizeibehörden, Sicherheitsdienste, Grenztruppen, Agenturen zum Krisenmanagement und paramilitärische Einheiten mit den neuesten Überwachungstechniken auszurüsten.

Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 beschloss die EU, einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" zu installieren. Zur Staatswerdung mit eigenen Gewalten hat die EU diverse Verträge, Richtlinien, Aktionspläne und Direktiven verabschiedet, die behaupten "Sicherheit" würde mehr "Freiheit" für ihre Bürger schaffen. Um welche "Bedrohungen" handelt es sich?

A>: Schon immer hat die EU fokussiert (manche würden sagen übertrieben) auf die "Bedrohungen" des organisierten Verbrechens, der illegalen Migration, des Terrorismus und der sogenannten "Schurkenstaaten". Was wir in den letzten Jahren gesehen haben - sowohl auf nationaler wie auf EU-Ebene - ist eine rasante Ausweitung der Auffassung von "Sicherheit" mit einer Reihe neuer "Bedrohungen". Die Sicherheitsstrategien Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands reichen heutzutage von Protest und Demonstrationen über Pandemien bis zum Klimawechsel. Einhergehend mit der Schaffung neuer "Bedrohungen" gibt es selbstredend ein Verlangen nach neuen Befugnissen und Mitteln der Sicherheitsagenturen, um im Namen der Risikominimierung vorausschauend zu intervenieren.

Franco Frattini, früherer EU-Kommissar für Sicherheit und Recht (heute Außenminister unter Berlusconi) erklärt "Sicherheit" zum "Gemeinwohl", für das "Verantwortung und Umsetzung unter öffentlichen und privaten Trägern geteilt werden muss". Was meint er?

Ben Hayes: Das Prinzip, Sicherheit sei heutzutage ein unter dem öffentlichem Sektor und Privatwirtschaft geteiltes "Gemeinwohl", ist gefährlich. Nicht weil private Sicherheit notwendigerweise etwas Schlechtes sein muss, aber weil die profitorientierte, technikgläubige Vision der Privatwirtschaft - in ihrer Gesamtheit betrachtet - nachweislich im Widerspruch steht mit den demokratischen Traditionen einer "freien Welt" und ihrem Anspruch auf soziale Gerechtigkeit. Es ist auch eine Gefahr, dass diese unternehmensgesteuerte Agenda Überhand über eine traditionelle Sozial- und Wirtschaftspolitik gewinnt, die entworfen wurde, um die "Hauptursachen" komplexer sozialer Phänomene wie Migration, Terrorismus und Unterentwicklung anzugehen.

Innere und äußere Sicherheit werden eins, zivile und militärische Forschung verschmelzen. Europäische Polizeitruppen operieren unter militärischem Kommando in "Drittstaaten", das Militär hilft währenddessen Gipfelproteste oder Sportereignisse zu kontrollieren. Ein von NATO-Strategen 2007 herausgegebenes Papier sieht einen "westlichen Lebensstil" in Gefahr und schlussfolgert, "Risiken auf Distanz [zu] halten und gleichzeitig ihre Heimat zu beschützen". Woher kommt diese Doktrin?

Ben Hayes: In diesem Fall ist es, glaube ich, eine aus der Mode gekommene militärische Allianz, die nach neuen Sicherheits- und Verteidigungsaufgaben sucht, um ihre weitere Existenz zu rechtfertigen. Aber diese Arten von Strategien des "Heimatschutzes" und der "Heimatverteidigung" ["Homeland Security" und "Homeland Defence"] sind explizit eingebettet in die neokonservative Ideologie, die in den letzten zehn Jahren auf die westliche Politikgestaltung übergegriffen hat. Es ist eine Ideologie, die meint, der Westen müsse eine weltpolitische Rolle spielen und in "zerfallende Staaten" intervenieren, um sowohl "Sicherheitsbedrohungen" zuvorzukommen, als auch freien Welthandel und Demokratie nach westlichem Vorbild voranzutreiben.

Die endlose Fügsamkeit gegenüber den Forderungen des Sicherheitsstaates

Der Titel "NeoConOpticon" spielt auf das "Panopticon"-Design von Gefängnissen an, das Foucault als eine "völlig neuartige Gesellschaft" beschreibt. Foucault analysierte diese im 18. Jahrhundert aufkommende Architektur gegen abweichendes Verhalten als ein Muster, das die Gesellschaft in ihrem Übergang zu Überwachung und Kontrolle abbilde. Diese permanente Beobachtung betreffe den "gesamten sozialen Körper". Dein Statewatch-Kollege Tony Bunyan sieht die EU auf dem Weg in eine "Datenbankgesellschaft". Zu welchem Schluss gesellschaftlicher Transformation kommst du?

Ben Hayes: Was ich mit dem Titel der Studie versucht habe zu zeigen, ist, dass Menschen an zwei Dinge denken. Zuerst, wie du sagst, die Art und Weise, wie die EU eine "Überwachungsgesellschaft" wird und wie Überwachung die Beziehung zwischen Individuuen und Staat verändert. Foucault war mehr interessiert an der bloßen Existenz von Überwachung, die Menschen zu bestimmtem Verhalten konditioniert - zu Hause, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum und so weiter. Es ist wichtig zu erkennen, dass nicht jede Überwachung von Zwang oder Staatsgewalt handelt, sondern eher, dass Überwachung zusehends zum dominanten Faktor der Organisierung gegenwärtiger westlicher Gesellschaften wird. Nichtsdestotrotz will ich mit NeoConOpticon versuchen zu betonen, dass die "Überwachungsgesellschaft" nicht vom Himmel gefallen ist. Sie wird sowohl von multinationalen Konzernen, die riesige Profite vor Augen haben, als auch von Politikern, die nach den beschriebenen Spielarten der Macht suchen, enthusiastisch gefeiert. Das Recht zur schrankenlosen Profitmaximierung ist das Herz der neokonservativen Ideologie und übt gegenwärtig enormen Druck auf die Sicherheitspolitik der EU aus.

Gemäß der Polizei wie auch den Sicherheits- und Verteidigungskonzernen ist Information der Schlüssel zu mehr "Sicherheit". "Wissen", "Vorahnung", "Beobachtung", "integrierte Sicherheit", "Einsatz- und Entscheidungshoheit" sind Begriffe, die wir aus dem militärischen Vokabular kennen. Die Sicherheitsindustrie bietet Software, die Verbrechen und abweichendes Verhalten "vorhersehen" will, darunter "Herumlungern", aber auch langsam fahrende Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer lokalisieren soll. Welches Überwachungsmodell verbirgt sich hier?

Ben Hayes: Ich benutze das Konzept der "Überlegenheit auf allen Ebenen" ("Full Spectrum Dominance"), um die Besessenheit von Hightech-Sicherheits- und Überwachungstechnologien zu erläutern. Der Begriff wurde in den USA eingeführt, um die militärische Macht der USA zu beschreiben und ihre Befähigung, die Überlegenheit über alle Teile des "Kampfgebietes" zu erlangen - Land, Luft, See, Weltall und Cyberspace. Die Art und Weise, wie die EU jetzt versucht, die Überwachung an Land, auf See und im Weltall zu nutzen, einhergehend mit der umfassenden Überwachung unserer Kommunikation und Internetnutzung, kommt mir vor wie eine innenpolitische "Überlegenheit" auf allen Ebenen über die Zivilbevölkerung.

Widerstand angesichts dieses "umfassenden Ansatzes" eines "sicherheitsindustriellen Komplexes" gibt es kaum auf europäischer Ebene. Wie kann man agieren gegenüber Satelliten, die das Verhalten von Menschenmassen auf Demonstrationen verfolgen, gegenüber Software, die nach "Risiken" in unseren Datensätzen sucht, oder gegenüber fliegenden Kameras, die in "Problemstadtteilen" operieren? Sollten wir nicht eine generelle Kritik dieses "allumfassenden Sicherheitskonzepts" forcieren, die nicht vom hegemonialen Diskurs aufgesogen werden kann, welcher vorgibt, eine "Balance" von Freiheit und Sicherheit finden zu wollen?

Ben Hayes: Ich sehe das Hauptproblem darin, dass so wenig Menschen eine Ahnung haben, was die EU unter der Rhetorik der Schaffung eines "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" gegenwärtig unternimmt, dass es keine ernsthafte Debatte über Nutzen und Gefahren ihrer Politik gibt. Die Entscheidungsstruktur der EU ist von "Securokraten" dominiert (Beamte beauftragt mit der Erhöhung der Sicherheit). Medien berichten kaum darüber, auch weil das so kompliziert und verschachtelt geworden ist. Sofern sich dies nicht ändert, wird blinder Glaube in die EU sie auf dem jetzigen Kurs halten.

In der Studie rufen wir zu einer gesamtheitlichen Prüfung der Entwicklung und Implementierung des europäischen Sicherheitsforschungsprogramms auf und zu einer Neudefinition der Prioritäten, um Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit wieder Vorrang vor den Forderungen von Sicherheits- und Vollzugsbehörden zu verschaffen. Wir rufen auch dazu auf, die europäische Überwachungsgesetzgebung zu stoppen und ein Maßnahmenpaket zu etablieren, das die Verfolgungstechnologie und damit verbundene polizeiliche Kompetenzen wieder unter demokratische und juristische Kontrolle stellt.

Vielleicht brauchen wir ein eigenes, alternatives Sicherheitsforschungsprogramm. Können wir den Spieß umdrehen? Kann uns Informationstechnologie mit all ihren Geräten und Anwendungen in unseren Kämpfen für Freiheit helfen? Sollten wir mehr Energie darauf verwenden, fliegende Kameras zu basteln oder satellitengestützt der Polizei nachzuspüren?

Ben Hayes: Da bin ich nicht sicher! Es gibt die Idee, dass Gegenüberwachung oder sous-surveillance irgendwie eine Balance zur Ansammlung neuer staatlicher Überwachungsmacht darstellen könnte. Überwachungstechnologie kann Bürger mehr rechenschaftspflichtig gegenüber dem Staat machen, aber - diese Auffassung gibt es - den Staat auch rechenschaftspflichtig gegenüber seinen Bürgern. Das ist alles sehr schön in der Theorie, aber ich beobachte, dass politische Entscheidungsträger und staatliche Agenturen eher weniger rechenschaftspflichtig werden anstatt mehr.

Natürlich müssen Menschen, denen bürgerliche Freiheiten wichtig sind, die Aktivitäten von Regierungen und ihren Polizeien hinterfragen, aber das allein genügt nicht. Was wir vor allem brauchen, ist ein radikaler Politikwechsel, der die Hauptursachen von Unsicherheit adressiert anstatt dieser endlosen Fügsamkeit gegenüber den Forderungen des Sicherheitsstaates oder denen seiner transnationalen Konzerne.