Bibeltreu, wissenschaftlich und streng gläubig

Christliche Fundamentalisten befinden sich im Aufwind, was von der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird

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Überall im Lande gibt es Bibelschulen, die Missionare, Pastoren und Gemeindehelfer ausbilden. Die vor einigen Monaten im Jemen getöteten zwei Krankenschwestern kamen aus einer solchen Einrichtung. Viele Ausbilder an den Bibelschulen kommen nicht mehr ausschließlich aus den USA, denn auch in Deutschland gibt es "höhere" Bildungseinrichtungen, wie die Freie Theologische Hochschule (FTH) in Gießen.

Die FTH zählt mittlerweile zu den größten Einrichtungen dieser Art im deutschsprachigen Raum. Sie ist zwar nicht staatlich anerkannt, aber sie hat eine Genehmigung für die Durchführung des Lehrbetriebs nach dem Hessischen Hochschulgesetz. Im aktuellen Semester sind dort 130 Studierende eingeschrieben und drei Viertel von ihnen sind männlich. „Inzwischen ist, neunzig Jahre nach dem Ende der Staatskirche, die kirchliche Landschaft vielfältiger geworden. Die Freie Theologische Hochschule Gießen bildet theologische Mitarbeiter für den Bereich freikirchlicher Gemeinden, landeskirchlicher Gemeinschaften und freier christlicher Werke im In- und Ausland aus“, sagt Professor Helge Stadelmann, Rektor der FTH. „Sie versteht sich als Stätte wissenschaftlicher Forschung und Lehre im Bereich evangelikaler Theologie.“ Der Etat der Hochschule liegt derzeit bei 1,4 Millionen Euro und wird durch Spenden und Studiengebühren getragen. Jeder Student muss pro Semester 1050 Euro zahlen.

Evangelikale Christen sind eine Minderheit innerhalb des Protestantismus, die sich auf die Irrtumsfreiheit der Bibel berufen und auch als christliche Fundamentalisten bezeichnet werden. In der Deutschen Evangelischen Allianz, dem Dachverband der Evangelikalen, sind 1,3 Millionen Christen organisiert. Die Mehrheit dieser Evangelikalen gehört auch den evangelischen Landeskirchen in Deutschland an, die 24,8 Millionen Mitglieder haben. Experten schätzten die Zahl der Anhänger evangelikaler Ideen in Deutschland auf etwa zweieinhalb Millionen Menschen.

Während die katholische und die evangelische Kirche in den letzten Jahren viele Mitglieder verloren haben, steigt die Zahl der Evangelikalen jedes Jahr weiter an. Diese besonders bibeltreuen Protestanten sprechen sich gegen Abtreibung aus, sind für weltweite Missionierung und zweifeln an der Gültigkeit der Evolutionstheorie. „Kreationismus ist die Ablehnung der Evolutionstheorie aus religiösen Gründen. Im christlichen Bereich meistens, weil man die Schöpfungsgeschichte der Bibel für eine historische, naturwissenschaftliche Darstellung hält“, sagt Hans Jörg Hemminger, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. „Dann geht man davon aus, dass die Erde sechs bis zehntausend Jahre alt ist, anstatt vier Milliarden Jahre. Dass die Tiere spezifisch geschaffen wurden und nicht in einem langen Prozess der Abstammung entstanden sind. Damit legt man sich mit einem großen Teil der etablierten Naturwissenschaften an.“

Die Freie Theologische Hochschule wurde 2008 gegründet und schon kurz darauf von evangelikalen Hardlinern für ihren ökumenischen Ansatz kritisiert, der die Gläubigen in die Irre führt. In der Tat finden sich auf der Homepage der Hochschule keine Bekenntnisse zu den klassischen Themen der evangelikalen Fundamentalisten. Da wird eher vorsichtig formuliert und von „Bibeltreue“ und „weltweitem Einsatz“ gesprochen. Eine allzu deutliche Nähe zu fundamentalistischen Kreisen könnte die Aufnahme in den Kreis der kritisierten staatlichen Ausbildungseinrichtungen gefährden.

„Bevor der erste Studierendenjahrgang im Jahr 2011 abschließen wird, wird über die staatliche Anerkennung entschieden werden, um die rechtlichen Voraussetzungen für eine Abschlussvergabe an die eingeschriebenen Studierenden rechtzeitig schaffen zu können“, erklärt Jörg Kilian, Sprecher des hessischen Wissenschaftsministeriums. Die FTH Gießen gehört mit 33 anderen Einrichtungen zu den Mitgliedern der Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten, die sich dem christlichen Fundamentalismus verbunden fühlen und es gibt sogar einen Bibelfernunterricht. Hier finden sich klare Bekenntnisse zur weltweiten Missionierung und zur Ablehnung der Evolutionstheorie. Auf dem Kongress „Glaube und Naturwissenschaft“, den die Vereinigung im November 2009 durchführt, werden führende Vertreter des Kreationismus das Thema präsentieren.

Die Amtskirche und die Evangelikalen

Die Evangelikalen und die evangelische Amtskirche finden dann wieder zueinander, wenn die öffentliche Kritik an bestimmten Inhalten besonders deutlich geäußert wird. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat Anfang September die Journalisten des ZDF-Magazins Frontal 21 für den Beitrag Sterben für Jesus - Missionieren als Abenteuer kritisiert und ihnen eine undifferenzierte Berichterstattung vorgeworfen. In dem Beitrag geht es um die im Jemen ermordeten zwei Bibelschülerinnen aus Deutschland. Rita Stumpp und Anita Grünwald haben die Bibelschule Brake im ostwestfälischen Lemgo besucht und sind von hier zu ihrer Reise aufgebrochen. Frontal 21 geht der Frage nach, ob die Christinnen bei der Missionierung ein zu großes Risiko auf sich nahmen und welche Verantwortung die evangelikalen Ausbildungsstätten tragen. Der Rat der EKD spricht in seiner Erklärung von einer „Diffamierung evangelikaler Christen“. Mit ihrer Aktion wollen die hochrangigen Vertreter der evangelischen Kirche ihre Mitchristen vor „Verunglimpfung“ in Schutz nehmen: „Viele von ihnen gehören mit ihrer tiefen persönlichen Frömmigkeit, ihrem nachhaltigen Eintreten für eine missionarische Kirche und ihrem diakonischen Engagement zum Kern unserer evangelischen Gemeinden."

Manche der überraschenden Gemeinsamkeiten sind darin begründet, dass die christlichen Interessen in vielen Punkten übereinstimmen. Die Amtskirche ist sehr daran interessiert ihren schwindenden Einfluss in der Gesellschaft wieder auszudehnen. Einige Sorgen bereitet der etablierten Kirche auch die Tatsache, dass die Evangelikalen besonders auf junge Menschen eine hohe Anziehungskraft ausüben. Der Rektor der Freien Theologischen Hochschule, Professor Helge Stadelmann, will die Missionsarbeit der Evangelikalen weiter vorantreiben: "Als einen speziellen Schwerpunkt könnte man die Frage betrachten, wie in den entchristlichten Zentren europäischer Großstädte christlicher Gemeindebau aussehen könnte, der Schichten erreicht, die die traditionellen Kirchen nicht mehr oder noch nicht erreichen." Missionierung und Evangelisation stehen also weiter ganz oben auf der Tagesordnung.