Ist die Philosophie Heideggers nationalsozialistisch verseucht?

Der französische Philosoph Emmanuel Faye glaubt, dies mit neuen Dokumenten belegen zu können

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Das öffentliche Interesse an der Philosophie Heideggers bewegt sich, das hat sein Verleger Vittorio Klostermann vor einiger Zeit nochmals deutlich gemacht, „sehr in Wellen“. Wird er in den USA oder in Frankreich mal wieder neu entdeckt, steigt die Nachfrage nach ihm und seiner Philosophie; kommt seine Verbindung zum Nationalsozialismus zum x-ten Mal auf die Agenda, sinke sie deutlich.

Demzufolge müsste der Klostermann Verlag, der auch für die Gesamtausgabe seiner Schriften verantwortlich zeichnet, gerade mal wieder eine Durststrecke durchmachen. Denn im Frühjahr ist mit vierjähriger Verzögerung nun auch in Deutschland das Buch von Emmanuel Faye erschienen. Darin wirft er Heidegger nicht nur vor, ein Nazi gewesen zu sein. Das würde auch kein Erstaunen oder Entsetzen mehr auslösen. Zumal Heideggers aktives Eintreten für Adolf Hitler seit den Studien von Victor Farias und Hugo Ott Ende der 1980er auch von niemanden mehr ernsthaft bestritten wird.

Agent provocateur

Nein, der Vorwurf des französischen Philosophen geht tiefer. Faye will zeigen, dass Heideggers Bewunderung für den Führer und dessen „völkische Bewegung“ nicht bloß eine kurze Episode in einer von vielen Höhen, aber auch von einigen Tiefen geprägten Biografie gewesen ist, sondern seine gesamte Philosophie, zumindest seit dem Hauptwerk „Sein und Zeit“ von 1927 an, nationalsozialistisch verseucht sei. Spätestens nach der Machtergreifung Hitlers habe Heidegger den Nationalsozialismus philosophisch hoffähig gemacht, er habe den „Hitlerismus“ bewusst in die Philosophie eingeschleust, um sie von innen heraus zu zerstören.

Um das zu belegen, greift Faye zum einen auf weitgehend bekanntes Material zurück, auf die Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 und Vorlesungen aus den Jahren 1933/34, die „Die Grundfrage der Philosophie“, das „Wesen der Wahrheit“ und die „Logik“ (Wandel unseres Daseins) behandeln. Aber auch und vor allem auf noch unpublizierte Schriften, die im Literaturarchiv in Marbach lagern und nur in Form studentischer Abschriften vorliegen.

In der Tat weist der 16. Band der Gesamtausgabe, die Faye immer nur mit der Vokabel „sogenannt“ oder in Anführungsstrichen zitiert, einige Lücken und Leerstellen diesbezüglich auf. Diese Seminare waren laut Faye bewusst zur „politischen Ertüchtigung“ eines kleinen Studentenkreis bestimmt, der künftig die geistige Elite des NS-Staates bilden sollte. Darum liebte es Heidegger auch, wenn die Kommilitonen in voller Montur erschienen und nach Beendigung des Seminars voller Inbrunst das Horst-Wessel-Lied anstimmten.

Der Staat – das Sein des Volkes

Zu diesen Protokollen gehört etwa das Seminar „Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat“, das er im Wintersemester 1933/34 abgehalten hat. Ständig und in unzähligen Varianten taucht darin der Begriff „Volk“ auf. Benutzt werde es immer „wesenhaft“, im Sinne von „völkisch“. Heidegger wollte damit zeigen, dass es eine ganz bestimmte Beziehung zu seinem Sein einzugehen habe. Diese „seinsmäßige“ Beziehung des Volkes zum Führerstaat, sei, behauptet Faye, sozusagen die Quintessenz seines philosophischen Herzstücks, der „ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem“.

Daraus ergebe sich zwangsläufig ein vollkommener Richtungswechsel im Blick auf sein Gesamtwerk. Philosophie und „das Politische“ werden eins, Politik und Werk verschmelzen. Im Staat, dem Sein, komme das Volk, das Seiende, endlich zur Entfaltung und Erfüllung. In immer wieder neu ansetzenden Anläufen versucht Faye dies zu begründen. Rein logisch betrachten lässt sich das hingegen nicht. Aus dem seinsmäßigen Bezug von Volk und Staat lässt sich nicht unbedingt schließen, dass sie die Formel Sein und Seiendes ersetzen kann. Aus einer möglichen Anwendungsform ergibt sich nicht unmittelbar ein Rückschluss auf die zugrunde liegende Grundfigur. Erst recht nicht, wenn sie diese diskreditieren soll.

Dazu gehört aber auch das Seminar „Hegel, über den Staat“, das er zusammen mit dem damaligen Dekan und strammen Nationalsozialisten Erik Wolf im WS 1933/4 gehalten hat. Dort begegnet man laut Faye einem Heidegger, der sich um den Fortbestand des nationalsozialistischen Reiches sorgt. „Der Führerstaat – wie wir ihn haben“, sagt der Meisterdenker dort, „bedeutet die Vollendung der geschichtlichen Entwicklung.“ Dieser Staat, so fährt er fort, soll „noch 50 oder 100 Jahre existieren“. Für Faye ist diese Bemerkung Beweis dafür, dass nach Heidegger der NS-Staat auch über den Tod des Führers hinaus fortdauern soll, bis ins Jahr 2034. Wie Heidegger dies aber gemeint haben könnte, ob voller Ernst oder doch eher ironisierend, geht aus den Abschriften indes nicht hervor.

Schludrige Beweisführung

Wie überhaupt man sagen muss, dass Faye die Frage, ob man diesen Protokollen überhaupt trauen kann, nicht im Detail erörtert. Er ist sich sicher, dass der Philosoph in diesen Manuskripten seine Maske hat fallen lassen. In den beiden Seminaren habe er politischen Klartext geredet, und nicht wie vorher oder später, in Andeutungen oder Verklausulierungen. Deutlich werde, dass Heideggers politisches Engagement kein Irrweg war, sondern in der Art seines Denkens angelegt gewesen ist. Ihm sei es darum gegangen, den Menschen abzuschaffen, ihn durch „eine politisch-historische Entscheidung“ zu ersetzen, die in der „Selbstbehauptung des deutschen Volkes“ ihre Bestimmung findet.

Zu den Eigenheiten der ebenso eindrucksvollen wie polemischen Sammlung und Studie gehört es, dass Faye seine Thesen mit teilweise absurden Schlüssen und Vermutungen unterfüttert. So unterstellt er Heidegger aufgrund von Ähnlichkeiten in Lehre und Stil, die er zwischen Reden Hitlers und Äußerungen Heideggers entdeckt, ein heimlicher Redenschreiber für Adolf Hitler gewesen zu sein. Einen echten Beleg dafür kann er aber nicht liefern. Und so glaubt er, weil Heidegger seinen Studenten während der Vorlesung des WS 1934/35 die begrifflichen Zusammenhänge des Hölderlingedichts „Der Rhein“ mit einem vierteiligen Pfeilschema deutlich macht, darin ein verstecktes Swastika Kreuz erkennen zu können. Mit solch abenteuerlicher Beweisführung schadet Faye seinem Anliegen mehr, als dass er ihm nützt.

Keine „Kehre“, nur Kontinuitäten

Verbrieft ist, dass Heidegger sich vor Studenten emphatisch für Hitler und den NS-Staat eingesetzt, die „innere Wahrheit und Größe dieser Bewegung“ gepriesen und auch nach seinem Rücktritt vom Rektorat der Freiburger Universität am 27. April 1934 an einer bestimmten Idee des Nationalsozialismus festgehalten hat. Faye meint Belege zu haben, die zumindest seinen latenten Rassismus und Antisemitismus auch über die „Nacht der langen Messer“ hinaus, als die gesamte SA-Spitze liquidiert worden ist, bezeugen (Wie die Nazi-Ideologie in die Philosophie einzog).

So vermutet Faye, Heidegger habe, als er in der 1935 gehaltenen Vorlesung „Einführung in die Metaphysik“, zwei Verse Homers zitiert, das Nürnberger Reichtagsgelände vor Augen gehabt, als er von „dem Tempel“ sprach, aus dessen „Mitte ein Volk sein geschichtliches Wohnen gründet.“ Das habe er in dem Vortrag „Der Ursprung des Kunstwerks“, den er im gleichen Jahr und danach noch etliche Mal gehalten hat, aber auch in späteren Publikationen, zuletzt in einer Fassung von 1989, „dem Jahr des 100. Geburtstages von Martin Heidegger und Adolf Hitler“, nochmals ausdrücklich erwähnt.

Sicher ist, dass Heidegger nach diesem Ereignis, seinem Rückzug als politischer Intellektueller und seiner Kaltstellung durch die Partei Abstand von einer „Entbergung des Seins“ als „Wahrheitsereignis“ nimmt. Stattdessen beschränkt er sich fortan auf die Rolle des „Da-Seins“, die „Entbergung“ mit Gelassenheit zu empfangen und wahrzunehmen.

Vor Konsequenzen zurückgeschreckt

Über die Brisanz, den gesellschaftlichen Sprengstoff und die politische Tragweite, die sein Vorwurf beinhaltet, scheint sich Faye jedoch nicht im Klaren zu sein. Gemeinhin gelten Nazis als dumm und geistig minderbemittelt, und ihre politische Ideologie zu Recht als nicht satisfaktionsfähig. Wenn Heidegger aber ein so schlimmer Nazi war, folgt daraus nicht, dass ein Nazi auch ein Meisterdenker sein kann? Und wenn gilt, dass Heidegger (wie Jacques Derrida schon vor zwanzig Jahren vermutet hat) nicht nur, aber auch wegen seines nationalsozialistischen Inhalts ein bedeutender Denker geworden ist, heißt das dann nicht auch, dass „die Bewegung“, dessen „geschichtliche Einzigartigkeit“ Heidegger immer wieder betont hat, auch ein intellektuell bedeutsames Denksystem entwickelt hat, weil sie einen solch überragenden Denker inspirieren und vereinnahmen konnte? Stellt mithin, noch mal schärfer und zugespitzter formuliert, das nationalsozialistische Gedankengut ein philosophisches Großereignis dar, das, wie sein Zwilling, der internationale Sozialismus, nur üblen Praktikern und Mördern in die Hände gefallen ist?

Diskreditiert wären dadurch nicht nur alle Denker, die sich auf Heidegger als ihrem Lehrer berufen haben, Hannah Arendt und Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und Paul Ricœur, Jacques Derrida und Emmanuel Lévinas, diskreditiert wäre auch ein Großteil der Gegenwartsphilosophie, die heute an den Universitäten unter dem Deckmantel „der Postmoderne“ gelehrt wird. Letzteres will Faye mit seinem Buch durchaus erreichen, er will die Gefährlichkeit der „Heideggerei“ deutlich machen und sie aus den Schubladen der Philosophie entfernt wissen. Den ungeheuerlichen Gedanken, den er mit seinem Buch implizit und selbstredend heraufbeschwört, diesen Schluss wagt er hingegen nicht zu ziehen.

Faschistischer Bazillus?

„Philosophie ist das Gegenteil aller Beruhigung und Versicherung“, schrieb Heidegger anno 1929/30, bevor er sich ein paar Jahre danach aktiv der Bewegung verschrieb. „Diese elementare Bereitschaft für die innere Gefährlichkeit der Philosophie“ kennten wir nur noch nicht, meinte er damals. Philosophie müsse gefährlich, riskant und skandalös sein. Nur wenn sie „anstößig“ ist, die Gesellschaft „in pro und contra auseinandersprengt“ und zu „amüsanten Tumulten“ führt (Alle zwanzig Jahre wieder), könne sie laut Sepp Gumbrecht „Bewegungen des Denkens“ auslösen, die „unsere Alltagsvernunft herausfordern“.

Auch wenn wir, nochmals Gumbrecht, mittlerweile „die Bedeutung philosophischer Ideen und Argumente“ mehr nach „ihrem Potential" beurteilen als „nach ihrer praktisch-politischen Wirkung“, bleibt die Frage dennoch unbeantwortet, warum eine Philosophie, die ganz offensichtlich nationalsozialistische Wurzeln hat, die unterschiedlichsten Denker in aller Welt befeuert und zur geistigen Tätigkeit angeregt hat? Wie kommt es, dass niemand dieser Leute es wagt, Aufschluss darüber zu geben, warum sie ein Denken faszinierend finden, das ganz offensichtlich von faschistischen Gedanken gespeist wird?

Emmanuel Faye, "Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935", Berlin: Matthes & Seitz 2009, 557 Seiten, 39,90 €.