Amoklauf, Amoklauf...

Amok macht sich immer gut - Teil 1

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Der „Expertenkreis Amok“ hat als Konsequenz aus den Vorgängen in Winnenden und Wendlingen 83 Empfehlungen herausgearbeitet, die helfen sollen, „Amokläufe“ an Schulen zu verhindern bzw. im Falle des Falles besser eingreifen zu können. Ein paar Betrachtungen dazu.

Heute halte ich es nicht mehr aus...

Die Expertengruppe stellt eingangs fest, dass ihr Name irreführend ausgewählt wurde.

Obwohl nachfolgend der Begriff „Amok“ verwendet wird, muss festgehalten werden, dass die Bezeichnung im Grunde unzutreffend ist, da "Amok" dem ursprünglichen Wortsinn nach eine spontane, nicht geplante Tat oder einen unvermuteten Gewaltausbruch mit schweren Folgen für die Opfer bis hin zur Tötung bezeichnet. Fälle, die allgemeinverständlich als „Amok“ bezeichnet werden, sind im schulischen Bereich lange geplante Gewalttaten mit übersteigerten Hass- und Rachephantasien, die meistens im ebenfalls geplanten Suizid enden. Man kann sie auch als versuchte oder vollendete Mehrfachtötungen mit unklarem Motiv bezeichnen

Bericht des „Expertenkreis Amok“

Bei den nachfolgenden Empfehlungen, insbesondere auch hinsichtlich derer, die sich auf die Berichterstattung beziehen, findet sich diese generelle Kritik an der falschen bzw. auch inflationäre Verwendung des Begriffes „Amok(lauf)“ nicht wieder.

Dabei wäre dies durchaus ein Aspekt gewesen, der es wert ist, genauer betrachtet zu werden. Wer einmal die Suchergebnisse zum Thema „Amoklauf“ anschaut, der findet neben den Berichten zu den bekannten Geschehnissen in den diversen Schulen auch Anzeichen dafür, dass der Begriff mittlerweile als Auffangbecken für geplante Mehrfachtötungen, Gewaltandrohungen als direkter Folge von Demütigungen, Kündigungen oder anderen negativen Entwicklungen sowie eskalierenden Situationen im allgemeinen, bei denen es insbesondere zum Schusswaffeneinsatz kommt, dient. Ein paar Beispiele:

  • Amoklauf nach Kündigung angedrohtNach einer fristlosen Kündigung hat ein Münchner angedroht, bewaffnet in seiner Firma zum Ausräumen seines Spindes aufzutauchen.
  • Amoklauf: Drei Tote bei Gewaltdrama am NiederrheinEin Mann schießt um sich, nachdem er, seine in Scheidung lebende Frau sowie Gutachter etc. im (gemeinsamen) Haus treffen um dessen Wert zu ermitteln – eine Zwangsräumung stand bevor.
  • 16jährige gesteht geplanten AmoklaufEine 16jährige plante, ihren Lehrer mit einem Kurzschwert zu töten, mehrere Schulgebäudeteile durch Molotowcocktails in Brand zu setzen und die entsprechenden Klassenzimmer zu verriegeln.

Diese stark verwässernde Nutzung des Begriffes „Amoklauf“ führt zu einem Abnutzungeffekt, der gerade auch bei der Berichterstattung über die „School shootings“, wie die US-amerikanische Bezeichnung für Vorfälle wie in Winnenden oder Erfurt lauten. Je öfter bereits, wie im obigen Fall, die Ankündigung „ich komme morgen mit einem Gewehr und räume meinen Spind aus“ als Vorzeichen für einen Amoklauf gedeutet und präsentiert wird, desto stärker verliert der eigentliche Begriff an Bedeutung. Gerade auch die Medien müssen hier stärker unterscheiden zwischen tatsächlichen Amoktaten und geplanten Rachehandlungen etc.

Amoklauf, Amoklauf...

Die Differenzierung zwischen tatsächlichen Amokläufen und den Taten, die nur irrtümlich oder wegen des (medialen) Interesses als solcher deklariert werden, ist nicht zuletzt auch wegen der allgemein befürchteten Nachahmungstäter wichtig. Dem Begriff Amoklauf haftet eher etwas „Cooles“ an als dem Begriff „mehrfacher Mord“ (Rache ist ein niederes Motiv, somit ist eine Tötung als Racheakt Mord). Gerade auch, wenn, wie im Bericht zu Recht moniert wird, die Berichterstattung gleichzeitig durch Photomontagen etc. den Mörder in martialischen Posen zeigen, begleitet von Schlagzeilen wie „Seid ihr noch nicht tot“, die auch vom Presserat gerügt wurden, führen zu einem verfälschenden und ggf. in der Wahrnehmung gerade von Jugendlichen heroisierenden Eindruck.

Die Empfehlungen des Expertenkreises sind insofern hinsichtlich der Rolle der Medien zu begrüßen, eine Thematisierung des inflationären Nutzens des Begriffes Amoklauf ist jedoch lediglich am Anfang angerissen worden.

  • 69. EMPFEHLUNG: DISKUSSION MIT DEM PRESSERAT FÜRHEN UND GEMEINSAME EMPFEHLUNGEN ERARBEITEN
  • 70. EMPFEHLUNG: EMPFEHLUNGEN ZUR PRESSEARBEIT ERÖRTERN UND IMPLEMENTIEREN Erneute Erörterung der Thematik und Weiterentwicklung der fünf Prinzipien nach Robertz für die Pressearbeit bei Amoktaten zur Vermeidung von Nachahmungstaten: 1. Keine Vermutungen zum Motiv äußern (Identifikation mit Motiven verhindern). 2. Keine Fotos und Namen weitergeben (Distanz zum Täter, Folgen / Opfer zeigen). 3. Keine Vermutungen zur Rolle bestimmter Personen beim Tathergang äußern (verhindert Mythenbildung). 4. Keine zu konkrete Darstellung der Tat (z. B. Tatablauf, Kleidung, Waffen usw.). 5. Keine zu konkrete Darstellung von Täterphantasien und emotionalem Bildmaterial verfügbar machen (keine Tagebuchauszüge, Zeichnungen usw.). Medien sollten generell darauf bedacht sein, keine monokausalen Begründungen für derartige Taten zu fördern, den Täter nicht in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu stellen und stattdessen eher auf das Leid der Opfer abzustellen.
  • 71. EMPFEHLUNG: TÄTERZENTRIERTE BERICHTERSTATTUNG REDUZIEREN UND TÄTER MÖGLICHST WEITGEHEND ANONYMISIEREN
  • 72. EMPFEHLUNG: AMOKSPEZIFIKA IN DIE AUS- UND FORTBILDUNG VON JOURNALISTEN IMPLEMENTIEREN

Der Expertenkreis stellt selbst fest, dass „der Grat zwischen Informationspflicht und Zurückhaltung ist bei Amoklagen ein besonders schmaler und diffiziler [ist], da einerseits ein hohes öffentliches Interesse und ein außergewöhnlicher medialer Druck bestehen und andererseits die Saat der Nachahmungsgefahr mit jeder Information potentiell weiter ausgelegt wird.

Gerade hinsichtlich der Darstellung der Tat, des Motives und dergleichen stellt sich die Frage, ob eine den Empfehlungen folgende Berichterstattung nicht schlichtweg verfälschend wäre. Wenn von der „heroisierenden Berichterstattung“ die Darstellung um 180° sich wendet und Motive, Tathergang etc. außen vor lässt, werden die Täter auf ein schlichtes „Jugendlicher dringt in Schule ein und tötet x Menschen, Motiv unklar“ reduziert, was gerade auch in Bezug auf die öffentliche Diskussion über solche Taten und wie hier die in weiten Bereichen oberflächliche Schulgesellschaft, die es Schülern, die „anders sind“ schwer macht, eine Rolle spielt. Dies wäre aber wichtig um auch hier einmal präventiv tätig zu werden. Wird der Täter lediglich auf seine Rolle als Mörder reduziert, werden wichtige Aspekte ausgeblendet. Zwar werden so die Opfer in den Fokus gerückt, doch bleibt der wichtige Bereich der Prävention im Sinne einer „Therapie der Gesellschaft“, die Anpassung als Dogma hat, während sie zeitgleich medial die Unangepassten feiert, außen vor.

Mit lauter Fahrt da kommt die Polizei

Da die Expertengruppe sich auf die „Amokläufe an Schulen“ bezieht, ist festzustellen: Polizei und Schulbehörden, genauso wie Mitschüler, sind aber, auch durch die mediale Aufblähung der Vorfälle, die letztendlich, egal wie traurig sie sind, Einzelfälle darstellen, in einer Situation gefangen, die sie, ähnlich wie Odysseus bei Scylla und Charybdis, nur zwischen zwei gleichermaßen schlimmen Übeln wählen lässt. Werden bestimmte Äußerungen oder vermeintliche Verdachtsmomente, nicht gemeldet und kommt es später zu einer Gewalttat, so werden die Schuldzuweisungen und Selbstvorwürfe groß sein, werden sie aber gemeldet, so führt dies ggf. dazu, dass aus jeder unbedachten, wutentbrannten Äußerung eines Schülers bereits eine Ankündigung eines Amoklaufes wird, die nicht zuletzt Einsatzkräfte und andere Resourcen bindet, sondern natürlich auch Nachahmer oder „Witzbolde“ auf den Plan ruft.

...ich hab´ sein Leben soeben total versaut

Amoklauf an Berufsschule vereitelt“ lautet beispielsweise eine Schlagzeile. Was sich jedoch anhört als hätte die Polizei hier gerade noch rettend eingegriffen, wird zur Farce. Zwar wurde die Berufsschule umstellt, der Jugendliche in Gewahrsam genommen, doch: Waffen oder andere gefährliche Gegenstände hatte der Schüler des Berufsschulzentrums für Bau- und Oberflächentechnik nicht bei sich. Gegenüber Mitschülern hätte er jedoch Andeutungen gemacht, die auf einen Amoklauf hätten schließen lassen können. Auch hätte er einem Lehrer Gewalt angedroht, nachdem ihm dieser eine Strafe wegen Zuspätkommens auferlegte.

Es ist nicht wirklich selten, dass Schüler bei einer (vermeintlich) ungerechten Behandlung verbal ausfällig werden. Hier unterscheiden sie sich keineswegs von Erwachsenen, die in bestimmten Situationen ihrer Wut Ausdruck verleihen. So wie Ehemänner in bekannten Sketchen nach einer Konfrontation mit ihren Ehefrauen durchaus schon einmal ankündigen, diese zu töten, so werden auch Schüler in diversen Situationen solcherlei Drohungen ausstoßen. Dies muss nicht in dem üblichen „isch stesch dich ab, Alda“ münden, wie es von einigen Menschen, die die Gewalt zugleich mit dem Ort der Geburt, der „Nationalität“, Religion oder Bildung in Beziehung setzen, münden. Dass Schüler, die als „anders“ gelten (wobei „anders“ ein Sammelbegriff für sämtliche Diversität ist, egal ob es sich um die finanziellen, körperlichen, geistigen,

Der Wunsch, dem Peiniger, als der der Lehrer dann empfunden wird, Angst einzujagen bzw. es „ihm zu zeigen“ ist weder neu noch wirklich ein Zeichen dafür, dass es zu einer tatsächlichen Gewalttat kommen wird. Bereits in alten Tagebüchern finden sich Einträge von Schülern, die ihrer Hilflosigkeit gegenüber Lehrern Ausdruck verleihen und von Gewalttaten phantasieren. Gerade in diesen Einträgen finden sich oft sehr explizite Schilderungen der Strafen an den Peinigern, wobei hier zu bemerken ist, dass in früheren Zeiten gerade auch die körperliche Züchtigung von Schülern eine Rolle spielte, die von den Eltern toleriert wurde. Die Abhängigkeit der Schüler von Lehrkräften, die letztendlich durch die Zensurenvergabe über die weiteren Chancen im Leben bestimmen, ist hoch und nicht selten wirkt eine Zensur eher wie erwürfelt, denn mit Bedacht vergeben. Viele Aspekte wie persönliche Antipathien oder Sympathien der Lehrer, Vorurteile, Druck von Außen (in Zeiten, in denen Schulen oftmals auch auf Spenden oder Selbstinitiative angewiesen sind um Reparaturen usw. ausführen zu können) oder Lerninhalte, die eher ein geistloses Nachplappern denn eine bedachte Äußerung erfordern, spielen gerade bei den Zensuren eine große Rolle.

Exkurs: My name is...

Erst jüngst ergab eine Online-Umfrage, dass Grundschullehrer bei bestimmten Namen bereits gewisse Verhaltensweisen erwarten und entsprechend (re)agieren. „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose“ urteilte ein Lehrer.

In einer Gesellschaft, in der, anders als in anderen Kulturkreisen bzw. auf anderen Kontinenten, Vornamen, die sich auf Städte (Paris), Länder (Ireland), Gewürze (Cinnamon), Obst (Peaches, Apple) beziehen oder schlichtweg auf starke Kreativität der Eltern hinweisen (Heavenly Hirani Tiger Lily, Mysty Kyd) als Anzeichen für eine „geistige Verwirrung der Eltern“ angesehen werden, ohne einmal darüber nachzudenken, was es über die Gesellschaft selbst aussagt, wenn sie Menschen auf Grund ihres Namens (vor)verurteilt, sind solche Vorurteile bei Lehrern für die Kinder fatal – ohne daran wirklich etwas ändern zu können, werden sie bis zu jenem Tag, an dem sie ggf. ihren Namen ändern können, schon gebrandmarkt. Hier wäre dann auch zu erwähnen, dass Namensänderungen in anderen Ländern weitaus einfacher zu bewerkstelligen sind als in Deutschland, wo diese ausführlich begründet und oft aus den absurdesten Gründen abgelehnt werden. Auch die Änderung eines Nachnamens gestaltet sich abseits von Deutschland/Europa weitaus einfacher. Hier stellt sich die Frage, wieso Menschen nicht das Recht erhalten, spätestens ab Eintreten der Volljährigkeit, über eine so wichtige Basisinformation über sich selbst wie den Namen selbst zu entscheiden, anstatt diese freie Entscheidung als Ausnahme zu betrachten.

Hey, teacher, leave us kids alone

Die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Lehrern und Schülern werden weitgehend als gegeben angesehen, ohne hier in irgendeiner Form einmal eine stärkere Vertretung der Schüler zu ermöglichen. Die Sorgen der Kinder, ihre Ängste und Nöte werden oftmals eher als Einbildung abgetan, das Prinzip „da muss jeder“ durch, herrscht.

Als Gründe für seinen Hass soll der Täter in seinen Aufzeichnungen genannt haben, dass er sich ungerecht behandelt und ausgegrenzt fühle, Angst vor Perspektivlosigkeit, schweren Erkrankungen und einem Nichtbestehen des Abiturs habe und gerne eine Freundin gehabt hätte. Nach bisherigen polizeilichen Erkenntnissen gab es für diese subjektiven Ängste keinen konkreten Anlass.

Gerade für das Gefühl der Ausgrenzung in Bezug auf jemanden, der nach dem allgemeinen Informationsstand ein „Außenseiter“ war, keine konkreten Anlass zu sehen, ist zynisch und fällt in dem sonst eher positiv zu beurteilendem Bericht negativ auf. Hier fehlt die Reflektion der Gesellschaft, die auf Andersartigkeit mit Häme, Sarkasmus, mit Indoktrination und Ausgrenzung reagiert, komplett, was dem Bericht einen eher oberflächlichen Anstrich gibt, so als würden erneut Symptome, nicht jedoch Ursachen bekämpft.