Im Zionismus stecken geblieben

Avraham Burg über sein neues Buch "Hitler besiegen"

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Es ist ein wichtiges Buch, das Avraham Burg, Ex-Abgeordneter der Arbeitspartei in der Knesset, Ex-Knessetpräsident, Ex-Vorsitzender des Präsidiums der Jewish Agency und der zionistischen Weltorganisation, vorgelegt hat: „Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss“. Das Buch, das in 2007 empörte Wellen in Israel schlug und nun vom Campus-Verlag ins Deutsche übersetzt wurde, pocht auf ein neues israelisches Selbstverständnis – jenseits der Shoah. Hin zu Hoffnung und Humanismus, weg von Trauma und Täterschaft, lautet Burgs Botschaft.

Um dies zu erreichen, müsse man auch weg vom Zionismus. Ihn verdammt er als „katastrophal“ für Israels Entwicklung aufgrund seiner vertrackten Verwebung mit einer Holocaust-Wahrnehmung, die zu der Überzeugung führe: „Alle hassen uns“. Resultat dessen sei nicht zuletzt die „oft primitive Kriegslust“ Israels.

Doch der Mann, dessen Vater zu den Gründern Israels zählt, geht noch weiter: Er will die Trennung von Staat und Religion und das Rückkehrrecht aufheben, das allen nach Israel einwandernden Juden die israelische Staatsbürgerschaft zusichert. Nur so könne Hitler endgültig besiegt werden – denn dieses Recht sei nur das Spiegelbild des Nazi-Rassimus.

All dies klingt beachtlich. Und das ist es auch. Doch vollends überzeugend ist es nicht.

Weshalb verknüpft Burg selbst die Gründung Israels so stark mit der Shoah und gibt dem Diskurs, den er doch eigentlich enttarnen will, so neue Nahrung? Weshalb meidet er tunlichst die Crux-Frage im Palästina-Konflikt: Wie soll der zionistische Traum von „Erez Israel“ gerecht auf einem Boden realisiert werden, der seit Jahrhunderten von einem anderen Volk besiedelt ist? Und wie nimmt der 54-Jährige, der Israels Phobie anprangert, in jedem den „Nazi“ zu wittern, selbst seine unmittelbaren Nachbarn wahr?

Seine Aussage gleich im ersten Kapitel seines Buches, Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad wolle „Israel von der Landkarte tilgen“, irritiert etwas - bei aller rassistischen und pamphletartigen Blödheit des Iraners bleibt schließlich festzuhalten, dass er dies so nie gesagt hat, sondern: „Dieses Besatzerregime (von Jerusalem) muss von den Seiten der Geschichte verschwinden.“

Geschieht die Wiedergabe des falschen Zitates hierzulande unreflektiert, so mag dies aus Unwissenheit geschehen. Doch von einem die israelische Staatsraison attackierenden und die eigene Region studierenden früheren Politiker erwartet man profundere Kenntnisse. Zumal sein ehemaliger Premier Ehud Olmert das „Von-der-Landkarte-tilgen“ stante pedes in den iranischen Willen zur „völligen Zerstörung und Vernichtung des jüdischen Völkes“ ummünzte.

Und so scheint es, Avraham Burg ist keineswegs selbst am Ende dessen angelangt, wozu er seine Landsleute aufruft: der Abschiednahme vom Zionismus – so mein Eindruck aus dem Gespräch mit Avraham Burg.

Die Shoah als Selbstwahrnehmungsstrategie

Sie verknüpfen in Ihrem Buch den Staat Israel sehr stark mit dem Holocaust. So stellen Sie unter anderem die provokante Frage, ob es ohne die Shoah „überhaupt einen Staat Israel geben würde“? Nun ist aber historisch doch hinlänglich bewiesen, dass es in jedem Fall zur Staatsgründung gekommen wäre.

Avraham Burg: Als vor rund 120 Jahren die ersten jüdischen Pioniere nach Israel zogen, wollten sie die jüdische Souveränität im verheißenen Land erneuern. Für sie war es das Land ihrer Wahl. Und als die Tore der KZ-Lager 1945 geöffnet wurden, wurde das Land der Wahl für viele Juden automatisch das Land des Schutzes.

Zugleich stellen Sie selbst fest, dass der eigentliche Wendepunkt in der Shoah-Wahrnehmung erst 1961 einsetzte, als David Ben Gurion den Prozess gegen den Kriegsverbrecher Adolf Eichmann zum Schauprozess machte. Demnach hatte die Shoah 13 Jahre nach der Staatgründung keine Rolle im öffentlichen Diskurs gespielt.

Avraham Burg: Wir waren zu sehr damit beschäftigt, das Land, die Wirtschaft und die Armee aufzubauen. Wir hatten keine Zeit für persönliche Angelegenheiten. Zudem benötigt jedes missbrauchte Individuum Zeit, um sein Trauma zu verarbeiten – und was für ein Individuum gilt, gilt umso mehr für ein Kollektiv. Als sich die Büchse der Pandora öffnete, wurde der Holocaust omnipräsent in unserem Leben.

Ihr Autoren-Kollege, Norman Finkelstein, stellt in seinem Buch die „Holocaust-Industrie“ in Abrede, dass diese Büchse rein emotional geladen war. Sie sei vor allem politisch instrumentalisiert worden.

Avraham Burg: Ich bin nicht in der Position eines Richters, ich versuche, zu verstehen. Ich denke, mein Buch ist seiner Zeit voraus, denn eines Tages wird kein Zeitzeuge des Holocaust noch leben und wir und die künftigen Generationen müssen von der Erfahrung zur Erinnerung übergehen. Aber wie werden wir diese Erinnerung formen? Wenn man auf einem Boot in Malta einen Fehler begeht, landet es möglicherweise in Australien statt in Amerika. Wir müssen also sehr behutsam agieren, um von Trauma zu Vertrauen überzugehen und jeder, der daher die Juden und unsere Politiker kritisiert, sie würden den Holocaust zynisch ausbeuten, mag zwar bis zu einem gewissen Grad Recht haben, aber es ist nicht das zentrale Thema. Das zentrale Thema ist, dass der Holocaust noch immer Menschen quält, unser Schicksal formt, Teil unserer politischen Argumentation und unserer strategischen Positionierung ist.

Kann das jüdische Volk ohne äußeren Feind überleben?

Wie sehr benötigt Israel den Holocaust für seine Identitätsbestimmung?

Avraham Burg: Angenommen eines Morgens wachen wir auf und: deus-ex-machina - es ist Friede im Nahen Osten! Dann wird das jüdische Volk dem schwierigsten Dilemma seiner modernen Geschichte entgegentreten müssen. Kann das jüdische Volk ohne äußeren Feind überleben? Gib mir einen Krieg, gib mir ein Desaster – und ich weiß, was zu tun ist. Gib mir Friede, gib mir Gleichheit – und ich bin verloren. Das ist die verbreitete Denke, eben weil der Holocaust, die Idee „Alle hassen uns“ noch immer präsent ist. Ich hingegen gehöre zu denen, die sagen: Lasst uns weitergehen, die Welt ist heute eine bessere, vor allem die westliche Welt.

Wie ist Ihre persönliche Wahrnehmung der arabischen Welt? In einem Interview sagten Sie, es gäbe „keine ernsthaften Bedrohungen für uns, nicht einmal hier im Staate Israel“.

Avraham Burg: Sie beziehen sich vielleicht auf ein länger zurück liegendes Interview, denn...

...es handelt sich um Ihr Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung vom 24./25. Oktober.

Avraham Burg: Ich halte den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad für eine Bedrohung, aber es ist nicht Hitler oder der Holocaust. Er ist ja nicht nur für Israel ein Problem, sondern für sein eigenes Volk, wie man vor wenigen Monaten sehen konnte. Ahmadinedschad ist ein Problem für die Region, die Iraner, den Westen und Israel.

Inwiefern?

Avraham Burg: Er ist ein Tyrann, ein Wahnsinniger, der die totale Vernichtungswaffe besitzen will..

... Israel besitzt sie längst, der Iran ist davon noch weit entfernt...

Avraham Burg: Selbst in den Zeiten der Konfrontation mit der Sowjetunion gab es Gespräche, eine Art von Logik, gegenseitige Kontrolle. Aber mit einem Tyrannen, mit dem es weder Gespräche gibt, noch eine gegenseitige Kontrolle, hat man ein Problem. In meinen Augen aber sind nicht alle Iraner oder Araber gegen alle Juden. Mir geht es darum: alle Guten gegen alle Bösen.

Israel soll Ihres Erachtens ein „Licht für die Nationen“ darstellen. Das aber klingt, als müsse es – sobald es sich von seiner Selbstwahrnehmung als Opfer befreit hat - zum Helden aufsteigen. Kann dieser Staat nie nur normal sein?

Avraham Burg: Für mich ist es verkehrt, wenn ein Opfer zum Täter wird. Das kann nicht die Alternative sein. Mein Verständnis von Judaismus visiert die Utopie an, dass man nicht wie ein Katze einfach schläft, frisst und sich fortpflanzt. Der Ruf nach Höherem in unserer Generation hat viel mit dem Ergebnis des Holocaustes zu tun. Für mich heisst, „niemals wieder“ nicht „niemals wieder gegen uns“, sondern verantwortlich gegen jede Ungerechtigkeit aufzustehen, ob sie in Darfur oder in den Vorstädten von Paris gegen Immigranten begangen wird.

„Ich habe mich aus der Politik zurückgezogen, um solche Fragen nicht mehr zu beantworten“

Angesichts dieses humanistischen Verständnisses und dessen, dass sich Israel – wie Sie selbst gerade sagen – noch in der Täterrolle befindet, verblüfft es umso mehr, dass Sie den vor der Tür stattfindenden Palästina-Konflikt in Ihrem Buch nahezu ausklammern. Aber gerade er, respektive die Zündstoffrage: „Wessen Land ist es?“, ist doch die Crux von Israels verhängnisvoller Situation. Ist das nicht ein fatales Beiseiteschieben der politischen Realität, die Sie doch gerade ändern wollen? Der Friede wird nunmal nie „deus ex machina“ eintreten, wie Sie es zuvor hofften?

Avraham Burg: Oh je – ich habe mich aus der Politik unter anderem zurückgezogen, um solche Fragen nicht mehr zu beantworten. Also, es ist mein zweites Buch. In meinem ersten Buch, das nicht ins Deutsche übersetzt wurde, diskutiere ich die religiöse Dimension der politischen Situation in Israel und widerspreche vehement jener Siedlerphilosophie, die glaubt, alles sei erlaubt, weil es in der Bibel steht. Das ist ein Missbrauch der eigentlichen Bedeutung der Heiligen Worte. Das ist nicht mein Judaismus. Als ebenso falsch empfinde ich die Interpretation des Islam durch die Hamas. Sowohl die palästinensische, als auch die israelische Gesellschaft sind entführte Gesellschaften - die eine von der Hamas, die andere von den Siedlern, die beide, basierend auf einem religiösen Gesetz, ein „Groß-Land“ anstreben. Beide Gesellschaften müssen dieses Stockholm-Syndrom, bei der der Entführte eine Neigung zu seinem Entführer entwickelt, überwinden, sonst wird es sehr schwierig, die Besatzung loszuwerden.

Ziehen Sie so nicht eine verfälschende Symmetrie zwischen beiden Parteien? Die Fragen, wessen Land es ist und auf der Basis wovon, existierten bereits vor 1948. Die Hamas – deren besonnenere Kräfte die Zweistaaten-Lösung und somit Israel zudem mittlerweile indirekt anerkannt haben – aber nicht.

Avraham Burg: Dieser Vergleich zwischen post-1967 und prä-1948 ist nicht zulässig. Der Staat Israel wurde durch das Votum der Vereinten Nationen im November 1947 etabliert und um unser Gedächtnis aufzufrischen: Es ist der Staat Israel, der diese UNO-Resolution akkzeptiert hat - im Gegensatz zu den arabischen und palästinensischen Führern. Der in der Folge ausgebrochene Krieg führte 1949 zu einem Waffenstillstand bis 1967. Die Grenzen von 1967 sind demzufolge internationaler Konsens. Was danach geschah ist illegitim. Die Siedlungen auf dem besetzten Territorium, die Unterdrückung der Palästinenser, aber auch die Ausbeutung der Situation der Palästinenser durch arabische und palästinensische Führer. Heute gilt es, den Willen, wenn möglich, in das prä-1967 zurückzuführen – nicht in das prä-1948, denn dies hieße erstens, dass es keinen Platz für das jüdische Volk gäbe und stünde zweitens in Widerspruch zu der UNO-Resolution von 1947 und der Grenzen von 1967, die die Grenzen zwischen uns und Palästina sein werden.

Abwende vom Zionismus ja, Einstaatenlösung nein

Ihr Buch ist auch ein Aufruf, sich vom Zionismus abzuwenden, weil Ihnen dessen Nationalismus zu provinziell für ein modernes Israel erscheint. Stattdessen fordern Sie die Aufhebung des Rückkehrrechtes für alle Juden, ermutigen Ihre Landsleute, einen zweiten Pass anzunehmen und plädieren für den Eintritt Israels in die EU. Dennoch bleibt Ihnen das nationale Moment doch wichtig, da Sie zugleich eine Einstaatenlösung ablehnen. Gerade mit ihr aber wäre doch die Abkehr vom Zionismus vollzogen, da früher oder später die arabischstämmige Bevölkerung in der Mehrheit wäre?

Avraham Burg: Angenommen und gemäß dem jetzigen Stand der Dinge, das nicht-jüdische Element wäre in der Mehrheit – hieße das dann, dass ich es zulassen werde, dass die Idee der Demokratie und Freiheit aufgegeben wird, um mein Recht auf einen jüdischen Staat in Gestalt einer Minderheit aufrechtzuerhalten? Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Einer der Gründe, weshalb ich eine Trennlinie zwischen uns und den Palästinensern wünsche, ist weil ich nicht als Minderheit in meinem eigenen Land leben will. Es soll eine nationale jüdische und eine nationale palästinensische Heimstätte geben. Vielleicht kommt es eines Tages zu einer Art Konföderation, aber bedenken Sie, wie lange sich die diversesten Fraktionen in Europa bekriegt haben, ehe es zu einem solchen faszinierenden Modell kam. Europa benötigte nahezu die Hälfte des 20. Jahrhunderts, um sich von seinen Kriegen zu erholen und zu beruhigen.

Hegen Sie gerade gegenüber Deutschland, dem Urheber des Holocaust, bestimmte Wünsche?

Avraham Burg: Ich kann mich in keinster Weise über die Art, in der Deutschland die Verantwortung übernommen hat, beklagen. Im Gegenteil, ich finde es beeindruckend. Das einzige, was ich mir wünsche ist, dass wir, Täter und Opfer, aus unseren Käfigen hinaustreten und gemeinsam überall hingehen, von Kambodscha bis in den Irak, wo Menschen einander töten. Wir müssen Ihnen „unseren Holocaust“, unsere Erfahrung verdeutlichen und zeigen, wie wir heute miteinander umgehen. Wir sollten alles in unserer Macht tun, um die Opfer zu verteidigen und die Täter von ihrem Gemetzel abzuhalten.

Schliesst dies eine deutsche Kritik an Israel Politik gegenüber den Palästinensern ein?

Avraham Burg: Natürlich.