"Regierungsfähige Opposition"

Breites Spektrum aus sechs verschiedenen Parteien verfügt künftig über Ratsmehrheit in Münster - inklusive Piratenpartei

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Im Rat der Stadt Münster formiert sich gegenwärtig eine ungewöhnliche - nein, eine "Koalition" wollen sie genau nicht sein. Derzeit nennen sie sich "Gemeinsame politische Initiative", "Freundeskreis", "Partner", "Verantwortungsgemeinschaft". Es handelt sich bei diesen Nichtkoalitionspartnern um den informellen Zusammenschluss von nicht weniger als sechs politischen Playern jenseits der bisherigen schwarz-gelben Rathausregierung: SPD, GRÜNE/GAL, DIE LINKE, ÖDP, UWG und PIRATEN. Diese Formation ist gewiss kein politisches "Lager", denn von "links-bürgerlich" hat man bislang noch nichts gehört. ÖDP und UWG sehen sich eher als konservativ bzw. bürgerlich. Gemeinsam vereinigen die neuen Partner 42 der 80 Sitze (plus Oberbürgermeister-Stimme, die jedoch ironischerweise dem direktgewählten CDU-Kandidaten gehört). Doch es verbindet sie nicht genug, um einen Koalitionsvertrag aufzusetzen. Auch, wenn man keine "konzeptionelle Allianz" bilden möchte, so hat man inzwischen etliche Gemeinsamkeiten in Sachfragen ausgelotet, um "vertrauensvoll" miteinander zu reden. Ein Geschacher um Koalitionsverträge fing gar nicht erst an.

Konsens besteht offenbar in der Verurteilung des bisherigen Politikstils, bei dem Schwarz-Gelb mit gerade einmal einer Stimme Mehrheit die Opposition vernachlässigt hätte. Mit insgesamt acht im Rat vertretenen Wählervereinigungen und Parteien seien die Zeiten traditioneller Koalitionsarithmetik Vergangenheit. Sofern man in Sachfragen Einigkeit erzielt, wollen die sechs Partner diese unter Beachtung des jeweiligen politischen Profils gemeinsam tragen und punktuell politisch gemeinsam handeln, ohne sich mit parteipolitischen Ränkespielchen wie taktischen Blockaden etc. aufzuhalten. Außerhalb der wenigen Punkte, in denen man einen konkreten Konsens gefunden hat, soll es keine Koalitionsdisziplin oder dergleichen geben. Die beiden anderen Parteien, CDU und FDP, seien eingeladen, sich diesem Politikstil anzuschließen.

Historisches Rathaus zu Münster. Bild: Florian Adler. Lizenz: CC-BY-SA 3.0 Unported

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Bei den politischen Gegnern, deren gewählter Oberbürgermeister Marcus Lewe künftig als eine Art "Prinz ohne Land" agiert, ist man not amused. Als die formell noch nicht als solche bekannt gegebenen Partner letzte Woche bei der konstituierenden Ratssitzung ihre Muskeln hatten spielen lassen, ließ sich ein CDU-Vertreter dazu hinreißen, das Schreckgespenst des Kommunismus zu beschwören. Es nutzt nichts, sogar bei der Personalentscheidung von Führungsposten darf künftig der Rat dem Oberbürgmeister Lewe reinreden.

Auch, wenn die sechs Partner das Regierungszepter rein formell liegen lassen und kein gemeinsames Programm präsentieren, so handelt es sich faktisch um eine Regierungskoalition. Erstmals sind an einer solchen die Piraten beteiligt. Die beiden weiteren Ein-Sitz-Parteien, die "Unabhängigen Wähler" und die "Ökologisch Demokratische Partei", hätten theoretisch mit der Piratenpartei eine Fraktion (Mindestgröße drei Sitze) bilden können. Diese hatten jedoch bewusst auf eine Ansprache verzichtet, da man keinen Eindruck vom (allgemein-)politischen Profil der Piraten gewinnen konnte - ein Vorwurf, den die junge Partei nicht zum ersten Mal hört. Von Ratsherr-Pirat Marco Langenfeld persönlich hat man jedoch einen positiven Eindruck gewonnen. Sofern man gegen die Stimmen von Schwarz-Gelb etwas durchsetzen möchte, müssen jedes Mal mindestens zwei der drei Ein-Sitz-Parteien ins Boot geholt werden. "Ins Boot geholt" hatte SPD-Mann Wolfgang Heuer seine neuen Kollegen teilweise schon vor der Wahl - auf seine Weise.

Pirat Langenfeld hat bereits konkrete piratige Vorschläge. So fordert er für die Bürger einen "public webspace", die Videoüberwachung in Bussen und an öffentlichen Plätzen soll zurückgefahren und auch sonst der Datenschutz optimiert werden. Ferner soll Open Source bei städtischen Einrichtungen usw. gefördert werden. Mit seinen Partnern verbindet ihn neben dem ökolgischen Impetus vor allem die Tendenz zur gebührenfreien Bildung, die freilich vor einem derzeit ungewissen Finanzierungsvorbehalt steht. Ein wesentliches Anliegen ist Langenfeld die Transparenz von Politik.

Ein Stadtrat, der keine so richtige Regierungspartei aufweist, also aus insgesamt acht "Oppositionsparteien" besteht, ist offenbar mindestens in NRW ein neues Phänomen. Man darf gespannt sein, ob dieses Modell, bei dem zumindest sechs der Parteien auf Fraktionsdisziplin etc. bewusst verzichten, die Qualität politischer Entscheidungsprozesse erhöht und wie gut sich die ungleichen Partner in Zukunft vertragen werden.