Auswanderung in die DDR

Kaum erforscht: Die Übersiedelung vom Westen und aus der Schweiz in die DDR

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Unter Systemwechsel können sich heute viele nur die Wahl zwischen Mac und PC vorstellen. Vor 20 Jahren und zuvor war dies auch möglich, wenn man in Berlin die U-Bahn Richtung Friedrichstraße nahm. Wenn dieser Tage die Erinnerungsfeiern zum 20. Jahrestag des Mauerfalls abgehalten werden, geht es um Abwanderung und um Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Ein vergessenes Kapitel der Geschichte ist dabei, dass es auch eine Gegenbewegung gab: Menschen, die Westdeutschland den Rücken kehrten und in die DDR übersiedelten. „Es ist bis heute kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen, dass die deutsch-deutsche Migration zwischen der Bundesrepublik und der DDR ein Massenphänomen war, das beide Richtungen betraf“, schreibt dazu die Historikerin Andrea Schmelz1. Mehr als eine halbe Million Menschen siedelten innerhalb von 40 Jahren vom Westen um in den Osten des geteilten Landes. Und auch eine Gruppe Schweizer emigrierte in die DDR.

Januar 1990 im „Zentralen Aufnahmeheim des Ministeriums für Innere Angelegenheiten“ in Röntgenthal bei Berlin-Zepernick. Ein siebenstöckiges Gebäude, umgeben von mehreren Holzbaracken. Der frühere Stacheldraht um das Gelände hat seit der Wende einem zivilen Maschendrahtzaun Platz gemacht. In der Kantine stehen zur Mittagszeit Gulasch mit Kartoffeln und Blaukraut auf dem Speiseplan. Das Aufnahmeheim beherbergt zu diesem Zeitpunkt 35 Personen. In einem der Zimmer sitzt Gerd K. Der 33-jährige Dachdecker stammt aus Köln und will sich in der DDR in Mecklenburg niederlassen, „der Natur wegen“. Die Bundesrepublik hat er verlassen, weil ihm „der Scheißladen auf die Nerven“ ging, für ihn ganz wichtig sei „ne Perspektive im menschlichen Bereich, im Umgang miteinander“, sagt er. Der Kölner ist einer von rund 300 Menschen, die in der Endphase der DDR noch in den zweiten deutschen Staat übersiedeln wollten. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass dieses Land ihrer Wahl neun Monate später von der Landkarte verschwunden war.

Es waren vor allem die 1950er und 1960 Jahre, in denen Hunderttausende in die DDR übersiedelten. So sind nach Angaben der Bundesrepublik allein von 1950 bis 1968 rund 435.000 Personen vom Westen in den Osten emigriert, nach DDR-Angaben gar 646.000. Freilich konnten diese Zahlen nie die Abwanderung beziehungsweise „Republikflucht“ aus der DDR ausgleichen, allein 1958 und 1959 verließen zusammen mehr als 310.000 Menschen die DDR.2

Vor allem familiäre und wirtschaftliche Gründe

Bemerkenswert ist, dass rund zwei Drittel des West-Ost-Emigranten sogenannte Rückkehrer waren, also Personen, die zuvor die DDR verlassen hatten. Ein Beispiel: 1950 verließ Franz W. zusammen mit seiner Mutter die DDR. Drei Jahre später kehrte er alleine dahin zurück, da er in der Bundesrepublik keine Lehrstelle finden konnte, und begann in Erfurt eine Schlosserausbildung. Noch vor der Beendigung der Lehre ging er 1956 erneut in den Westen und schlug sich dort mit Hilfsarbeiten durch. Er lernte eine junge Kindergärtnerin mit einem ähnlichen Schicksal wie er selbst kennen. Als die junge Frau 1960 schwanger wurde, entschlossen sich beide, in die DDR zurückzukehren. Jung, ohne familiäre Bindung im Westen, ohne Ausbildung und in Existenznot „richteten sich ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in der DDR“.3

In diesen 50er und 60er Jahren waren es vor allem familiäre und wirtschaftliche Gründe, die für die Übersiedlung in die DDR maßgebend waren. Ausgesprochen politische Gründe waren seltener vertreten. Dazu gehörte, sich der Wehrpflicht in der Bundesrepublik zu entziehen und Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik. Als ein Beispiel für einen politischen Umsiedler kann der Liedermacher Wolf Biermann gelten. Der Sohn eines Hamburger Kommunisten wechselte 1953 als 17-Jähriger in die DDR über (aus der er 1976 wieder ausgebürgert wurde).

Explizit politisch waren auch die Gründe für die Umsiedlung von gut 30 Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Schweiz in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) beziehungsweise spätere DDR. Die Phase dieser Auswanderung aus der Schweiz dauerte mit Unterbrechung von 1946 bis 1966 und umfasste zu Beginn vor allem Angehörige der Intelligenz, die attraktive berufliche Positionen, zum Beispiel an Universitäten, einnahmen.4 So siedelte 1947 die Schauspielerin Mathilde Danegger, die in einer Reihe von Filmen mitgewirkt hatte, in die SBZ über. Ab 1956 waren auch wirtschaftliche Gründe für diese Umsiedlung verantwortlich. In der Hochzeit des Kalten Krieges standen viele Mitglieder der „Partei der Arbeit der Schweiz“ vor der Wahl, aus der Partei auszutreten oder ihre Arbeit zu verlieren. So erhielt zum Beispiel der Architekt Hans Schmidt in der Schweiz keine Aufträge mehr, mit der Folge „ohne irgendwelche Existenzmittel zum Unterhalt seiner Familie“ dazustehen, wie es in einem Brief an die SED hieß.

In den beiden ersten Jahrzehnten der (Wieder)Einwanderung in die DDR reagierte der SED-Staat mit der Errichtung von dem Innenministerium unterstehenden Aufnahmeheimen, in denen die Einreisewilligen verbleiben mussten und wo sie überprüft wurden. Man befürchtete die Einschleusung von westlichen Agenten und war an Informationen über die Bundesrepublik interessiert (auf ähnliches Interesse stießen im Übrigen im Westen die Ausreisenden aus dem Osten). Da die Übersiedler oft mehrere Wochen in den Aufnahmeheimen verbringen mussten, waren Konflikte häufig. Zu einer grotesken Szene etwa kam es 1963 im Aufnahmeheim Barby bei Magdeburg, als sieben Heimbewohner um das Gebäude marschierten, das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied sangen und Hochrufe auf Adenauer und die Bundesrepublik Deutschland ausriefen.5

Die Bereitschaft der DDR, sich gegenüber Umsiedlern zu öffnen, unterlag Schwankungen

Für die ersten vier Jahre nach der Staatsgründung wird konstatiert: „Wanderungspolitisch dominierte in der SED eine abwehrende Haltung.“6 Aufgrund des Überangebots an Arbeitskräften und der Wohnungsnot wurden Zuzugsberechtigungen sehr zurückhaltend gewährt, ein sozialpolitisches schwieriges Problem stellten auch die Kriegsheimkehrer dar. Auch gegenüber den Schweizer Emigranten war die Grundhalten eher misstrauisch.

Nach der Systemkrise des Juni 1953 entspannte sich die politische Situation in der DDR und von 1954 bis 1957 lässt sich eine Hochphase der West-Ost-Migration feststellen. Mit 70.000 Personen verdoppelte sich allein 1954 gegenüber dem Vorjahr die Zahl der Zuwanderungen. Während in der Bundesrepublik die Lage auf dem Arbeitsmarkt bis Mitte der 1950er Jahre noch immer schwierig blieb, warb die DDR mit Arbeitsplätzen und Sozialleistungen. Angesichts der Debatte über die Einführung der Wehrpflicht in der BRD entwickelte die DDR eine Werbekampagne, die auf die Gegner des Remilitarisierungskurses zielten: „Jetzt stimmen die westdeutschen Jugendlichen mit den Füßen ab, indem sie in die DDR kommen“, war in den DDR-Zeitungen zu lesen.

Wie sah neben den Rückkehrern in die DDR das Profil der Zuwanderer aus BRD aus? Es waren vor allem Arbeiter, ihr Anteil kletterte von 40 Prozent 1954 auf über 75 Prozent in 1963. Die West-Ost-Migration war insgesamt zudem von Männern geprägt, sie waren mit zwei Dritteln gegenüber ein Drittel an Frauen an der Zuwanderung vertreten, und es waren vor allem junge Menschen. So waren zwei Drittel der Zuzügler aus der BRD unter 25 Jahren. Die meisten West-Ost-Migranten stammten aus Nordrhein-Westfalen und Westberlin.

Die Aufnahme der Neu-Mitbürger durch die Bevölkerung der DDR war ambivalent bis kritisch. „In vielen Betrieben bestehen solche Auffassungen, daß die aus Westdeutschland gekommenen sämtlich Agenten und Arbeitsbummelanten sind“, lauteten interne Berichte.7 Bürgermeister wollten den wertvollen Wohnraum lieber an die Söhne und Töchter der Gemeinde, anstatt an die Neubürger vergeben. So waren erneute „Abwanderungen“ aus der DDR keine Seltenheit.

Die Schweizer Emigranten wiederum hatten in der DDR einen Sonderstatus inne, sie konnten nicht Mitglied der Partei werden, konnten aber jederzeit ausreisen und waren so schwer zu kontrollieren und disziplinieren. Ihnen schlug eine latente Fremdenfeindlichkeit entgegen und sie galten der SED als Sicherheitsrisiko.8 Eine Rückkehr in die Schweiz war zwar möglich, schied aber oft wegen dort fehlender materieller Existenzmöglichkeiten aus. So waren die Eidgenossen keine gleichberechtigten Mitglieder in einer sozialistischen, sondern geduldete Gäste in einer nationalen Gesellschaft, wie das Fazit des Historikers Phillip Mäder lautet.9

Nach dem Mauerbau ging die Zahl der Umsiedler in die DDR deutlich zurück, von 1964 bis 1984 kamen noch rund 48.000 Menschen in den anderen Teil Deutschlands. Bis auf das Heim in Röntgenthal wurden alle anderen Aufnahmeheime geschlossen. 1990 setzten sich die letzten Einwanderer in die untergehende DDR zu zehn Prozent aus Westdeutschen zusammen, der große Rest stammte aus der DDR und wollte zurückkehren. Als Gründe wurden oft Heimweh und die Sehnsucht nach Geborgenheit genannt, vielen war das soziale Klima in der Bundesrepublik als zu rau erschienen. Mit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 schloss auch das letzte Aufnahmeheim der DDR seine Pforten.