BGH lockert die Haftung für Interviews

Äußerungen von Interviewpartnern müssen nicht notwendig einer Zeitung zugerechnet werden

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Für Erstaunen hatte letztes Jahr die vom hanseatischen Oberlandesgericht bestätigte Rechtsauffassung der Pressekammer des Landgerichts Hamburg gesorgt, die einer Zeitung Recherchepflichten für von Interviewpartnern teilweise irrtümlich gemachte Behauptungen aufstellt. In einem Interview der Saarbrücker Zeitung mit dem Publizisten Roger Willemsen, der eine Tirade gegen die von ihm abgesprochene Wahrheitsliebe von Helmut Markwort führte, hatte sich versehentlich eine Unwahrheit eingeschlichen. So hatte sich Willemsen auf ein zwischen Markwort und Ernst Jünger geführtes Interview bezogen, das laut Saarbrücker Zeitung nach Willemsens Erinnerung im Focus erschienen sei. Willemsen kommentierte, er sei falsch zitiert worden, die Zeitung entschuldigte sich bei Markwort und sagte Unterlassung zu. Markwort ging gegen das Blatt, welches das Interview gutgläubig verbreitet hatte, dennoch juristisch vor.

Das Landgericht Hamburg hatte in seinem Urteil der Zeitung die Äußerung zugerechnet. Diese sei "intellektueller Verbreiter", es handele sich bei Interviews um originär redaktionelle Beiträge. Eine Zeitung müsse sich ggf. von Äußerungen Dritter distanzieren. Doch eine solche Distanzierung, die wohl spezifisch ausfallen müsste, würde voraussetzen, dass man einen problematischen Inhalt überhaupt als solchen erkennt.

Aus diesem Urteil wurde gefolgert, dass man künftig jedes Interview vor Veröffentlichung praktisch gegenrecherchieren müsse - eine absurde Auflage, denn wenn man etwa einen Experten interviewt, fehlt einem Journalisten typischerweise die Kompetenz zur Recherche. Auch Interviewpartner mit extremen Meinungen wären tabu, denn das Landgericht Hamburg ist dafür bekannt, in vielen Meinungsäußerungen angebliche Tatsachenbehauptungen zu erkennen, die nicht von der Meinungsfreiheit geschützt seien. Vereinzelt wurde bereits "Das Ende des Interviews" ausgerufen. Telepolis hatte zum Thema eine Glosse des Autors veröffentlicht.

In der juristischen Fachliteratur wurde der strenge Haftungsmaßstab der Hamburger Gerichte ebenfalls kritisiert. Zwar kann es nicht angehen, offensichtliche Lügen durch Interviews quasi durch die Hintertür zu verbreiten, doch über den Sorgfaltsmaßstab wird gestritten. So ist die Presse in vergleichbaren Fällen von ihren Sorgfaltspflichten praktisch entbunden, etwa beim Abdruck von Leserbriefen, Agenturmeldungen oder amtlichen Äußerungen, die ungeprüft durchgereicht werden dürfen. Kurioserweise wären Fachbehauptungen während Live-Interviews im Rundfunk nicht von einem nachträglichen Unterlassungsanspruch betroffen, denn bei solchen wüsste die Redaktion die Antworten ja nicht vor der Verbreitung, so dass sie sich diese erst im Falle einer Wiederholung zu eigen mache.

Nun hat der 6. Senat des Bundesgerichtshofs, der Hamburger Entscheidungen im Presserecht serienmäßig aufhebt, auch der absurden Zurechnung von Interviews eine klare Absage erteilt:

Die Verbreitung der Äußerungen war zulässig. Es handelt sich um eine nicht gegen den Kläger persönlich gerichtete Meinungsäußerung mit einem wahren Tatsachenkern. Die Aussage "Heute wird offen gelogen" richtet sich gegen die Berichterstattung im Magazin "Focus", für die der Kläger als Chefredakteur verantwortlich war. Sie gibt die dem Beweis nicht zugängliche Meinung des Interviewten über die mangelnde Wahrheitsliebe in den Medien wieder. Durch das von ihm angeführte Beispiel des Interviews Markworts mit Ernst Jünger, das Markwort jedenfalls nicht selbst geführt hat, wird der Kläger zwar in seinem Persönlichkeitsrecht tangiert, doch überwiegt das von Roger Willemsen verfolgte Interesse der Öffentlichkeit an der Wahrheit und Seriosität der Medienarbeit. Der Persönlichkeitsschutz des Klägers hat mithin hinter dem Recht der Beklagten auf Presse- und Meinungsfreiheit zurückzutreten.

Eine über diese Pressemitteilung hinausgehende Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Bemerkenswert ist insoweit, dass Interviewpartner Willemsen tatsächlich eine unzutreffende Teil-Aussage innerhalb einer Meinungsäußerung zumindest in den Mund gelegt wurde, diese jedoch vom BGH im Gesamtzusammenhang als Meinungsäußerung gewertet wird. Für Kenner der scharfen Hamburger Auslegungspraxis ist diese Sichtweise eine Ungeheuerlichkeit, denn am Hamburger Sievekingplatz werden normalerweise bereits Teiläußerungen, die irgendwie missverständlich ausgelegt werden und einen falschen Eindruck andeuten könnten, als Tatsachenbehauptungen gewertet. Unzutreffende bzw. bestrittene unbewiesene Tatsachenbehauptungen werden stets verboten, ohne dass sich in Hamburg die Frage nach der Abwägung des durch die Äußerung beeinträchtigten Allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit der Meinungs- und Pressefreiheit stellt. An der Nordelbe wird dem Persönlichkeitsrecht pauschal die Vorfahrt gewährt, obwohl auch die Meinungs- und Pressefreiheit Verfassungsrang genießt.

Diese aktuelle Entscheidung des BGH über die Zurechnung fremder Äußerungen in Interviews dürfte auch ein wichtiges Signal zur Haftung für User Generated Content darstellen, also die Haftung für Äußerungen in Internetforen oder privaten Wikis, die speziell das Landgericht Hamburg dem Betreiber von Websites auferlegt.

Focus-Chef Markwort, der ironischerweise durch seine unnachgiebige Haltung die eigene Branche in unpraktikable Schwierigkeiten bringt, will nun das Bundesverfassungsgericht bemühen. Markworts Anliegen ist durchaus nicht chancenlos. So hatte das Bundesverfassungsgericht etwa einmal eine pressefreundliche BGH-Entscheidung gekippt, welche den satirisch verfremdeten Abdruck eines Bildnisses von Ex-Telekom-Chef Ron Sommer erlaubt hatte. Das Bundesverfassungsgericht folgte jedoch damals Sommers Anwälten, die u.a. darauf abhoben, der Betrachter könne die geringfügige Manipulation der Gesichtszüge nicht erkennen. Unterlegener Beklagter war seinerzeit ausgerechnet Markworts Focus.