"Wenn Juden Faschisten sein können, dann hat sich etwas verändert"

Simon Levy, Gründer eines jüdischen Museums in Marokko, über jüdische liberale Kultur, Diaspora, Exodus und hebräische Faschisten

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Angesichts des verfahrenen Nahost-Konflikts, der mittlerweile von ethnischen, religiösen und rassistischen Komponenten überlagert wird, könnte man meinen, dass "Juden und Muslime" einfach nicht zusammenpassen.

Dabei verbindet Juden und Muslime in vielen Ländern des Mittleren Ostens eine Jahrhunderte alte, gemeinsame Geschichte und Kultur. Das ist in Syrien, im Libanon, in Ägypten, im Irak, aber auch im Iran der Fall, in dem heute noch 25.000 Juden leben, die größte jüdische Gemeinde außerhalb Israels in dieser Region (Juden in muslimischen Ländern).

Am anderen Ende des Mittelmeers, in Nordafrika, ist es nicht anders. In den Maghreb flohen Ende des 15. Jahrhunderts die meisten der 200.000 auf der iberischen Halbinsel ansässigen Juden vor Verfolgung, Vertreibung und Zwangskonvertierung des Königsehepaars Ferdinand II. und Isabel I. Das heutige Marokko war damals erste Anlaufstelle, in dem auch der Großteil der Flüchtlinge (Sephardim) blieb und zwar als Dhimmi (Schutzbefohlene) des Sultans. Große jüdische Gemeinden hatten fast 500 Jahre bis in die 60er und 70er des letzten Jahrhunderts Bestand und ihre Mitglieder hatten teilweise hohe Regierungsämter inne. Zu den marokkanischen Juden zählt der ehemalige israelische Verteidigungsminister Amir Perez, dessen Familie nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 nach Israel auswanderte.

In der jüdisch-marokkanische Geschichte kennt sich Simon Levy wie kein anderer aus. Der pensionierte Universitätsprofessor und Buchautor gründete 1996 in Casablanca ein jüdisches Museum - das einzige seiner Art in arabischen und muslimischen Ländern.

Der Exodus aus Marokko hatte mit dem Zionismus, Kolonialismus, dem schlechten Verhältnis von Israel zu seinen Nachbarländern und den Kriegen zu tun

Für viele ist ein jüdisches Museum in einem arabischen Land kaum vorstellbar. Warum haben Sie das Museum in Marokko und in Casablanca gegründet?

Simon Levy: Das ist doch ganz klar. Erstens gibt es eine besondere Verbindung zwischen Judaismus und Marokko. Juden leben seit 2000 Jahren in Marokko. Jüdische Kultur ist Teil der marokkanischen Kultur und umgekehrt.

Zum anderen ist Casablanca die Stadt mit den meisten Einwohnern. Allerdings ist das Museum nur ein Teil unserer Arbeit. Es gehört zu einer Stiftung, die wir gegründet haben mit dem Ziel, das marokkanisch-jüdische Kulturerbe zu erhalten.

Was macht diese Stiftung über den Betrieb des Museums hinaus denn noch?

Simon Levy: Wir kümmern uns beispielsweise um die Erhaltung und Restaurierung unserer Synagogen. Religiöse Stätten sind eine sehr wichtige Aufgabe. Es gibt mehr als zehn davon in Marokko, vom Norden des Landes bis in den Süden hinunter, fast in der Wüste. Das sind einzigartige Synagogen, wie es sie sonst an keinem anderen Ort der Welt gibt. Ansonsten decken wir alle nur möglichen Aspekte dieser jüdisch-marokkanischen Kultur ab. Von der Musik bis zur Literatur, alles, was es eben gab.

Da Sie die Literatur erwähnten, stimmt es, dass sie in Marokko etwas Besonderes sei?

Simon Levy: Ja, durchaus. Wir haben eine jüdisch-marokkanische Literatur in arabischer Sprache, also nicht nur in Hebräisch. Das ist etwas ganz Besonderes, in klassischem Arabisch. Allerdings nur etwas bis zum 15. Jahrhundert. Danach in Form der populären marokkanischen Sprache, dem allgemein üblichen Dialekt, der jedem Juden zugänglich war. Aber diese Literatur in arabischer Sprache wurde mit hebräischen Schriftzeichen geschrieben. In Marokko war damals die jüdische Schulbildung religiös orientiert, jeder kannte das hebräische Alphabet. So wurde es dann benutzt, um arabische Literatur zu schreiben. Ganz ähnlich, wie man das in Spanien mit dem Jüdisch-Spanischen machte oder in Deutschland mit Jiddisch.

In Marokko lebten in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts fast 300.000 Juden ...

Simon Levy: …heute sind es einige tausend, nicht einmal mehr 10 Prozent. Früher gab es keine marokkanische Stadt, die nicht wenigstens einen jüdischen Anteil von 10 Prozent hatte. In Casablanca leben heute nur mehr 20 Prozent von den einst 80.000 Bewohnern. In Essaouira, einer Hafenstadt im Süden am Atlantik, stellten die Juden 50 Prozent der Bevölkerung über drei Jahrhunderte lang. Heute sind es nur mehr ganz, ganz wenige Leute.

Warum sind so viele Juden ausgewandert?

Simon Levy: Hauptsächlich wegen der politischen Ereignisse in den letzten 50 Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ausgewandert wurde nach Israel, Frankreich, Großbritannien oder Kanada. Schritt für Schritt haben die Juden ihr Heimatland verlassen. Ein Exodus, der mit Zionismus, Kolonialismus, dem schlechten Verhältnis von Israel zu seinen Nachbarländern, den Kriegen zu tun hat, um einige Stichwörter zu geben.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Situation? Überraschend ist, dass jährlich etwa 75.000 Juden als Touristen nach Marokko reisen sollen.

Simon Levy: Generell kann man die Situation heute wie das berühmte Glas sehen, das halb leer oder halb voll ist. Ich tendiere zum letzteren. In Marokko gibt es eine sehr gut organisierte Gemeinde, zwar klein, aber mit festen Verbindungen nach Außen zu den Emigrierten. Diese wiederum wenden viel Zeit für ihre Aufenthalte in Marokko auf. Was aber das Wichtigste dabei ist, sie kommen immer wieder, um Eltern, Kinder, Enkel, Cousins oder Bekannte und Freunde zu besuchen. So werden die Bande zwischen den emigrierten jüdischen Gemeinden und der jüdisch-marokkanischen konserviert, auch wenn diese sehr klein ist.

Sultan Mohammed V. (1909-1961) soll gesagt haben: "Es gibt in Marokko keine Juden, sondern nur Marokkaner." Klingt etwas pathetisch

Simon Levy: Damals wie heute werden viele Dinge gesagt. Egal, im Sommer 1940 kam ein neues Statut heraus, das diesen typischen rassistischen Ton gegenüber Juden hatte, anti-jüdisch eben. Die Juden protestierten, trafen sich mit Mohammed V. und bei dieser Gelegenheit sagte er diesen Satz, den Sie zitierten. Er gab ihnen zu verstehen, dass es Unterschiede zwischen Geschriebenem und der Realität gibt. Einige Monate später, bei einem Fest, empfing der Sultan die jüdische Delegation mit vielen Ehren, platzierte sie in seiner Nähe, neben den Persönlichkeiten der Macht und hohen Militärs. Einige sagen, darunter waren auch Deutsche, die die französische Armee kontrollierten. Diese bevorzugte Behandlung der Juden, zusammen mit seinen berühmten Worten "Es gibt nur Marokkaner", machten Mohammed V. bei den Juden in Marokko, aber auch in Israel und anderswo, so beliebt.

Gibt es keine weiteren schwarzen Flecken vom Sultan, wie das Statut, von dem Sie vorher sprachen?

Simon Levy: Ja, wenn wir zum Beispiel den Herbst 1942 nehmen, als die Alliierten kurz vor der Landung in Marokko standen. Die Franzosen bereiteten damals etwas sehr Beunruhigendes vor. Jeder Jude sollte über seine Vermögensverhältnisse Auskunft geben. Nach dieser Deklaration wäre, wie wir heute wissen, die Deportation gekommen. In Frankreich war das so und in anderen Ländern ebenso. Aber dann kamen die Amerikaner und Briten und nichts passierte.

Heute ist die jüdische Kultur nur noch in der Küche oder beim Beten evident

Sie haben einmal gesagt, die jüdische Kultur sei verloren gegangen…

Simon Levy: Ich glaube nicht, dass ich das gesagt habe. Sie ist nicht verloren. Eine Kultur geht nie verloren. Ich denke, ich habe das anders formuliert. Sehen Sie: Heute lehren in Marokko die jüdischen Schulen auf Französisch, mit nur ein wenig Arabisch. Die Franzosen haben unsere Sprachkultur übernommen. Dagegen haben die Älteren von uns noch eine Kultur marokkanischen Typus. Aber es ist ein Problem des Alterns, diejenigen, die noch Arabisch sprechen, sind am Verschwinden.

Und was ist mit Ihnen?

Simon Levy: Ich bin in einer Zeit geboren, als unsere Kultur noch Kraft hatte, Realität war. Heute sind die einzigen Aspekte, in denen sie noch evident ist, die Küche oder das Beten. Es gibt keinen Ort mehr für eine jüdisch-marokkanische Kultur. Nur noch in Buchform oder in der Synagoge, aber nicht mehr auf der Straße, in einer Nachbarschaft. Das Judenviertel (mellah) existiert nicht mehr und wenn doch noch, dann ist es von Muslimen bewohnt. Nun sind wir tatsächlich eine Minorität im wahrsten Sinn des Wortes. Vorher waren wir ein Teil des Volkes, der eine andere Religion hatte und in anderen Vierteln lebte…

…und andere Berufe hatte…

Simon Levy: …ja, durch Tradition bestimmte Berufe, Tätigkeiten, wie Schmuckwaren, Handel in andere Länder, oder die Juden, die aufs Land zu den Kirmesmärkten gingen, in die Basare. Das war eine ganz andere Welt, die in den 20er, 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts zu Ende ging. Heute leben andere Juden hier, die ihre Familien in der ganzen Welt verteilt haben. Es scheint so, als hätten sich die Juden globalisiert. Und weil die Juden es vorgemacht haben, macht es heute die ganze Nation. Wissen Sie wie viele Marokkaner wir heute sind?

Meinen Sie Muslime oder Juden?

Simon Levy: Juden leben etwa ein Million außerhalb und sagen wir 10.000 in Marokko. Ich meine Muslime.

In Marokko leben etwa 30 Millionen Menschen.

Simon Levy: Sagen wir 30 oder 32 Millionen und fünf Millionen außerhalb. Beachten Sie das Verhältnis, das ist sehr wichtig. Marokkaner leben in Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, Belgien oder auch in Holland. Sehen Sie, das Problem der Immigration und Emigration muss man heute weiterfassen und nicht mehr nur auf Minderheiten beziehen.

Herr Levi, Sie sollen auch einmal gesagt haben, die Israelis seien keine Juden im eigentlichen Sinn? Um sich als Jude zu fühlen, müsse man in der Diaspora gelebt haben.

Simon Levy: Nun gut, man muss nicht notwendigerweise in der Diaspora gelebt haben. Aber die Wahrheit ist, dass die jüdische Kultur über einen Zeitraum von 2000 Jahren eine Kultur der Diaspora in unzähligen Ländern war. Jetzt haben sich Juden aufs Neue in einem einzigen Land vereint. Wobei jedoch, erstens, nicht alle Juden sind. Mehr als die Hälfte kommt von außerhalb Israels. Zweitens lebt eine Minorität inmitten eines anderen Volkes, das sich in seiner Kultur oder zumindest in seiner Religion unterscheidet, dann entwickelt sich eine Minderheitenhaltung. Wenn sie jedoch eine bestimmende Mehrheit ist, die die Regierung bildet, eine Armee befehligt, dann erwächst eine andere Mentalität. Der Charakter des traditionellen, klassischen Juden der Diaspora ist etwas völlig anderes als der der israelischen Armee.

"Eine würdevolle jüdische Kultur ist liberal, pazifistisch und künstlerisch

Oder der aktuellen Regierung, die wie nie zuvor ein Ausdruck von unbeugsamer Stärke zu sein scheint.

Simon Levy: Sehen Sie: Wir haben in Europa und Marokko oder in welchem Teil auch immer der Welt gegen die Faschisten gekämpft, und heute gibt es hebräische Faschisten, wie der israelische Außenminister Avigdor Lieberman. Ist seine Partei (Jsra'el Beitenu) nicht faschistisch? Wenn Juden Faschisten sein können, dann hat sich etwas verändert. Dann muss man mit den aktuellen Termini neue, andere Fragen stellen. In einer Zeit, in der Israel in den Gaza-Streifen eingedrungen ist und ihn zerstört hat. Ich bin einer von den Juden, der nichts akzeptiert, was dem Judentum widerspricht. Ich kämpfe für die Rechte der Juden, sobald sie bedroht werden, und verteidige jeden Menschen, wenn er angegriffen wird.

Sie sagen Widerspruch zum Judentum. Was ist ein positives Judentum?

Simon Levy: Ich verstehe unter einer würdevollen jüdischen Kultur eine, die liberal, pazifistisch, künstlerisch ist und zudem für die Rechte der Armen und Bedrohten kämpft. Das ist für mich eine gute Kultur, die Tradition der letzten Jahrhunderte. Diese, unsere Tradition, kann man nicht in irgendetwas hinein transformieren, womit man die Interessen Israels rechtfertigt. Wenn man die Tradition den Interessen unterstellt, kann man im Allgemeinen nur verlieren. Man verliert gute Gelegenheiten, Freunde, einfach sehr viele wichtige und gute Dinge. Die Zukunft des Judaismus ist nur mit Frieden verbunden, aber einen wahren Frieden, der selbstkritisch ist. Das ist der einzige Weg, die Basis für Gerechtigkeit im Nahost-Konflikt.

"Der Kolonialismus hat überall seine Spuren hinterlassen"

Im Mai 2003 haben Islamisten in Casablanca auch gegen jüdische Einrichtungen Bomben gelegt. Hat sich dadurch etwas für die Juden Marokkos verändert?

Simon Levy: Sagen Sie mir, was ist damals denn wirklich passiert?

Neben Bombenanschläge auf spanische Einrichtungen, wurde auch der jüdische Friedhof der Stadt getroffen. Insgesamt kamen 45 Menschen ums Leben.

Simon Levy: Unter den Opfern waren kein einziger Jude, sondern die meisten Marokkaner. Die Attentäter wollten zwar unbedingt Juden töten, haben es aber nicht geschafft. Sie wussten nicht wie. Was für ein Horror! Am Ende war es nicht nur ein Anschlag gegen Juden, sondern gegen die ganze marokkanische Nation. All das muss man mit Zeitabstand diskutieren und am besten nicht nur unter dem Aspekt Terrorismus.

Was meinen Sie damit?

Simon Levy: Es gibt offensichtlich ein Problem des Islam mit anderen Kulturen. Ich meine einen extremen Islam, der gegenüber dem friedlichen, nicht-terroristische Teil, eine kleine Minderheit ist. Bedauerlicherweise machen die Europäer zwischen beiden keinen Unterschied. Man stürzt sich nur auf bin Laden oder wer weiß ich noch wen. Aber wer denkt schon daran, wie oft und wie viele Morde an Muslimen in der europäischen Geschichte begangen wurden. Nehmen wir doch nur das Beispiel des Kolonialismus. Wie kann man das alles nur vergessen!

Sie meinen die späte Rache für die Okkupation arabischer Erde, den Millionen von Toten?

Simon Levy: Was heißt Rache? Es ist nur wundersam, wenn Probleme mit Verspätung kommen, jedoch niemand versucht, sie zu verstehen. Nur wir müssen versuchen zu verstehen, was heute passiert. Wir haben 1,5 Milliarden Muslime, von denen die meisten in den ärmsten Ländern der Welt leben, die Minderheit davon in den reichsten am Golf. Aber alle diese Länder waren vor der Unabhängigkeit europäische Kolonien. Der Kolonialismus hat überall seine Spuren hinterlassen, was zum Teil noch keine 50 Jahre her ist. Aber darüber wird nicht gesprochen, genauso wenig wie über die aktuellen, wahren Probleme.

Die wären?

Simon Levy: Die Welt des Nordens zum Beispiel verpestet die Welt und wir müssen dafür bezahlen. Alles diskutiert über den Islamismus, aber nicht über dessen Ursachen.

In den 50er Jahren hat die UNO das Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen in Marokko und insbesondere in der Hafenstadt Tanger als Beispiel für die Koexistenz verschiedener Kulturen gepriesen. Ist das Mythos oder entspricht es der Wahrheit?

Simon Levy: Natürlich ist es die Wahrheit, wenn auch keine absolute. Es gibt ja immer Ausnahmen. Zum Beispiel bekamen wir am Ende des 18. Jahrhunderts einen Sultan, der war ein Extremist und auf uns Juden nicht gut zu sprechen. Sein Extremismus hatte viel mit dem von heute zu tun, rassistisch und nationalistisch. Zum Glück wurde er von seinen eigenen Landsleuten bekämpft. Die Juden konnte das damals nicht selbst tun, sie waren zu schwach dazu.

Aber lassen Sie mich noch eins zum Abschluss sagen: Wir können heute über jüdische Themen nicht außerhalb eines globalen, religiösen Kontextes diskutieren. Weder über die Gegenwart, noch die Vergangenheit oder die Zukunft.