Deutschland drängt auf europaweite Datei für politische Aktivisten

Aktionsplan für die europäische Innen- und Sicherheitspolitik weiter im Zeichen des Antiterrorkampfes

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Kurz vor dem morgen beginnenden regulären EU-Innenministertreffen in Luxemburg hat die EU-Kommission gestern ihren lange erwarteten Vorschlag zur Ausgestaltung des "Stockholmer Programms" umrissen. Der Aktionsplan konkretisiert die bislang nur als Absichtserklärungen festgelegten Inhalte des neuen Mehrjahresprogramms hinsichtlich des erwarteten Zeitplans. Wann der Entwurf verabschiedet wird ist indes unklar.

Insgesamt stehen 170 Projekte auf der Agenda der nächsten fünf Jahre. Im Bereich Justiz, Grund- und Bürgerrechte will die Kommission etwa den Datenschutz in allen Politikbereichen verbessern, die Rechte von Angeklagten in Strafverfahren stärken und die gegenseitige Anerkennung rechtsverbindlicher Dokumente fördern. Online-Verkäufen soll ein optionales europäisches Vertragsrecht zugrunde liegen, die konsularischen Rechte von EU-Passinhabern sollen im Ausland gestärkt werden. Auch die "Data-Retention-Richtlinie" zur Speicherung von Verbindungsdaten soll bis Herbst überprüft und gegebenenfalls geändert werden.

Während die Kommission hierfür vermutlich Zustimmung erwarten kann, dürften die projektierten Maßnahmen im Bereich innerer Sicherheit und Polizeizusammenarbeit Migranten und Solidaritätsorganisationen, politische Aktivisten, Datenschützer und Bürgerrechtler gleichsam auf die Barrikaden bringen. Alle bestehenden EU-Polizeibehörden erhalten mehr Kompetenzen, ihre Zusammenarbeit wird nicht nur beim Datenaustausch weiter erleichtert. Der neue Rundumschlag soll den "gestiegenen grenzüberschreitenden Herausforderungen" Rechnung tragen:

We need to address all the common threats from terrorism and organised crime, to man-made and natural disasters. To be successful, this strategy needs to build on experience and lessons learnt. The time has come to assess our past approach, when the Union had to react to unexpected and tragic events, often on a case by case basis, and to capitalise on the new institutional set-up offered by the Lisbon treaty with a coherent and multidisciplinary approach.

EU-Kommission

Das "Stockholmer Programm" wird seit letztem Jahr durch die Vorbereitung einer Internen Sicherheitsstrategie flankiert. Zu deren Finanzierung will die EU-Kommission einen Fonds auflegen, um die Mitgliedsstaaten zur Unterstützung zu bewegen. Während die "Interne Sicherheitsstrategie" - ähnlich der militärischen Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) als politisches Konzept propagiert wird, liegt mit dem "Aktionsplan" nun ein konkreter Fahrplan für die europäische Innenpolitik bis 2014 vor.

"Anti-Terror-Maßnahmen" als Priorität

Die Kommission forciert ein generalisiertes System zum Informationsaustausch unter europäischen Verfolgungsbehörden, das ebenfalls in einem "Aktionsplan" ausformuliert werden soll. Die bestehenden Datenbanken und Plattformen werden demnach auf ihre Nützlichkeit und Effektivität überprüft. Auf Basis dieser Evaluation soll eine "kohärente Entwicklung" zukünftiger Systeme erfolgen, als deren Priorität "Anti-Terror-Maßnahmen" zugrunde liegen sollen. Mitgemeint sein dürfte vermutlich die gemeinsame IT-Agentur ("Agency for the operational management of large-scale IT systems"), die bereits ab 2012 operativ sein soll. Glücklich ist die Kommission in diesem Zusammenhang über den Lissabon Vertrag, der eine "beispiellose Gelegenheit" zur besseren Verschränkung von "Anti-Terror-Instrumenten" darstelle.

Bis 2011 will die Kommission einen Vorschlag unterbreiten, um den Datentausch zwischen den Agenturen Europol, Eurojust und Frontex zu intensivieren. Zur "Bekämpfung des Terrorismus" soll auch das Brüsseler Geheimdienstzentrum SitCen stärker eingebunden werden. Europol soll sich weiter in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik integrieren. Zudem soll die Behörde, die erst kürzlich neue Kompetenzen erhielt (Europol in der dritten Generation), eine "Alarmplattform" für "Cyberkriminalität" installieren. Ein Gesetzesvorschlag mit neuen Regelungen zur juristischen Handhabung entdeckter Attacken soll ebenfalls folgen.

Um die immensen polizeilichen Datenmengen einfacher zu verwalten veröffentlicht die Kommission demnächst einen Überblick zum Informationsaustausch unter den Verfolgungsbehörden. Das Papier wird spätestens 2014 ergänzt durch Empfehlungen zur besseren Zusammenarbeit von Zoll- und Polizeibehörden innerhalb der EU, das sowohl verdeckte Ermittlungen als auch nachrichtendienstlich inspirierte Polizeiarbeit ("Intelligence led policing") einschließt. Dem angestrebten europäischen Strafrechtsregister (ECRIS) folgt bis 2012 eine Machbarkeitsstudie zur Errichtung eines allgemeinen europäischen Kriminalaktennachweis (EPRIS), für dessen Initiierung sich das bayerische Innenministerium auf die Schulter klopft.

Schon nächstes Jahr will die Kommission Gesetzesvorschläge erarbeiten, mit denen die Europäische Union ein eigenes "Entry Exit System" [http://frontex.antira.info/2008/02/24/perfektion-des-grenzregimes-das-border-package-der-eu-kommission/] (EES) sowie ein Registered Traveller Programme (RTP) für ihre Außengrenzen errichten.

Über die Weiterentwicklung des Schengener Informationssystems SIS herrscht allerdings bis zum Treffen in Luxemburg weiter Uneinigkeit. Der jüngste, mit Spannung erwartete "Meilensteintest" des neuen SIS II ist aus Sicht fast aller Mitgliedsstaaten positiv verlaufen. Deutschland und Österreich hatten den Probelauf gefordert und bestehen nun zusammen mit Frankreich auf einer Qualifizierung als "negativ". Laut einem Vorbericht zum Rat der Justiz- und Innenminister habe der Vertragspartner Steria-Mummert "die an den Test gestellten Anforderungen signifikant verletzt und unterschritten". Die "K.O.-Kriterien" seien erfüllt worden, womit der Test automatisch als gescheitert gelte, da "das Vertrauen in die Gesamtleistung des Systems zerstört" sei. Deutschland will beim Ministertreffen auf eine "korrekte Testbewertung" drängen und für den Abbruch des Projekts plädieren. Dies liefe auf die ohnehin parallel betriebene Weiterentwicklung des alten SIS zum SISone4all hinaus. Der Kommissionsentwurf des "Aktionsplans" bleibt deshalb hierzu vage, "abhängig von der weiteren technischen Lösung" soll das System entweder bis 2011 oder 2013 in Betrieb gehen.

Transatlantische Datendeals

Noch in diesem Jahr will die EU ein endgültiges Abkommen zur Übermittlung von EU-Finanzdaten an die USA schließen (Datenaustausch mit den USA, Australien und Japan), das auch Bestimmungen über das Prozessieren der Informationen durch das US-Heimatschutzministerium enthält. Anhand der Finanztransaktionsdaten wollen die Behörden "Netzwerkverbindungen" und "Finanzierungsströme" erkennen.

Das bereits für letzten Herbst geplante "SWIFT-Abkommen" war vom EU-Parlament nach langen Auseinandersetzungen gekippt worden. Die Kommission verspricht, gegenüber den USA ein Datenschutzabkommen zu schließen, das kürzere Löschungsfristen vorsieht. Im Falle von Verletzungen des Datenschutzes wäre eine Kündigung möglich.

Ebenfalls bis Ende des Jahres soll auch der Vertrag zur Weitergabe von Fluggastdaten ("Passenger Name Records" - PNR) mit den USA eingetütet sein. Die Daten werden per Rasterfahndung auf Einträge in US-Datenbanken abgeglichen. Ein ähnliches Abkommen wird mit Australien vorbereitet. Laut US-Heimatschutz-Ministerin Janet Napolitano erfolgen ein Drittel aller Zurückweisungen auf Basis der 35 Datensätze des PNR.

Auch mit anderen "relevanten Drittländern" will die EU entsprechende Vereinbarungen treffen, die Kommission wünscht sich hierfür Vollmachten zur Verhandlungsführung und liebäugelt immer noch mit einem eigenen, EU-weiten PNR-System. Angestrebt wird noch dieses Jahr ein "Vorschlag eines gemeinsamen EU-Ansatzes". Die stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) regt indes eine Verschiebung der Entscheidung bis "mindestens Herbst" an, um ein Musterabkommen für "alle PNR-Übermittlungsbitten aus Drittstaaten zu erarbeiten".

Die PNR- und SWIFT-Abkommen standen Anfang April auf der Agenda des zweimal jährlich stattfindenden EU-US-Ministertreffens. EU-Vorsitz, Kommission und Ratssekretariat berieten mit der US-Delegation zuletzt allgemeine Fragen zum Datentausch, darunter das US-Visa-Waiver Programm für elektronische Reisegenehmigungen, sowie die Kooperation in Migrations- und Asylfragen, Cybersecurity und Cyberkriminalität.

Deutschland fordert EU-Datenbank für politische Aktivisten

Das deutsche Innenministerium rühmt sich, dass die deutschen Prioritäten "in den Verhandlungen zum Stockholmer Programm klar aufgezeigt und darin weitestgehend berücksichtigt" seien. Auf der Agenda des Ministertreffens in Luxemburg steht auch der "Europäische Pakt zur Bekämpfung des internationalen Drogenhandels", der nach seiner Diskussion beim letzten Ratstreffen zügig verabschiedet werden soll. Die deutsche Verhandlungsdelegation freut sich auch hier, gemeinsam mit Frankreich "die Verhandlungen zum Pakt maßgeblich mitgestaltet" zu haben.

Die Innenminister der Mitgliedsstaaten werden in Luxemburg überdies mit einem ausführlichen Bericht der österreichischen Delegation über den polizeilichen "europäischen Unterstützungseinsatz bei Fußball-EM 2008" und dessen Lehren aus der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland versorgt. Für die EM hatte das BKA eine "Informationssammelstelle Staatsschutz" eingerichtet, die ein tägliches Lagebild herausgab. Die österreichische Polizei wurde durch eine 31-köpfige Delegation der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) mit "szenekundigen Beamten" unterstützt. Mit dem Vortrag will Österreich die zu Grunde liegenden bilateralen Verträge sowie den Vertrag von Prüm als wegweisend für die weitere europäische Polizeizusammenarbeit herausstellen.

Allerdings dürfte es hier eher um konkrete Vereinbarungen zur zukünftigen polizeilichen Handhabung von "Mayor Events" wie Gipfeltreffen oder Sportereignisse gehen. Die Bundesregierung drängt darauf, eine europaweite "Störer-Datei" für Gipfeldemonstranten einzurichten ("Troublemaker" im Visier). Deutschland und Dänemark sind die einzigen Länder in der EU, die eine entsprechende Datensammlung führen. In der deutschen Datei "International agierende gewaltbereite Störer" (IgaSt) werden laut Bundesregierung politische Aktivisten abgelegt, gegen die im Rahmen früherer "Veranstaltungen mit Globalisierungsbezug" Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Gespeichert werden auch Referenten und Besucher von globalisierungskritischen Veranstaltungen im In- und Ausland oder Personen, die "im Inland als Globalisierungsgegner bekanntgeworden sind" und zu denen dem BKA "Erkenntnisse wegen Gewalttaten in der Vergangenheit vorliegen". Hierfür reicht eine einfache Kontrolle in der Nähe von Demonstrationen.

Im gestern öffentlich gewordenen "Aktionsplan" findet sich die innerhalb der EU höchst umstrittene Forderung, dass die Kommission bis 2012 Maßnahmen zum Informationsaustausch über "violent travelling offenders" unter Einbeziehung von Europol erarbeiten soll. Obwohl der Vorschlag immer wieder aus den verschiedenen Entwürfen des "Stockholmer Programms" gestrichen wurde, setzte das deutsche Innenministerium zuletzt seine Erwähnung durch. Nur Bulgarien, Estland und Lettland unterstützen den permanenten EU-weiten Zugang auf eine "Troublemaker"-Datei. Belgien, Litauen, Polen Schweden und die Slowakei sehen demgegenüber explizit keine Notwendigkeit für eine derartige politische Datensammlung.

Deutschland optiert für die Implementierung der Datei im Schengener Informationssystem. Laut Statewatch schlug die deutsche Delegation überdies vor, entsprechende Datensätze im SIS kenntlich zu machen "auch wenn dies mit nationalem Recht nicht kompatibel ist".