Ist die Tilgung der deutschen Staatsschulden möglich?

Ein erster Vorschlag

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In jeder Fernsehsendung, als Grafik im Internet begegnet sie uns: die Schuldenuhr. Fasziniert blicken wir auf den rasanten Anstieg der Schulden unseres Landes. Ein abstrakter Wert. Ein Zuwachs im virtuellen Raum. Aber was haben die Staatsschulden mit uns zu tun?

Ein Jahr vor der Finanzkrise schrieb Heiner Flassbeck, der ehemalige Staatssekretär von Oskar Lafontaine und heutige Chefvolkswirt der Genfer UNCTAD:

Das Beste wäre aber, neben die Schuldenuhr eine Uhr zu stellen, die den Vermögenszuwachs in jeder Sekunde in Deutschland misst. Unsere Topmanager wissen doch sonst so genau, dass man die Höhe von Schulden immer bewerten muss vor dem Hintergrund der vorhandenen Vermögenswerte.

Jede Unternehmensbilanz muss Aktiva und Passiva ins Gleichgewicht bringen. Schulden stehen Forderungen und Werte gegenüber. Die überall verbreitete Eurostat-Berechnung, auf der die Maastricht-Grenze basiert, kennt kein Haben. Das Bruttoinlandsprodukt, das zudem auch noch durch schuldenfinanzierte Kriege und Pensionszahlungen, durch Autounfälle und chronische Krankheiten künstlich aufgebläht wird, als Bemessungsfaktor zur Schuldenbeurteilung zu nehmen – die EU-16 Staaten sind offiziell mit 79% ihres BIP verschuldet – hat insbesondere politische Gründe: Es entsteht so der Eindruck, fehlendes Wachstum würde die Schulden erhöhen.

Damit stehen die Staaten unter Druck, ihr BIP künstlich hochzurechnen, wie etwa jüngst Frankreich unter Hilfe des Stiglitz-Reports, oder künstliches Wachstum auszuweisen, wie im Moment Deutschland, denn trotz Wachstum ist ja noch nicht die Vorkrisensituation wiederhergestellt.

Vor allem aber bleibt durch die BIP-Betrachtung und die Maastricht-Grenze der Begrenzung der Neuverschuldung auf 3% des BIP völlig im Dunkeln, welche Auswirkung die keynesianische Schuldenpolitik der Staaten auf die Entwicklung der Privatvermögen hat. Schließlich wurde zu allen Zeiten die Verschuldung der öffentlichen Hand damit begründet, Wirtschaftswachstum und damit steigenden Wohlstand zu stimulieren. Da aber in keiner noch so erfolgreichen Wachstumsphase auch nur 1 Euro getilgt wurde, hat sich folgende Bilanz ergeben:

Auch ein Laie kann an dieser Berechnung ablesen, dass das Ziel der öffentlichen Verschuldung, nämlich zunehmender Wohlstand, erreicht wurde: Um rund 80% stiegen die Geld- und Grundvermögen der Bundesbürger seit 1995. Man könnte denken, der erfolgreiche deutsche Staat profitiert nun von diesem Zuwachs, aber das Gegenteil ist der Fall: Der Anteil, den Firmen und Wohlhabende am Gesamtsteueraufkommen haben, ist von 37% im Jahr 1950 auf 16% im Jahr 2009 gesunken:

Dass die Gewinner der durch Staatsschulden stimulierten Wirtschaft immer weniger Steuern zahlen, wird allerdings erst dann wichtig, wenn man eine Tilgung der Schulden ernsthaft diskutiert. Wie Inge Klöpfer am 7.11.2010 in der Frankfurter Sonntagszeitung schrieb:

Irgendwann müssen die Schulden bezahlt werden. Das trifft die, die Geld haben. Heute schon landen die Staatsschulden als Wohltaten bei den Armen.

Stimmt das? 2009 wurden 21 Milliarden Euro von 524 Milliarden Euro Staatsbudget für Hartz IV aufgewendet, aber weit über 100 Milliarden für Bankenhilfen. Blickt man auf die Vermögensentwicklung in Deutschland und im Euroraum in den letzten 10 Jahren, ist die Bilanz eindeutig. Die Vermögen stiegen um ein Vielfaches schneller als die angeblichen Wohltaten für Arme:

Wenn man beginnt, zum Thema Tilgung der Staatsschulden zu recherchieren, wird man überrascht feststellen, dass es dazu in der Volkswirtschaft, bei den Wirtschaftsforschungsinstituten und in Regierung und Parteien keine Positionen gibt. Man könnte meinen, es gäbe Streit um die richtige Tilgungsart. Aber Tilgung ist ein No-go-Thema.

Warum? Sie stellt die angeblichen Prinzipien der Marktwirtschaft grundsätzlich in Frage. Selbst wenn man nämlich nicht glaubt, dass Staatsschulden durch ihre Zinsen selbst Teil eines Vermögensbildungsprogramms sind, führt jede betriebswirtschaftliche Betrachtung von Aktiva und Passiva des Staates zu der Notwendigkeit, über Kostendeckung nachzudenken. Wenn also ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen bisher unbesteuertem privaten Vermögenszuwachs und Staatsverschuldung besteht – der sicher von vielen Betroffenen geleugnet werden wird – dann ist eine Vermögensabgabe zumindest auf einen Teil des Zuwachses ohne Alternative.

Dass nämlich Ökonomen fatalistisch nur Währungsreform, Hyperinflation oder Krieg als marktbereinigendes Gewitter herbeisehnen, um die Tilgung zu vermeiden, basiert auf einem Ponzi-System. Sie drucken solange Geld, wie sie noch leben. Den Crash sollen künftige Generationen erleben. Dieses Handeln ist in der Umweltpolitik bereits massiv in Frage gestellt worden. In der Finanzpolitik ist es noch der Mainstream, der in Deutschland auch von der Wirtschaftspresse getragen wird. Harald Schmidt, Redakteur der dpa in Frankfurt, war derart wütend, als er die Berechnungen des Basel Institute of Commons and Economics erhielt, dass er sich weigerte, die Zahlen auch nur zu kommentieren. Ähnlich reagierten die Wirtschaftschefs Rainer Hank von der FAZ und Nikolaus Piper von der SZ.

Tilgung als Tabu? Das klingt paradox und stellt die Finanzwirtschaft insgesamt in Frage. Strebt die unsichtbare Hand der Finanzwirtschaft tatsächlich nach der produktiven Zerstörung aller Werte? Wenn dem so wäre, ist die Tilgung der deutschen Staatsschulden das Gebot der Stunde.

Bereits 884 Milliarden Euro der deutschen Staatsschuld werden Gläubigern im Ausland geschuldet, überwiegend große Pensionskassen im angelsächsischen Bereich, die offensichtlich der Stabilität ihrer eigenen Finanzwirtschaft nicht mehr vertrauen. Wenn sie wanken, werden sie deutsche Staatsanleihen en masse auf den Markt werfen. Dann werden die deutschen Zinsen auf griechisch-irisches Niveau steigen und anstatt derzeit rund 60 Milliarden Jahreszins werden die Deutschen 120 oder 240 Milliarden bezahlen – und damit den gesamten Staatshaushalt der Bundesrepublik Deutschland bei den Gläubigern abliefern.

Damit es soweit nicht kommt, hat das Basel Institute of Commons and Economics sich von der Finanzagentur der Bundesrepublik Deutschland die Laufzeiten und Zahlen zur Marktreserve der deutschen Staatsanleihen geben lassen. Sie bilden die Basis für einen Tilgungsplan:

Vorschlag: Freiwillige Tilgungsinitiative der Bürgerinnen und Bürger

Die Tilgung hat eine gesetzliche Seite, die in der Bestimmung eines weit zurückliegenden Stichtages zur Bemessung der Vermögen besteht. Diese werden dann mit einer Zwangsanleihe belegt, die zumindest gegenwärtig von den historisch niedrigen Zinsen profitiert. Dadurch ist kein Vermögensinhaber gezwungen, sein Vermögen zu liquidieren und damit zu einem Werteverfall beizutragen. Bei einer Abgabe von 100.000 Euro betrüge der gegenwärtige Zinssatz etwa 2%, das heißt, der Vermögensbesitzer müsste dafür 2.000 Euro Zinsen jährlich bezahlen.

Dass der Gedanke einer Vermögensabgabe nicht nur ein Relikt sozialistischer Umverteilungsideologie ist, zeigt der Appell für eine Vermögensabgabe, mit der eine Gruppe von Wohlhabenden an die Öffentlichkeit getreten ist. Dort sollten Aufgaben, die der Staat nicht mehr finanzieren kann und will, durch die Abgaben auf Vermögen ermöglicht werden.

Kleine Zwischeninformation: 80% der Vermögen liegen in Haushalten mit einem monatlichen Nettomonatseinkommen von über 4.500 Euro.

Es ist sinnvoll, die zwanzigprozentige Vermögensabgabe, mit der die gesamten deutschen Staatsschulden innerhalb von 10 Jahren fast vollständig getilgt werden, mit einer Aktie zu vergleichen. Viele Aktien verlieren in ihrem Kursverlauf auch 20% ihres Wertes. In der Regel sind die Gewinner immer diejenigen, die die Aktie über diese Kursdelle hinaus halten.

Es ist aber in der deutschen Demokratie bei der gegenwärtigen Politikmüdigkeit weder möglich noch sinnvoll, die Tilgung nur als eine Aufgabe der Parlamente und der Regierung anzusehen, in die viele Bürger kein Vertrauen mehr haben. Bei Stuttgart 21 und Castor zeigen Bürger, dass sie ihr Sozialkapital mobilisieren können. Warum nicht auch in einer Tilgungsinitiative zur Tilgung der deutschen Staatsschulden? Dann könnten auf ein Tilgungskonto nicht nur Begüterte, sondern auch Schüler, Studenten, Rentner und Arbeitslose kleine Beträge einzahlen.

Mit dieser Zahlung gewinnen sie ihre Würde als Bürger der Bundesrepublik Deutschland zurück und leisten ihren Beitrag dazu, aus dem Ponzi-Scheme der internationalen Finanzmärkte auszubrechen. Am Ende werden sich alle freuen, wenn 60 Milliarden Zinszahlungen zur Senkung der Lohnsteuer und der Krankenversicherung beisteuern können.

Dr. Alexander Dill ist nach 10 Jahren in der Softwareindustrie 2009 in seinen gelernten Beruf als Soziologe zurückgekehrt. Er leitet das nach der Finanzkrise gegründete Basel Institute of Commons and Economics, dessen Schwerpunkt auf der Berechnung von Sozialkapital und Gemeingütern liegt.