Die Hinterlassenschaft des Autokraten

Tunesien: Die Schergen des Ben Ali-Regimes und dessen politischer Apparat gegen den neuen Geist im Land

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Der Despot ist weg, sein politischer Machtapparat ist noch da und seine Schergen. Sie schießen, wie berichtet wird, aus Autos, Zeugenaussagen nach sogar aus Ambulanzfahrzeugen, prügeln, plündern. Das soll der Bevölkerung vor Augen führen, dass sich nun bewahrheitet, womit Tyrannen immer drohen und ihre Herrschaft legitimieren: „Ich stehe für die Ordnung, ohne mich herrscht Chaos und Terror. Mit mir ist es besser.“ Andere Autokraten wie der lybische Staatsführer Gadaffi stehen treu zu Ben Ali und zu solchen Diktatorprinzipien. Tunesien habe einen großen Verlust erlitten, mit Ben Ali sei es besser gewesen, wird Gaddafi zitiert.

Zeugenberichten zufolge wurde auch ein Neffe des gestürzten Präsidenten festgenommen. Kaïs Ben Ali sei mit zehn weiteren Menschen von der Armee im zentraltunesischen Msaken gefasst worden. Die Sicherheitskräfte seien alarmiert worden, da die Verdächtigen in Polizeifahrzeugen durch die Gegend gerast seien und wild um sich geschossen hätten, um Panik auszulösen.

Spiegel Online

Die Angst in den Straßen der Hauptstadt Tunis sei deutlich spürbar, meldet die Korrespondentin von al-Jazeera. Bewohner würden zur Selbstverteidigung Nachbarschaftsgruppen bilden, sich verbarrikadieren und bewaffnen. Französische und britische Medien bestätigen diese Beobachtungen. Entscheidend ist, wie sich die Armee weiter verhält. Die Umstände verschärfen sich durch eine Lebensmittelknappheit.

Wehrpflichtarmee und Hoffnungen

Zum Glück, so ist öfter zu lesen, besteht die Armee aus Wehrpflichtigen und steht dadurch der Bevölkerung näher, wie sie sich auch in der Vergangenheit widerspenstig gegenüber Kontrollversuchen Ben Alis zeigte. Doch selbst wenn die Armee in den letzten Tagen das Vertrauen der Bevölkerung in sie dadurch bestätigte, dass sie gegen die Polizeischergen und Milizen des Ben Ali-Herrschaftsapparats vorging und dabei gewalttätige Konflikte und Verhaftungen nicht scheute, so geben sich manche Stimmen aus dem Lager der Zivilorganisationen doch vorsichtig und besorgt: Man wisse nicht genau, wie die Machtverhältnisse in der Armee aussehen.

Mit kreisenden Helikoptern im Himmel über den großen Städten und Patrouillen in den Straßen versucht die Armee die Situation zu kontrollieren und den Terror in Schach zu halten, den mutmaßlich vor allem der Ben Ali loyale Sicherheitsapparat ausübt. Gerüchten und schwer zu verifizierbaren Quellen zufolge (siehe etwa hier)habe Ben Ali „vorgesorgt“ für die Zeit nach der Flucht und mehrere hundert Fahrzeuge mit Waffen bereitstellen lassen, Vehikel für die Verbreitung von die Angst und Unsicherheit.

Von drei unterschiedlichen bewaffneten Gruppen spricht die Korrespondentin von Al-Jazeera: Polizei, Sicherheitskräfte aus dem Innenministerium und irreguläre Milizen. Insgsamt 250.000 Mann sei die Polizei in Tunesien stark.

Doch sehen sich jene, die für ein neues Tunesien eintreten, auch einer anderen übermächtigen Machtbastion gegenüber - der Partei des Präsidenten, der RCD, mit Büros und Machtfilialen, die das ganze Land überziehen, mit unzähligen Lokalzellen und “Stasieinheiten“ - siehe dazu den aufschlussreichen Bericht "In Tunisia, Ben Ali was 'big brother'":

But his most lasting stamp on the country may be the RCD, which had 200,000 official members...Over the years, the RCD opened offices in every neighborhood of every village and every city.

Borzou Daragahi

In 60 Tagen wird der neue Präsident gewählt. Da bleibe nicht viel Zeit, um dem alten eingespielten politischen Apparat neue Kräfte entgegenzusetzen, wird in der Protestbewegung beklagt. Ob in Tunesien tatsächlich eine „Revolution“ stattfand, die über ihr erstes Ziel hinauskommt, wird sich erst zeigen.

Medien und soziale Proteste in arabischen Ländern

Dass das Wort von der „Twitterevolution“ die Realität simplifiziert, stellt der amerikanische Experte für Einwicklungen in der arabischen Öffentlichkeit, Marc Lynch heraus. Der Autor des 2006 erschienen und in Fachkreisen weit beachteteten Buches über die Stimmen der “New Arab Public“ macht dabei seine Beobachtungen geltend, wonach al-Jazeera und andere TV-Sender mit ihrer Berichterstattung und ihrer Debattenkultur den Boden erst bereitet haben für einen fundamentalen Wandel der Öffentlichkeit, den Lynch schon 2003 diagnostizierte (siehe dazu USA vs. Demokratie "Arab Style").

Erst in diesem Kontext hätten die neuen Kommunikationskanäle wie Twitter und soziale Netzwerke ihre Wirkung entfalten können. Nicht nur dass Al-Jazzera Bilder, Berichte, „user generated content“, erst in eine größere, Staatsgrenzen überschreitende, relevante Öffentlichkeit bringt, die jahrelange Vorarbeit von Al-Jazeera et al. habe den neuen “Rahmen“, das Narrativ für arabische Reformen und Defizite in der gegenwärtigen Realität hergestellt und damit auch den Passepartout, wie politische Ereignisse von einem neuen Publikum begriffen werden.

Al-Jazeera and the new media ecosystem did not only spread information - they facilitated the framing of the events and a robust public debate about their meaning. Events do not speak for themselves.

For them to have political meaning they need to be interpreted, placed into a particular context and imbued with significance. Arabs collectively understood these events quite quickly as part of a broader Arab narrative of reform and popular protest - the "al-Jazeera narrative" of an Arab public challenging authoritarian Arab regimes and U.S. foreign policy alike.

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