Nieren aus dem Kosovo

Führung der serbischen Ex-Provinz soll in Organhandel verstrickt sein. Beweise verschwanden. Nun ermitteln die EU-Verwalter - aber nur widerwillig

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Nur unwillig und erst nach massiven Druck des Europarates hat die Rechtsstaatlichkeitsmissionen der Europäischen Union im Kosovo (EULEX) Ermittlungen gegen den Regierungschef und ehemaligen Kommandanten der paramilitärischen Organisation UÇK, Hashim Thaci, aufgenommen. Die EULEX folgte damit Ende vergangener Woche der expliziten Aufforderung der parlamentarischen Versammlung des Europarates wegen wieder aufgekommener Vorwürfe, Thaci sei in Organhandel verstrickt gewesen.

Das Gremium bestärkte mit der Entschließung den Bericht seines Mitglieds, des Schweizer Abgeordneten und Juristen Dick Marty. Ob die Nachforschungen der EULEX-Staatsanwälte zu einem Ergebnis führen, ist jedoch fraglich. Zu Beginn des Verfahrens forderten die EU-Rechtshüter von Marty die Beweise an, ohne zunächst selbst investigativ tätig zu werden. Thaci lässt sich indes nicht allzu sehr beeindrucken. Er bildete Ende Januar eine Regierung unter Führung seiner Partei PDK.

Dabei hätte der Marty-Bericht für den 42-Jährigen zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Nur fünf Tage nach den ersten Parlamentswahlen im Kosovo seit der Loslösung von Serbien war der Schweizer Europarat-Abgeordnete Mitte Dezember in Paris vor die Kameras getreten, um seinen knapp 30-seitigen Bericht vorzustellen. Und der hatte es in sich: Thaci sei während des Bürgerkrieges 1998 und 1999 an kriminellen Strukturen beteiligt gewesen, die unter anderem in Drogen- und Organhandel verstrickt waren. Serbischen Gefangenen der paramilitärischen Organisation UÇK und kosovo-albanischen Gegnern der Milizen seien Organe entnommen worden, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.

Schwere Vorwürfe erhob der liberale Politiker gleich auch gegen die Verantwortlichen in der EU. Sie hätten seit Jahren von den mutmaßlichen Verbrechen gewusst, unter Rücksicht auf die außenpolitischen Ziele auf dem Westbalkan aber geschwiegen. Entsprechend konterte Marty nun auch auf die Kritik aus der EU. "Die, die jetzt wie Ziegen auf ihre Stühle springen und 'Beweise, Beweise' blöken, die würde ich gerne fragen: Warum habt ihr das nicht schon früher getan?", zitiert der ARD-Korrespondent Martin Durm den streitbaren Juristen und Politiker: "Warum war euch euer Opportunismus wichtiger als Gerechtigkeit und elementare Menschenrechte, die ihr doch in euren Reden immer wieder für euch reklamiert?"

Vorwürfe gegen "die Schlange" Thaci seit Jahren bekannt

Natürlich weiß in Brüssel und in den EULEX-Büros jeder von der obskuren und womöglich blutigen Vergangenheit des umstrittenen Regierungschefs. Der von Washington und Brüssel protegierte Thaci war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre an der Gründung der UÇK beteiligt. Vor Beginn des Kosovo-Krieges waren seine Einheiten für Überfälle auf Polizeieinheiten in der damals südserbischen Provinz verantwortlich. Während des Separationskrieges 1998 stieg Thaci unter dem Decknamen "Gjarpni" (Die Schlange) in den Führungsstab der Milizen auf und befehligte mehrere hundert Paramilitärs in der heutigen Region Malisheva im Südwesten des Kosovos.

Die Vorwürfe, nach denen Thaciin dieser Zeit mafiöse Strukturen aufgebaut hat, sind nicht neu. Aber Marty - Mitglied der Liberalen Partei und ehemaliger Staatsanwalt des Kantons Tessin - führt eine Reihe neuer Spuren und Indizien an, die für den ersten Ministerpräsidenten des Balkanstaates gefährlich werden könnten. Unter Berufung auf Zeugenaussagen und ehemalige Mitstreiter zeichnet der Jurist Route und Methode des Organraubes nach. Thaci habe damals als führendes Mitglied der sogenannten Drenica-Gruppe Gefangene der Milizen in das benachbarte Albanien verschleppen lassen. In vier Häusern seien die Geiseln mit einem Kopfschuss hingerichtet worden, um ihnen umgehend die Organe, vor allem Nieren, zu entnehmen. Diese seien dann über den Airport der Hauptstadt Tirana ausgeflogen worden.

Neben Zeugenaussagen stützt sich Marty in seinem Bericht auf geheimdienstliche Erkenntnisse, zu denen er Zugang hatte. Der deutsche BND, der italienische SISMI, Großbritanniens MI5 und der griechische EYP hätten Thacis Aktivitäten beobachtet. Nachdem die NATO den Kosovo-Krieg mit massiven Luftschlägen zugunsten der Rebellen entschieden hatte, sei der heutige Regierungschef in den Geheimdienstberichten als einer der gefährlichsten Mafia-Bosse bezeichnet worden. Tatsächlich laufen gegen den Transportminister Fatmir Limaj derzeit ebenso strafrechtliche Ermittlungen wie gegen den Funktionär von Thacis PDK-Partei, Azam Syla.

Zuspruch von Ex-Chefanklägerin Carla del Ponte

Dennoch reagierten die EU-Verantwortlichen zunächst mit Vorbehalten auf die neuen Indizien zum Organhandel. Das erklärte Ziel in Brüssel ist, die Lage in dem Kleinstaat auf dem Balkan zu beruhigen, wenngleich die Widersprüche größer werden. Auch nach dem Votum der parlamentarischen Versammlung des Europarates zeigten sich die Verantwortlichen vor Ort reserviert. Die in dem Bericht aufgeführten Indizien reichten für die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens nicht aus, erklärte EULEX-Sprecherin Karin Limdal Mitte Dezember. Gut einen Monat später eröffnete man das Verfahren zwar, forderte aber Beweise an, um es fortzuführen. Marty weist dies zurück. Nach dem Mord mehrerer Zeugen müsse er seine Informanten schützen.

Dabei drängt auch die Ex-Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, Carla del Ponte, auf Nachforschungen. Diese Ermittlungen dürften jedoch nicht von Behörden im Kosovo oder in Albanien geleitet werden, sagte die heutige Schweizer Botschafterin in Argentinien: "Die haben ja schon gesagt, dass alle unschuldig sind."

Tatsächlich waren Nachforschungen des Tribunals unter Del Pontes Führung auch daran gescheitert, dass Albanien die Zusammenarbeit verweigerte. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit sicherte Regierungschef Sali Berisha Mitte Dezember seine Kooperation zu. Damit könnte immerhin Bewegung in den Fall kommen, den einige ungeklärt lassen wollen. Am Ende ihrer Amtszeit am Jugoslawien-Tribunal sei sie "erschüttert" gewesen, so Del Ponte, dass Beweismittel aus den Ermittlungen gegen die mutmaßliche Organ-Mafia verschwunden sind. "Blutproben, Lappen und Fotos" aus einem der Häuser in Albanien seien verschwunden, mögliche Zeugen wurden ermordet.

Dass die Thaci-Anhänger nach wie vor nicht zimperlich sind, beschreibt ARD-Mann Durm aus Strasbourg in einer Szene über Proteste während der letzten Pressekonferenz Martys vergangene Woche. Rund 100 Personen hatten sich demnach vor dem Gebäude versammelt. "Dick Marty, dieser Hurensohn, den haben doch die Serben bezahlt. Wenn du Dick Marty siehst, sag ihm, ich warte hier auf ihn. Ich bring ihn um. Der so Geschmähte betrat das Gebäude wenig später durch einen Seiteneingang.