"Yang ohne Yin"

Interview mit Jens Jürgen Korff über die Aussagefähigkeit von Statistiken und ihre politische Funktion

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Die Politik legitimiert regelmäßig weitreichende Entscheidungen, die gegen die Bevölkerungsmehrheit gerichtet sind, mit Hilfe von statistischen Erhebungen, die objektive Sachzwänge suggerieren. Dabei sind gerade Statistiken mit einfachen Tricks dazu angetan, die Aussagen unterschiedlichsten Interessengruppen zu bestätigen und ihre Interpretationswünsche zu erfüllen. Mit ihrem Buch Lügen mit Zahlen stellen der Statistiker Gerhard Bosbach (der jahrelang im Statistischen Bundesamt tätig war) und Jens Jürgen Korff diese Tricks vor und zeigen auf, welche Interessen dabei bedient werden. Telepolis sprach darüber mit dem Historiker, Politiker und Werbetexter Jens Jürgen Korff.

Herr Korff, ihr mit Gerd Bosbach verfasstes Buch trägt den Untertitel Wie wir mit Statistiken manipuliert werden. Wie werden wir denn mit Statistiken manipuliert? Was sind die beliebtesten Tricks? Wie häufig kommt das vor?

Jens Jürgen Korff: Eine beliebte Methode haben wir Yang ohne Yin genannt: Man unterschlägt uns eine wichtige Seite des Zusammenhangs. Ein Ministerpräsident nennt zum Beispiel die Zahl der neu eingestellten Lehrer und unterschlägt, wie viele Lehrer im gleichen Zeitraum ausgeschieden sind. Eine andere Methode wurde benutzt, um den Eindruck zu erwecken, als hätten südkoreanische Konzerne am meisten von der Abwrackprämie profitiert.

Dazu hat man die prozentuale Steigerung des Absatzes gegenüber dem Vorjahr angegeben, und siehe da: Hyundai hatte seinen Absatz, prozentual gesehen, am stärksten gesteigert. In absoluten Zahlen jedoch waren VW und Opel die Hauptprofiteure der Abwrackprämie. Das heißt, man gibt mal die absoluten, mal die relativen Zahlen an, je nach dem, welche gerade besser ins Konzept passen.

Vorsortierte Stichproben kommen oft vor, zum Beispiel bei sämtlichen Online-Umfragen. Oder die beliebten Trendfortschreibungen: Man verlängert einen Trend, den man, sagen wir, über fünf Jahre beobachtet hat, einfach für die nächsten 50 Jahre. Bei den Grafiken wird gerne getrickst nach dem Motto: Ein Bild lügt schneller als tausend Zahlen. Etwa so: Die y-Achse eines Diagramms beginnt nicht bei 0, sondern bei einem hohen Wert, wodurch kleine Veränderungen optisch riesengroß wirken.

Welchen Einfluss haben wirtschaftliche und politische Interessen auf die Statistiken?

Jens Jürgen Korff: Solche Interessen beeinflussen vor allem, welche Statistiken in der Öffentlichkeit dargestellt werden, wie sie dargestellt und wie sie interpretiert werden. Die Erhebung der Daten selbst ist zwar nicht über Zweifel erhaben, aber meist vergleichsweise wenig beeinflusst.

Keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen

Können Sie uns besonders gravierende Beispiele nennen, mit denen politisch Stimmung gemacht wird und zum Beispiel der Sozialabbau legitimiert wird?

Jens Jürgen Korff: Gerne! Die Entwicklung der Sozialausgaben des Staates wird meist in einer Zeitreihe mit absoluten Zahlen angegeben, oft noch mit einer Grafik, bei der die y-Achse nicht bei 0 beginnt. Das sieht dann nach einem dramatischen Anstieg aus. Man verschweigt dabei, dass zum Beispiel die Urlaubsausgaben der Deutschen in der gleichen Zeit ähnlich stark gestiegen sind, und dass der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt schon seit vielen Jahren stagniert.

Ganz ähnlich sieht es bei der so genannten Kostenexplosion im Gesundheitswesen aus: Auch der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt ist in den letzten Jahren nur sehr geringfügig gestiegen und zuletzt sogar wieder etwas gesunken. In Wirklichkeit hat es also überhaupt keine Kostenexplosion gegeben. Solche Darstellungen sollen begründen, weshalb Sozialleistungen abgebaut oder Teile der Gesundheitsausgaben auf die Kranken abgewälzt werden. Äußerst fragwürdige Bevölkerungs- und Rentenprognosen dienen dazu, die gesetzliche Rentenversicherung zu delegitimieren und Propaganda für private Rentenversicherungen zu machen.

Wer gibt solche Statistiken in Auftrag?

Jens Jürgen Korff: Die Statistik zu den Sozialausgaben wird vom Statistischen Bundesamt erstellt. Das gleiche Amt gibt auch den Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt an. Wenn eine Zeitungsredaktion nur die eine Statistik veröffentlicht, ist das deren Entscheidung. Allerdings gibt auch das Bundesamt gerne eine gewünschte Sichtweise durch die Formulierung von Überschrift und Einleitung vor. Statistiken zur angeblichen Kostenexplosion im Gesundheitswesen wurden unter anderem von der Deutsche Bank Research veröffentlicht. Für eine abstruse Rentenprognose, die wir im Buch auseinandernehmen, zeichnet die von Meinhard Miegel geführte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft verantwortlich, die wiederum vor allem vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall finanziert wird.

Warum wird gegen solche Statistiken nichts unternommen?

Jens Jürgen Korff: Es wird schon etwas dagegen unternommen. Gerd Bosbach zum Beispiel kritisiert schon seit 2004 die gängigen Bevölkerungsprognosen und seit 2007 die Darstellung der Gesundheitskosten. Auch meine Gewerkschaft Ver.di ist da aktiv, und sogar die früheren Gesundheitsminister Horst Seehofer und Ulla Schmidt haben darauf hingewiesen, dass es keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gibt. Leider scheinen bislang diejenigen publizistisch stärker gewesen zu sein, die eine Kostenexplosion unbedingt für ihre politische Argumentation brauchen. Dazu kommt, dass viele Medien einen starken Bedarf an möglichst dramatischen Darstellungen haben. Da haben es Leute schwer, die sagen: Da ist doch gar nichts.

Aber die Krankenkassen haben doch tatsächlich ein Finanzierungsproblem - oder nicht?

Jens Jürgen Korff: Das haben sie, in der Tat. Doch jede Finanzierung hat zwei Seiten: die Einnahmen und die Ausgaben. Bei den Krankenkassen sind es vor allem die Einnahmen, also die Beiträge der gesetzlich versicherten Beschäftigten, die Probleme machen, weil sie schon seit vielen Jahren langsamer steigen als die Ausgaben und langsamer als das Bruttoinlandsprodukt. Dieser Aspekt wird uns meist verschwiegen; ein typischer Fall von Yang ohne Yin. Ursache dafür sind unter anderem die hohe Arbeitslosigkeit und die Niedriglöhne vieler Beschäftigter.

Genaue Zahlen bei längerfristigen Prognosen sind immer gelogen

Wie kann man manipulierte Statistiken erkennen?

Jens Jürgen Korff: Das ist oft gar nicht so schwer. In unserem Buch finden Sie eine Checkliste, mit deren Hilfe Sie als kritischer Zeitungsleser zahlreiche Manipulationen erkennen können. Schauen Sie zum Beispiel bei einer Grafik, wo die y-Achse beginnt. Wenn Sie eine Trendlinie sehen, schauen Sie nach, auf wie vielen Werten sie beruht. Liegen die Daten zur Grafik auch als Tabelle vor? Wenn nein, warum nicht?

Genaue Zahlen bei längerfristigen Prognosen und bei Größen, die niemand genau kennen kann, sind immer gelogen. Wenn Sie absolute Zahlen haben, überlegen Sie, ob die relativen nicht sinnvoller wären, und fragen nach den relativen Zahlen. Genauso umgekehrt. Bei Prozentzahlen schauen Sie immer genau nach: Prozent von was? Was ist die Bezugsgröße? Bei allen Prognosen schauen Sie nach, wie weit die Entwicklung in die Vergangenheit zurückverfolgt wurde. Kann man überhaupt so weit in die Zukunft sehen, wie dort behauptet wird?

Gehen Sie zum Vergleich einmal ins Jahr 1970 zurück und überlegen Sie, was man damals vom Jahr 2010 überhaupt wissen konnte. Warum sollten wir heute mehr vom Jahr 2050 wissen? Und schließlich gilt es bei sämtlichen Statistiken nachzusehen, wer sie in Auftrag gegeben hat und welche Interessen derjenige wohl damit verfolgt.

Welchen Erkenntniswert haben generell statistische Prognosen?

Jens Jürgen Korff: Das kommt auf den Zeithorizont der Prognose und auf die Schwankungsbreite der untersuchten Größe an. Eine Wetterprognose zum Beispiel ist für die nächsten drei Tage sinnvoll; für die Zeit danach nimmt ihr Erkenntniswert drastisch ab. Eine Prognose des Wirtschaftswachstums mag für die nächsten zwei Monate einigermaßen zuverlässig sein. Schon die üblichen Jahresprognosen liegen oft drastisch daneben, weil im nächsten Jahr immer irgendetwas passiert, dass niemand vorhersehen konnte. Eine Bevölkerungsprognose kann für die nächsten 25 Jahre noch einigermaßen sinnvoll sein; danach ist es Kaffeesatzleserei.

Keine Kultur des Umgangs mit ungenauen Zahlen

Was ist der Unterschied zwischen einer manipulierten und einer seriösen Statistik?

Eine seriöse Statistik gibt bei Größen, die man nicht messen kann, keine genauen Zahlen an, sondern eine Schätzung mit Schwankungsbereich. Eine längerfristige Prognose gibt, wenn sie seriös ist, immer verschiedene Szenarien an, und gestattet immer einen entsprechend weit reichenden Blick in die Vergangenheit. Seriöse Statistiken etwa zu wirtschaftlichen Größen geben immer sowohl die absoluten als auch sinnvolle relative Zahlen an.

Keine genauen Zahlen? Wer soll so etwas ernst nehmen?

Jens Jürgen Korff: Das ist das Problem. Viele neigen dazu, genauen, aber gelogenen Zahlen zu glauben und ungenauen, aber seriösen Schätzungen zu misstrauen. Wir haben offenbar noch keine Kultur des Umgangs mit ungenauen Zahlen, unscharfen Größen und einer ungewissen Zukunft entwickelt. Diesem eher philosophischen Aspekt habe ich auch einen Exkurs im Buch gewidmet.

Kann es objektive Statistiken überhaupt geben?

Jens Jürgen Korff: Nein - oder vielleicht doch? Insofern nicht, als jede Statistik immer nur einen kleinen, ausgewählten Teil der Wirklichkeit beschreibt, und dieser Auswahl liegt immer Willkür bzw. ein ganz bestimmtes Interesse zu Grunde. Insofern doch, als jede Statistik diese Beschränkung transparent machen kann, anstatt sie zu verschleiern.

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