"Was soll man von solchen Politikern erwarten?"

Die Besetzungen in Spanien haben mit dem brutalen Räumungsversuch eine neue Dynamik erhalten

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Seit mehr als zwei Wochen sind in Spanien die zentralen Plätze vieler Städte von Menschen "ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension und ohne Angst" besetzt. Nach ersten Versuchen, die Proteste im Keim zu ersticken, scheiterte am vergangenen Freitag der erste Versuch nach den Wahlen vom 22. Mai, Protestcamps in der katalanischen Metropole Barcelona und in der katalanischen Stadt Lleida (spanisch Lerida) mit Polizeigewalt zu räumen. Telepolis sprach mit Milo Andersen (Name geändert und der Redaktion bekannt), ein Besetzer der ersten Stunde in Barcelona, über die Entstehung, das Selbstverständnis und die Perspektiven der "Empörten".

Viele hat es erstaunt, dass es plötzlich in Spanien eine so große Bewegung entstanden ist, die zudem Durchhaltevermögen beweist. Wie erklärt sich die Demokratiebewegung dieses plötzliche Aufbegehren?

Milo Andersen: Zunächst möchte ich auf die Heterogenität dieser Bewegung hinweisen, die sich nicht wirklich selber definiert, weshalb wir hier in Barcelona auch keine Sprecher haben, die uns nach außen vertreten. Ich bin deshalb nur ein Besetzer wie jeder andere auch und kann nur über die Debatten berichten und meine persönliche Einschätzung abgeben. Die offiziellen Beschlüsse der riesigen Versammlungen werden für alle öffentlich in unserem Blog veröfentlicht.

Fakt ist aber, dass die Proteste mit den Demonstrationen am 15. Mai begannen haben, zu denen die Plattform Wahre Demokratie Jetzt in mehr als 50 Städten des Landes aufgerufen hatte. Das ist eine Gruppe aus Einzelpersonen, hinter denen weder eine Partei, Gewerkschaft oder irgendeine andere Organisation steht. Viele Leute entschieden sich nach dem Marsch spontan, auf dem zentralen Madrider Platz - La Puerta del Sol – zu bleiben. Sie wollten ihren Unmut nicht einfach wieder mit nach Hause nehmen, sondern die geballte Empörung über die Zustände, ähnlich wie in Tunesien oder Ägypten, auch dauerhaft ausdrücken. Das Beispiel hat schnell im ganzen Land und weit darüber Schule gemacht.

Wir haben keine Lösung für die Probleme dieser Welt

Vor den Wahlen am 22. Mai wandte sich die Demokratiebewegung stark gegen die beiden großen Parteien. Es wurde von einer "Zweiparteiendiktatur" der "PPSOE", also der konservativen Volkspartei (PP) und den regierenden Sozialisten (PSOE) gesprochen, die man beide nicht wählen sollte. Warum?

Richtig gestellt werden muss, dass wir keine Wahlboykott-Initiative waren. Das war auch überhaupt keine offizielle Position der Besetzer, auch wenn das in den Protesten oft auftauchte. Doch die richten sich gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik, für die eben diese beiden Parteien verantwortlich gemacht werden und damit das Land tief in eine Krise getrieben haben. Banken und Unternehmen werden gestützt, die für die Krise verantwortlich sind. Ihre Opfer sollen nun auch noch dafür bezahlen: Millionen, die ihren Job und viele dazu noch die Wohnung verloren haben. Ihre Löhne und Renten werden gesenkt und Sozialleistungen gestrichen, etc. Die Krönung ist, dass Banken Milliarden bekommen und der Staat erhält nichts als Gegenleistung für das Geld. Sie sollen es nicht einmal zurückzahlen, falls sie wieder Gewinne machen.

Was fordert ihr?

Milo Andersen: Wir fordern als Bewegung nichts konkret, weil wir keine Organisation sind. Wir wollen auch kein Manifest herausgeben. Wir wollen zusammenkommen, unsere Empörung über die Zustände ausdrücken und uns darüber austauschen, wie man die Lage im Land verbessern und zu einer wirklichen Demokratie und zu einem vernünftigen ökonomischen System kommen könnte. Man kann von uns in zwei Wochen sicher keine Lösungsansätze oder greifbare Alternativen verlangen. Gut bezahlte Politiker versagen sogar mit ihrer riesigen Infrastruktur daran seit Jahren. Und wir haben keine Lösung für die Probleme dieser Welt.

Das Problem ist das politische System

Vielleicht stelle ich die Frage einmal anders herum. Wo seht ihr die zentrale Probleme und Kritikpunkte?

Milo Andersen: Ein großes Problem ist das politische System an sich. Es hat sich professionalisiert, aber im negativen Wortsinn. Es dient nicht dem Volk, sondern den eigenen Interessen der politischen Klasse und den Lobbys der Mächtigen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Rente. Politiker bekommen schnell eine gute und hohe Rente und ihre Bezüge werden stets erhöht. Wir sollen nun aber bis 67 Jahre arbeiten und dazu wurde der Berechnungszeitraum ausgeweitet. Wo man arbeiten soll, ist natürlich die große Frage bei einer Arbeitslosenquote von 21%. Dazu sollen wir auch immer geringere Renten und Löhne bekommen. Die Krise, für die die Reichen verantwortlich sind, sollen also deren Opfer bezahlen, anstatt die Verantwortlichen dafür auch zur Verantwortung zu ziehen.

Dann ist da natürlich auch die Schwierigkeit, sich überhaupt demokratisch artikulieren zu können. Da könnte man zum Beispiel das Parteiengesetz und das Wahlrecht nennen, die den beiden großen Parteien Vorteile verschaffen. Im Verhältnis zu kleineren Parteien erhalten sie mit weniger Wählerstimmen mehr Abgeordnete und auch eine besser Finanzierung, womit sie ihre Vormachtstellung wiederum absichern.

Wie ist euer Verhältnis zu den spanischen Gewerkschaften, die ja bisweilen sogar zum Generalstreik aufrufen. Deshalb hat man in Deutschland auch den Eindruck, dass sie deutlich radikaler die Interessen der einfachen Leute verteidigen.

Milo Andersen: Radikal ist da gar nichts. Wobei wir dabei von den beiden großen Gewerkschaften sprechen, die Arbeiterkommissionen (CCOO) und der Arbeitunion (UGT), die den großen Parteien nahe stehen. Die entsprechen in etwa auf dieser Ebene dem Parteiensystem, denn auch sie ziehen Vorteile aus ihrer Vormachtsstellung und drängen kleinere Organisationen an den Rand. Sie verhandeln mit den Unternehmern und der Regierung. Letztlich sind sie auch nur Transmissionsriemen.

Deutlich zeigt sich das in der Rentenreform, der sie sogar zugestimmt haben. Denn die Beziehungen zur Regierung sind eng und sie vertreten nicht die Interessen der Beschäftigten oder der einfachen Bevölkerung. Auch sie schauen auf die Arbeiter mit einem paternalistischen Blick und vertreten nicht deren Interessen - und es geht ihnen darum, ihre Macht und ihre Stellung zu verteidigen. Deswegen haben viele jede Hoffnung in dieser Richtung aufgegeben.

Oase der Friedfertigkeit gegen die Brutalität der Polizei

Wie bewertet ihr den Versuch, euren friedlichen Protest mit Polizeigewalt aufzulösen?

Milo Andersen: Wer noch einen Beweis für Demokratiedefizite brauchte, hat ihn damit bekommen. Es hat sich gezeigt, dass wir recht haben. Anstatt sich hier mit uns direkt auseinanderzusetzen und etwas über die realen Probleme der Leute zu erfahren, schicken die Politiker ihre Polizei, um einen friedlichen Protest aufzulösen.

Und sie ist mit brutalster Gewalt vorgegangen. Auf unbewaffnete, am Boden sitzende Menschen wurde eingeprügelt, mit Gummigeschossen auf die Menschen gefeuert... Es traf sogar behinderte Menschen im Rollstuhl, Kinder und Alte. Was sollen wir von Politikern erwarten, die so wenig Verstand und zudem strategisches Denken zeigen? Dieses Vorgehen, bei dem fast 200 Menschen verletzt wurden - einige liegen im Krankenhaus -, hat vielen erst die Augen darüber geöffnet, wo wir leben. So war der Platz nach der Räumung so voll wie nie zuvor und immer mehr Leute solidarisieren sich mit uns. Wie wenig Intelligenz müssen unsere Politiker haben, wenn sie ein solches Vorgehen wählen. Kann man solchen Leuten zutrauen, uns aus der tiefen Krise zu führen?

War nicht auch die Rechtfertigung für den Einsatz kurios? Denn es wurden erwartete Feiern angeführt, falls der FC Barcelona die Champions League im Endspiel in London gewinnt. Der Platz sollte angeblich gesäubert werden, damit sich gewalttätige Hooligans nicht mit Wurfgeschossen oder Zeltstangen versorgen können und dazu wurde die Hygiene angeführt.

Milo Andersen: Dass es nicht um eine Säuberung des Platzes ging, war schnell klar. Sonst zerstört man wohl kaum sofort die Webcam, wirft alle Computer in den Müll und hängt alle Spruchbänder ab. Wir hatten ohnehin mit vielen Trupps immer dafür gesorgt, den Platz sauber zu halten, haben Toiletten aufgestellt... Wir hatten sicher das größte Interesse daran, dass die Besetzung nicht für gewalttätige Angriffe von Hooligans missbraucht wird. Deshalb hatten wir uns auch mit den Fanclubs in Verbindung gesetzt. Letztlich haben wir nach der Wiederbesetzung und dem Sieg des FC Barcelona eine Menschenkette um den Platz gebildet. Er blieb in der Nacht zum Sonntag eine Oase der Friedfertigkeit, während es an anderen Stellen zu Krawallen kam.

Proteste gehen weiter

Wie hat Bevölkerung in Barcelona auf die Räumung reagiert?

Milo Andersen: Unglaublich. Über das Internet haben wir aus der Nähe des Platzes die Leute informieren können, Videos über die gewaltsamen Übergriffe wurden verschickt und das hat die Leute aber nicht abgeschreckt, sondern sie sind zu Tausenden zum Platz geströmt. Die Polizei musste dann schließlich abziehen. Das Ergebnis war kolossal, denn danach war nicht nur der Platz wieder besetzt, sondern auch auf den umliegenden Straßen ging nichts mehr, weil sie mit Leuten überquollen, die sich mit uns solidarisiert haben. Nicht nur hier, in ganz Spanien hat damit die Bewegung darüber eine neue Dynamik erhalten. Es muss einem schon an Verstand fehlen, wenn die Regierenden ein solches Eigentor schießen.

Wie sehen die Perspektiven aus?

Milo Andersen: Wir bleiben zunächst hier. Die Versammlung hat in Barcelona entschieden, am Dienstag erneut über die Fortdauer des Camps und über neue Protestformen zu debattieren. In Madrid wollen sie mindestens bis zum nächsten Sonntag bleiben und dann wieder auf einem Plenum auf dem Platz entscheiden. Ähnlich wird auch auf anderen Plätzen debattiert. Wir weiten derweil die Proteste auch weiter in die Stadtteile hinein aus. Das hatten wir die letzte Woche schon angefangen. In der Diskussion sind in den Arbeitsgruppen viele verschiedene Vorstellungen, wie ein langfristiger Protest aufgebaut werden kann, mit und ohne Camps. Wir werden uns überraschen lassen.