"Nur Menschen, die unglücklich sind und zu wenig lachen, sind von Radioaktivität bedroht"

Die japanische Regierung nimmt mit ihren mangelhaften Maßnahmen nach dem Reaktorunfall den Tod von tausenden Kindern in Kauf

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Wer mutmaßen möchte, welche Maßnahmen eine der Atomlobby hörige Regierung in einer über den Geldnexus vermittelten Gesellschaft zum Schutz ihrer Bürger nach einer Reaktorkatastrophe unternimmt, kann dies anhand der aktuellen politischen Bestimmungen des japanischen Staates für die Region Fukushima studieren: Nichts.

Es existiert kein staatliches Evakuierungsprogramm für Menschen, die weiter als 20 Kilometer vom havarierten Reaktor entfernt leben. Da aber beispielsweise für den Grad der Verstrahlung in der Luft nicht die Distanz vom Atomkraftwerk sondern die Luftströmung ausschlaggebend ist, kann es passieren, dass ein Ort, der 50 Kilometer entfernt liegt, eine höhere Verstrahlung aufweist, als ein Punkt innerhalb des Evakuierungsgürtels. Wer in dieser Region, die stark kontaminiert ist und dringend evakuiert werden müsste, kein Geld besitzt, um weg zu ziehen, hat eben Pech gehabt.

So wurde beispielsweise den Kindern der Region von Seiten der Behörden einfach der Rat zuteil, sich nicht draußen aufzuhalten oder andernfalls auch im Hochsommer einen Mundschutz oder langärmlige Kleidung zu tragen. Dafür wurden die Grenzwerte für Luftstrahlung und belastetes Essen drastisch erhöht. Aufklärung über die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf die Bevölkerung findet nicht statt. Die absehbaren Folgen werden in unstatthafter Weise verharmlost und Strahlenproben nicht in der Größenordnung vorgenommen, die der Dimension des Vorfalls entsprechen würden. So weigert sich die Universität in Fukushima beispielsweise, Bürger auf Strahlenbelastung zu untersuchen.

Die Auswertungen dieser spärlichen Strahlenproben werden, wenn überhaupt, nur zaghaft veröffentlicht und unabhängige Organisationen bei eigenen Strahlungsmessungen behindert. Mit dem Argument, es bestünde keine direkte Gefahr für die Gesundheit der Bürger, lehnt es die Regierung ab, weitere Verantwortung für sie zu übernehmen. Tepco erklärt sich gleichfalls für nicht zuständig und beschränkt sich auf die Überwachung des Reaktorgeländes.

Seiichi Nakate

Der atomkritische britische Wissenschaftler Christopher Busby schätzt, dass die Region zweimal so stark verstrahlt ist wie die Gegend um den Reaktor in Tschernobyl, dessen Unfall nach seiner Schätzung bis zu 1.400.000 Menschen das Leben gekostet hat. Er spricht von "einer Katastrophe jenseits der Vorstellungskraft" und beschuldigt die japanische Regierung, sich mit ihrer unverhältnismäßig geringen Reaktion auf den Unfall "auf kriminelle Art unverantwortlich" zu handeln. Deswegen hat Seichi Nakate in Fukushima eine Bürgerinitiative gegründet.1

Herr Nakate, was machen Sie beruflich, wie haben Sie auf den Reaktor-Unfall reagiert und warum haben Sie die Aktion "Fukushima-Network zum Schutz der Kinder vor Radioaktivität" ins Leben gerufen?

Seiichi Nakate: Ich arbeite in Fukushima seit 30 Jahren in einer Einrichtung für behinderte Menschen. Als es zu dem AKW-Unfall kam, habe ich sofort meine Familie nach Westen geschickt. Ich bin seit 25 Jahren in einer Anti-Atom-Initiative aktiv und hatte bald das Gefühl, dass sowohl die Regierung als auch die Betreiberfirma Tepco den Unfall kleinreden und damit die Menschen in Gefahr bringen will. Über das Internet war es möglich, in diesem Zusammenhang einiges zu recherchieren. Die Aktion habe ich konkret am 19. März begonnen, als Shunichi Yamashita, ein "Strahlenexperte" und Professor für Biomedizin an der Universität Nagasaki nach Fukushima kam und behauptete, dass für die Bevölkerung keine Gefahr bestünde.

Wir haben sogleich gefordert, in der Region Fukushima an 1600 Stellen, besonders in Schulen und Kindergärten, die Radioaktivität in der Luft zu messen. Die Regierung hat dann Messungen durchgeführt, aber weder die Bevölkerung aktiv über die Ergebnisse informiert, noch eine generelle Einschätzung der Lage um Fukushima abgegeben.

Unsere Gruppe hat diese Ergebnisse (die kommentarlos auf einer Webseite des Erziehungsministeriums veröffentlicht wurden) ausgewertet und wir haben ausgerechnet, dass an sechsundsiebzig Prozent der Schulen eine Verstrahlung von 0,6 Mikrosievert pro Stunde vorherrschend ist. Der Normalwert würde hier 0,05 Mikrosievert in der Stunde betragen und bei einem Wert von 0,4 Mikrosievert pro Stunde (beziehungsweise 0,6 Mikrosievert) müssten Kinder und Erwachsene aus Tschernobyl wegziehen! Wir haben daraufhin allen Gemeinden der Region vorgeschlagen, zuerst die Kinder zu evakuieren und den kontaminierten Boden reinigen zu lassen. Dann haben wir die Webseite Fukuro no kai ins Internet gestellt. Daraufhin haben wir viele Reaktionen bekommen. Am 1. Mai haben wir die Initiative offiziell gegründet.

"Reparaturen werden viel länger dauern"

Können Sie uns kurz mitteilen, in welchem Zustand sich zur Zeit die Reaktoren in Fukushima befinden?

Seiichi Nakate: Laut Regierung und Tepco ist die erste Phase der Reparaturen, die Kühlung des Reaktors fast abgeschlossen. Jetzt will man die Reduzierung der Radioaktivität erreichen. Aber eigentlich wissen wir gar nichts, weil wir nicht wirklich in die Reaktoren sehen können. Kein Mensch vermag sich auszumalen, was passiert, wenn es zu heftigen Nachbeben kommt. Der Reaktor 4 steht ja immer noch schief. Insgesamt erhalten wir viel zu wenig Informationen. Selbst die Experten können die Lage nicht einschätzen. Tepco sagt, dass die Reparaturen bis nächstes Jahr abgeschlossen sein werden. Aber ich glaube, dass sie viel länger dauern werden.

Wie sehen die ersten konkreten Maßnahmen der Regierung in der Krisenregion aus?

Seiichi Nakate: Die Regierung hat sich darauf beschränkt, die Einwohner der Region in einen Radius von 20 Kilometer um das Reaktorgelände evakuieren lassen. Vielleicht ist es bei der Bevölkerungsdichte Japans auch gar nicht möglich, in einem größeren Umkreis Evakuierungsmaßnahmen durchzuführen, aber was die Regierung auf alle Fälle sträflicherweise versäumt hat, war, die Bevölkerung über die katastrophalen Strahlenwerte in der Region zu unterrichten, obwohl diese vorlagen. In Tsushima zum Beispiel, einer Kleinstadt 30 Kilometer nördlich vom AKW, haben Beamte am 13. März Werte von 333 Mikrosievert pro Stunde gemessen und keine Warnung ausgesprochen, obwohl die Bürger neben ihnen standen! Wie gesagt hat die Regierung über die Strahlenwerte nicht offensiv informiert, sondern sie ganz einfach kommentarlos auf einer ihrer Webseiten veröffentlicht.

Hinzu kam, dass Herr Yamashita am 19. März in Fukushima erklärte, es sei alles Bestens und es bestünde keine Gefahr für die Kinder. Er hat dies allen Ernstes damit begründet, dass nur Menschen, die unglücklich sind und zu wenig lachen, von Radioaktivität bedroht seien und dass selbst Strahlendosen von 100 Mikrosievert pro Stunde hinnehmbar wären. Erst einen Monat später, am 22. Mai hat dann die Regierung mit der planmäßigen Evakuierung des 20-Kilometer-Gürtels begonnen.

Bereits ab Mitte März kam es aufgrund von Regen und Schnee zu höheren Strahlenwerten im Umland, aber die Maßnahmen der Regierung bestanden einzig darin, die Grenzwerte höher zu setzen. Wir befürchten, dass dies ernsthafte Konsequenzen für die Bevölkerung haben wird. Der Ministerialbeamte Goshi Hosono hat erklärt, dass die Leute im Umkreis von 20 bis 30 Kilometer nicht wegzuziehen bräuchten. Ich glaube, dass diese Aussage extrem fahrlässig ist, weil die Region viel zu hoch verstrahlt ist. Die Regierung müsste jetzt den Bewohnern von Fukushima in aller Deutlichkeit sagen, dass in bestimmten Regionen menschliches Leben nicht mehr möglich ist. Das ist zwar natürlich traurig, aber die Leute müssen es wissen.

Welche weiteren Maßnahmen hat die Regierung ergriffen?

Seiichi Nakate: Die Regierung hat der Bevölkerung ganz einfach geraten, in ihren Wohnungen zu bleiben und ihren Kindern für draußen Atemschutzmasken und langärmlige Kleidung zu geben.

Aus welchem Grund versucht man, die Folgen des Reaktorunfalls kleinzureden?

Seiichi Nakate: Man verharmlost die Katastrophe, weil man eine Massenpanik befürchtet.

Im Zuge der Nuklearkatastrophe haben die japanischen Behörden die Grenzwerte für Radioaktivität erhöht: Um wie viel höher dürfen diese nun sein und mit welcher Begründung wurden sie angehoben?

Seiichi Nakate: Die Behörden haben den Grenzwert von Luftstrahlung von 1 Millisievert im Jahr für Grundschulkinder auf 20 Millisievert jährlich angehoben. [Dies entspricht der gesetzlich erlaubten Strahlendosis für AKW-Mitarbeiter in Deutschland und ist für Kinder extrem gefährlich, weil sie sich in der Wachstumsphase befinden und aufgrund der erhöhten Zellteilung sehr sensibel auf radioaktive Strahlung reagieren. Der deutsche Grenzwert beträgt hier 1 Millisievert. - Anmerkung RJ]

Außerdem hat die Regierung die Bevölkerung nicht darüber informiert, dass es nicht nur eine Verstrahlung von außen, durch die Haut, sondern auch von innen, durch die Aufnahme radioaktiver Substanzen in den Körper durch Atmen, Trinken und Essen gibt. Hier wurden ganz einfach die Grenzwerte für das Essen erhöht. Bei Jod im Gemüse beispielsweise von 5 auf 2000 Becquerel pro Kilo.2 Beim Boden für den Reisanbau setzte man den Grenzwert auf 5000 Becquerel pro Kilo, weil man darauf spekuliert, dass der darauf angebaute Reis nur 500 Becquerel pro Kilo aufnehmen würde. Dies ist aber sehr fraglich. Der Grund für diese Erhöhungen liegt schlicht und einfach darin, dass die Regierung nicht gewillt ist, weitergehende Sicherheitsmaßnahmen für die Bevölkerung zu treffen.

Wie reagiert die Bevölkerung von Fukushima auf die Maßnahmen der Regierung?

Seiichi Nakate: Die Bevölkerung von Fukushima ist sehr verunsichert und reagiert mehr und mehr erzürnt. Vor dem Reaktorunfall gab es in der Region im Umkreis von 10 Kilometern außerhalb des Atomkraftwerks allenfalls einmal im Jahr eine Katastrophenübung und so haben die Leute die Mentalität entwickelt, dass die Vorgänge sie nichts weiter angehen würden.

Unmittelbar nach dem Unfall haben dann erst einmal viele Menschen den verharmlosenden Verlautbarungen der Regierung Glauben geschenkt. Die Wenigen, die sich etwas mehr zusammenreimen konnten, haben die Region sofort verlassen und sind damit auf viel Unverständnis bei ihren Familien, Freunden und Kollegen gestoßen. Dann haben aber die Mütter angefangen, sich zu beunruhigen, da sie aufgrund der mangelhaften Informationspolitik nicht wussten, wie sie sich konkret um ihre Kinder kümmern sollten. Mit der Zeit wurden es immer mehr Leute. Die Menschen von Fukushima sind normalerweise sehr umgänglich, aber jetzt sind sie sauer, weil sie mehr und mehr das Gefühl haben, von der Regierung alleine gelassen zu werden. Allerdings ist der Rest der japanischen Gesellschaft noch weitgehend paralysiert.

Sie setzen sich in einer Petition für die Entlassung des bereits vorher erwähnten "Strahlenexperten" Shunichi Yamashita vom Atomforschungsinstitut in Nagasaki ein. Weshalb?

Seiichi Nakate: Yamashita hat den Menschen in Fukushima erzählt, dass die Situation sicher sei. Viele Menschen sind deswegen dort geblieben und sind heutzutage verstrahlt. Er hat damit ein schweres Verbrechen begangen. Jetzt wurde er Vizepräsident der Universität für Medizin in Fukushima, was dazu geführt hat, dass viele Ärzte unter ihm nicht mehr frei zur Bevölkerung sprechen können. Sie sind jetzt angehalten, nur noch Vorträge vor der Ärzteschaft zu halten. Zuerst war Yamashita nur ein Berater, jetzt besitzt er mehr Befugnisse als ein Gouverneur. Kein Mensch weiß, wer ihn eigentlich angestellt hat. Bis jetzt haben zirka 5000 Einwohner die Petition gegen ihn unterschrieben, online kommen noch ein paar tausend Stimmen hinzu.

Wie beurteilen Sie die bisherige Informationspolitik von Tepco und der Regierung?

Seiichi Nakate: Die Regierung und Tepco haben die meisten Informationen unter Verschluss gehalten um die Schäden der Katastrophe kleinzureden und die Situation kontrollieren zu können. Es ist eine Situation wie während des Zweiten Weltkrieges, als die Regierung sich am Ende auch weigerte, die Bevölkerung über die wahren Zustände zu informieren. Die Pressekonferenzen von Tepco wurden beispielsweise mitten in der Nacht abgehalten, damit sie so wenig Zuschauer wie möglich verfolgen konnten. Ein Journalist hat mir erzählt, dass er keine Chance gehabt habe, die Wahrheit zu schreiben, denn sobald er etwas Ehrliches geschrieben hatte, wurde es von seinem Chef nicht veröffentlicht. Bislang konnte die Regierung den Informationsfluss über das Internet nicht unter Kontrolle bringen, aber hier sind Gesetzesänderungen geplant: Man möchte zum Beispiel die Möglichkeit juristisch legitimieren, Einträge aus dem Internet oder aus Facebook und Twitter zu löschen.

Haben Sie mit Ihrem Projekt Unterstützung aus dem In- und Ausland erfahren?

Seiichi Nakate: Aus Japan haben wir viel Unterstützung von Bürgergruppen bekommen und mit diesen einen Evakuierungsplan zusammengestellt. Bislang haben wir erreicht, dass 50.000 Menschen evakuiert wurden. Aus Australien hat uns eine Geldspende erreicht, mit der wir ein Video drehen konnten. Ich persönlich habe mich sehr gefreut, dass man in Deutschland sehr schnell mit Demonstrationen reagiert hat. Das bedeutet eine große moralische Unterstützung für die Leute von Fukushima. Die Regierung und Tepco haben uns verlassen.

Was können die Regierung und Tepco weiter machen?

Seiichi Nakate: Als aller erstes sollen sie die Bevölkerung aufklären! Dann müssen sie die Arbeiter schützen. Außer dem soeben zurückgetretenen Premierminister Kann (der aus der Studentenbewegung stammt und das gefährliche Kernkraftwerk Hamaoka hat schließen lassen) ist die Regierung aber an solchen Maßnahmen nicht interessiert. Tepco muss in die Pflicht genommen werden - das Recht darf nicht Tepco schützen. Tepco, nicht die Bevölkerung soll für diese Katastrophe zahlen.

Was kann man von Deutschland aus für Ihr Projekt tun?

Seiichi Nakate: Wir freuen uns auf jede Spende weil unser Kampf sehr lange dauern wird. Und wir Japaner müssen von den Deutschen lernen, weniger passiv zu sein. Die Japaner müssen lernen, selbst zu entscheiden, bisher waren wir an solchen Dingen nicht interessiert. Deswegen gibt es bei uns auch 54 Atomkraftwerke! Viele von denen sind momentan wegen Untersuchungen vom Netz, aber viele Politiker möchten sie wieder ans Netz nehmen. Zum Beispiel ist der Reaktor Tomari bei Hokkaido in den letzten Tagen wieder ans Netz gegangen.


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