Mit Neusprech zur Vollbeschäftigung

Mit der frohen Botschaft vlnr: Holger Schäfer (IW), Hubertus Pellengahr (INSM) und Dr. Jörg Schmidt (IW). Bild: S. Duwe

Die INSM gibt dem Niedriglohn einen schöneren Namen

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Wer Unpopuläres verkaufen will, der muss sich etwas einfallen lassen. Politiker und Lobbyisten lassen sich dafür gern neue Begriffe einfallen, die vom wahren Kern des Problems ablenken sollen. Da werden dann Kriege zu humanitären Interventionen, aus der Vorratsdatenspeicherung wird die Mindestdatenspeicherung und das unbeliebte Hartz IV soll durch einen neuen Namen ein besseres Image erhalten. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird, knöpft sich nun den Niedriglohn vor: der sei eigentlich ein Einstiegslohn, findet die INSM und versucht das auch gleich mit einem passenden Gutachten zu belegen.

Immerhin kommt der Niedriglohnsektor, der einst unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder (SPD) massiv ausgebaut wurde, immer mehr in die negativen Schlagzeilen. Der Niedriglohnsektor wächst und spaltet den Arbeitsmarkt. Erst vor kurzem zeigte eine Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen, dass mittlerweile jeder fünfte Deutsche im Niedriglohnbereich arbeitet, wobei die Zahl der Menschen, die in diesem Bereich tätig sind, innerhalb von zehn Jahren um 2,3 Millionen gestiegen ist. Die Studie zählt dabei alle Menschen, die für einen Stundenlohn von 9,50 Euro in Westdeutschland arbeiten, zu den Niedriglohnempfängern. Im Osten haben sie die Grenze bei lediglich 6,87 Euro festgesetzt.

Von Niedriglöhnen betroffen sind nicht etwa vor allem Gerinqualifizierte, sondern viele junge Menschen. Jeder zweite Vollzeitbeschäftigte bis 24 arbeitet im Niedriglohnbereich. Zudem ist der Anteil von Menschen mit einer Berufsausbildung oder einem akademischen Abschluss im internationalen Vergleich hoch.

Meldungen über die wachsende Ungleichheit bei den Löhnen, die ungleiche Verteilung der Vermögen in Deutschland und Nettolohneinbußen zwischen 16 und 22 Prozent innerhalb der letzten zehn Jahre ausgerechnet bei den Geringverdienern ("Qualifikationsbedingte Lohnunterschiede") sorgen für Unsicherheit weit bis in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Die daraus entstehende Debatte will die INSM mit einem brisanten Gutachten "versachlichen und befruchten", wie INSM-Geschäftsführer Hubertus Pellengahr in Berlin erklärte. Das Gutachten, welches vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) für die INSM erstellt wurde, setzt die Niedriglohngrenze bei knapp neun Euro Stundenlohn an und geht davon aus, dass der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor im Jahr 2009 bei 22,4 Prozent lag. Als Datengrundlage dient dem IW das Sozio-ökonomische Panel (SOEP). Werde allerdings nur die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren betrachtet, so sei der Niedriglohnanteil in der Erwerbsbevölkerung zwischen 2004 und 2009 von neun auf 13 Prozent gestiegen, so Holger Schäfer vom IW.

Daraus schlussfolgert Pellengahr, sei die Angst der Mittelschicht, in den "so genannten Niedriglohnbereich" abzurutschen, empirisch nicht haltbar. Immerhin sei der Niedriglohnsektor nicht auf Kosten der Normalverdiener gewachsen, sondern durch Menschen, die zuvor nicht beschäftigt gewesen seien. Da es zudem um ein Vielfaches wahrscheinlicher sei, aus dem Niedriglohnsektor in den Normalverdiener-Bereich aufzusteigen als umgekehrt abzusteigen, seien Niedriglöhne vor allem Einstiegslöhne.

Niedriglohn als angebliches Sprungbrett

Auch das IW kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als 80 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung hat, der Anteil qualifizierter Kräfte also hoch ist. Doch Schäfer spricht in diesem Zusammenhang vor allem von "Fehlqualifikationen", denn nur etwas mehr als die Hälfte der Niedriglöhner würde für ihre Beschäftigung überhaupt eine Berufsausbildung benötigen, oder aber in Berufen arbeiten, für die sie gar keine Ausbildung haben. "Nur" rund ein Drittel der Niedriglohnbeschäftigten arbeite in dem Beruf, für den sie auch ausgebildet seien, so Schäfer.

Zudem erklärte Schäfer, dass es keinen Zusammenhang zwischen Niedriglöhnen und Einkommensarmut gebe. Immerhin seien häufig noch weitere Einkommensquellen im Haushalt vorhanden, wie zum Beispiel das Erwerbseinkommen des Partners oder staatliche Transferleistungen. Daher seien nur 16 Prozent der Niedriglöhner armutsgefährdet, während es bei den Arbeitslosen über 60 Prozent seien. "Es gibt in Deutschland kein nennenswertes Problem der Armut trotz Arbeit", behauptet Schäfer.

Er betonte zudem die Aufstiegschancen, die der Niedriglohnbereich biete. 24 Prozent würden innerhalb eines Jahres den Aufstieg in eine besser bezahlte Beschäftigung schaffen, so Schäfer. Allerdings erhöhe sich die Chance auf den Aufstieg aus dem Niedriglohnsektor erst, wenn die Phase des Qualifikationserwerbs abgeschlossen sei. Wer fehlqualifiziert ist, der soll seinen Billiglohnjob offenbar als Chance zur Weiterbildung verstehen und sich entsprechend anstrengen, so die Botschaft.

Dass es mittlerweile zahlreiche Berufsgruppen, beispielsweise im Friseurhandwerk oder in der Altenpflege gibt, die trotz abgeschlossener Ausbildung keine Chance auf einen guten Lohn haben, sieht man weder bei der INSM noch beim IW. Jeder Job sei besser als kein Job, erklärte Pellengahr, auf das Beispiel der Friseuse in Ostdeutschland angesprochen, und spielt dabei sichtlich nervös an seiner Uhr. Die Nachfragen der Journalisten gefallen ihm offensichtlich nicht. Zudem, ergänzt der INSM-Geschäftsführer, könne der Job ja ein Sprungbrett sein, wenn sich die Friseuse weiter qualifiziere.

Auch mit den sinkenden Reallöhnen hat das IW kein Problem. Wenn Lohnzurückhaltung zu mehr Beschäftigung führe, und dafür gebe es Hinweise, dann müsse man eben überlegen, was uns wichtiger ist.

Damit versuchen INSM und IW weiterhin, Stimmung für eine einseitig exportorientierte Politik Werbung zu machen, die die Binnennachfrage als zweites Standbein vernachlässigt. Besonders in der gegenwärtigen Schuldenkrise ist dies eine Strategie, die nicht nur zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung geht, sondern letztlich auch der Wirtschaft selbst großen Schaden zufügen könnte.