Eine partizipatorische Internetpolitik entwickelt ein neues Politikmodell

Das 6. Internet Governance Forum (IGF) Ende September 2011 in Nairobi war das bislang erfolgreichste und zeigte, dass das neue Multistakeholder-Modell funktioniert

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Internet Governance, so hatte es im Sommer 2005 etwas kryptisch die UN Working Group on Internet Governance (WGIG) definiert, sei das Zusammenwirken von Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft - in ihren jeweiligen Rollen - bei der Entwicklung von gemeinsamen Normen, Prinzipien, Regeln und Entscheidungsprozeduren (Internet Governance 2005: The Deal is Done). Da die 150+ Staats- und Regierungschefs, die im November in Tunis zum 2. UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) zusammengekommen waren, es auch nicht besser wussten, wurde die Definition abgesegnet und gilt seither als die oberste Leitlinie für alles was mit Politik und Regulierung des Internet zusammenhängt.

Das Problem ist aber, dass kaum so einer richtig weiß, was denn die "jeweilige Rolle" (respective role) der einzelnen Stakeholder ist, wie in der Praxis zwischen Regierungs- und Nichtregierungsvertretern gemeinsam Normen, Prinzipien und Regeln erarbeitet werden sollen und wie vor allem Entscheidungsprozesse entsprechend neu zu organisieren sind (shared decision making procedures).

Lippenbekenntis zu Multistakeholder?

Kein Wunder, dass mithin jeder etwas anderes unter dem Multistakeholder-Dialog versteht. In den vergangenen fünf Jahren gaben vor allem Regierungen mehr Lippenbekenntnisse zu "Multistakeholder Internet Governance" ab, aber immer dann, wenn es um substantielle Themen ging, ließen sie die anderen "Stakeholder" draußen vor der Tür: bei ACTA, in der WIPO und der ITU oder bei nationalen Gesetzen wie bei HADOPI in Frankreich oder dem mittlerweile gescheiterten Zugangserschwernisgesetz in Deutschland.

Im Jahr 2011 scheinen sich jedoch nun die Koordinaten des mittlerweile als "Internet Governance Ecosystem" bezeichneten Netzwerkes von staatlichen und nichtstaatlichen Internet-Gremien zu verschieben. Und so entsteht zumindest erst einmal eine neue interessante Dialog-Kultur, bei denen die Regierungen nicht zwangsläufig das Recht des letzten Wortes haben.

Bei ICANN gab es zum Beispiel in diesem Jahr gleich zweimal eine Auseinandersetzung, bei der ursprünglich die Regierungen was anderes wollten, als dann entschieden wurde: bei der Einführung der Top Level Domain .xxx und bei der Auflage des Programms zur Einführung neuer Top Level Domains (new gTLDs) (Neulandgewinnung im Cyberspace).

Als die OECD im Juli 2011 Internet-Prinzipien verabschiedete, zeigte sich die Zivilgesellschaft sperrig und verweigerte ihre Zustimmung einem Dokument, das sich formell zum Multistakeholder Dialog bekennt. Bei ACTA häufen sich die Proteste der ausgeschlossenen Stakeholder, so dass die EU jetzt erst einmal zurückzuckt und mit einer schnellen Unterschrift wartet. Als die britische Regierung im Sommer 2011 ankündigte, soziale Netzwerke zu sperren, um Sicherheit im Lande herzustellen, erntete sie einerseits einen Proteststurm aus der Zivilgesellschaft, anderseits aber Beifall von der chinesischen Regierung, die Premierminister Cameron mit Lob überzog, da er endlich einsehe, wie man das Internet zu managen habe.

All das führt natürlich zu Irritationen und verstärkt den Wunsch nach allgemeinen Leitlinien und größerer Klarheit darüber, wer denn nun letztendlich wofür zuständig ist wenn es um Regeln für das Internet geht.

Ein Internet-Prinzipien Tsunami

Dieses Jahr haben nahezu alle relevanten zwischenstaatlochen Organisationen Dokumente ausgearbeitet, die Internet-Governance-Prinzipien definieren: die OECD, der Europarat, die OSZE, die NATO und Ende Mai auch die G-8. Zuvor hatte US-Präsident Obama zehn Prinzipien für das Internet vorgeschlagen, danach EU Kommissarin Kroes sieben Prinzipien für einen Internet Compact (20 Jahre WWW: Prinzipienschwemme im Cyberspace). Anfang September 2011 haben sich die ISBA-Länder (Indien, Brasilien und Südafrika) mit dem Vorschlag Gehör verschafft, innerhalb der UNO eine neue zwischenstaatliche Internetorganisation gründen zu wollen. Und die "Shanghai-Gruppe" mit China und Russland hat der 66. UN-Vollversammlung vorgeschlagen, einen "Internet-Verhaltenskodex" zu verabschieden.

Und die Flut vorgeschlagener Internetprinzipien wächst weiter. Die IGF Dynamic Coalition on Internet Rights and Principles hat in dreijähriger Kleinarbeit einen ganzen Katalog von Internet Rechten und Prinzipien zu Papier gebracht. Die Association for Progressive Communication (APC) hat aus der Sicht der Entwicklungsländer und der Zivilgesellschaft zehn Prinzipien zu Internet Governance formuliert. Für den privaten Sektor hat sich die Internationale Handelskammer (ICC) in Paris zu Wort gemeldet. Und noch mehr Initiativen kündigen sich schon an.

Was tun mit all diesen Dokumenten? Steht uns ein Internetprinzipien-Krieg bevor? Enden wir bei einem Internetprinzipien-Shopping, wo sich jeder das Prinzip heraussucht, dass ihm am besten gefällt, um sein Verhalten (oder Fehlverhalten) zu legitimieren? Oder besteht eine Chance, all diese Initiativen irgendwie zu kanalisieren und in ein von allen Stakeholdern getragenes universelles Konzept münden zu lassen?

IGF als ordnende Plattform?

Wenn letzteres eine realistische Option ist, dann ist nach dem 6. UN Internet Governance Forum (IGF) in Nairobi klar, dass nur das auf dem Multistakehoder Prinzip basierendes IGF in der Lage wäre, dies zu leisten. Die Stimmen, dass das IGF sich von einem Diskussionsgremium hin zu einer Plattform entwickeln müsse, die Rahmenrichtlinien für Politiken entwirft, sind in den letzten Jahren immer lauter geworden. Die Internetprinzipienflut von 2011 bietet nun einem renovierten IGF die Möglichkeit, ordnend einzugreifen und die Debatte nach vorne zu lenken.

Es war insofern durchaus bemerkenswert, dass die meisten zwischenstaatlichen Organisationen, die in den letzten Monaten Internetprinzipien aufgeschrieben hatten, keine Scheu zeigten, sich der Multistakeholder-Diskussion des IGF zu stellen. Was naheliegend klingt, ist durchaus keine Selbstverständlichkeit. Wann hat es das schon gegeben, dass Regierungen ein bereits verabschiedetes Dokument auf den Prüfstand der Kritik durch nichtgouvermentale Stakeholder stellt?

Der vom Europarat organisierte IGF-Workshop hatte sich z.B. den Titel A Constitutional Moment gegeben. Erklärend hieß es dazu, dass spezifische Internetverträge oder Gesetze wohl ins Leere laufen können, wenn man sich nicht vorher über eine Art Internet-Verfassung, ein "Framework of Committments", geeinigt hat. Der wenige Tage vor den IGF vom Ministerkomitee des Europarates verabschiedete Prinzipienkatalog wurde als Anregung präsentiert für eine umfassendere "Magna Charta" für das Internet die von Regierungen, der Zivilgesellschaft, der technischen Community und dem privaten Sektor gemeinsam getragen wurden müsste.

Kann so etwas funktionieren? Das bleibt natürlich abzuwarten, aber die Bereitschaft sich in dieses Neuland von Politikentwicklung vorzuwagen, ist eine bemerkenswerte Innovation. Ähnlich argumentierte in Nairobi auch die OECD. Das Nein der Zivilgesellschaft zu den vorgeschlagenen 15 OECD-Prinzipien hätte doch Nachdenken bei den Regierungen ausgelöst und man müsse nun sehen, wie man den nächsten Schritt - die Überführung des "OECD Kommuniques" in "OECD Policy Guidelines" so gestalten könne, dass der Multistakeholderismus nicht ein leeres Wort bleibt.

Auch die US-Regierung die mit zwei hochrangigen Vertretern angereist war - Botschafter Verver, Koordinator für internationale Kommunikationspolitik im US Außenministerium, und Larry Strickling, Vizeminister im US Handelsministerium - wurden nicht müde zu erklären, dass es keine Alternative zu dem Multistakeholder-Governance-Modell gäbe, wolle man nicht die Freiheit, Offenheit und Stabilität des Internet riskieren.

Es war schon interessant zu beobachten, dass sich US-Botschafter Verver, EU-Kommissarin Kroes und Pilar de Castillio, die Leiterin der Delegation des Europäischen Parlaments, jeweils darum bemühten, gesonderte individuelle Gespräche mit der Zivilgesellschaft zu führen und dabei versicherten, dass ihr Bekenntnis zum Multistakeholderprinzip eben kein Lippenbekenntnis, sondern ernst gemeint ist.

Mehr Mut nötig

Selbst die indische und brasilianische Regierung stellten sich der Debatte und räumten ein, dass ihre Vorschlag einer neuen Internet-Regierungsorganisation im Lichte eines kritischen Dialogs mit Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft durchaus modifizierbar ist. Das in dem ISBA-Vorschlag angesprochene Defizit des bestehenden Internet-Governance-Systems, das Entwicklungsländer immer noch marginalisiert, könne auch anders erreicht werden, eventuell durch einen Multistakeholder-Mechanismus wie dem MAG, der das IGF jährlich vorbereitet. .

Der neue starke Mann im brasilianischen Außenministerium, der jetzt für Internet Governance zuständig ist, überraschte nicht wenige mit seiner Offenheit, als er zu verstehen gab, dass die Zivilgesellschaft manchmal Angst vor den Regierungen habe. Aber auch die Regierungen hätten nicht selten Angst vor der Zivilgesellschaft. Also sollte man Mut haben auf beiden Seiten und stärker dort kooperieren, wo es darum geht, die Interessen von Internetnutzern z.B. gegen große Internetunternehmen zu verteidigen.

Allein die chinesische und russische Regierung wichen dem Dialog aus. Als der chinesische Vertreter in einem IGF-Plenum den bei der UN-Vollversammlung eingereichten "Code of Conduct" vorstellte behauptete er, dass dieser eine breite Unterstützung bei UN-Mitgliedstaaten hätte. Im Übrigen sei die jetzige Version kein Vorschlag für einen völkerrechtlichen Vertrag, sondern eben nur ein Kodex mit Leitlinien für Regierungen. Als er mit Fragen konfrontiert wurde, welche Regierungen denn das Papier unterstützen und wie es die Autoren des Kodex mit dem in der Tunis Agenda verankerten Prinzip des Multistakeholderismus halten, zog er es vor, schweigsam zu bleiben. Keine Antwort war in diesem Falle auch eine Antwort und provozierte prompt einen Brief des zivilgesellschaftlichen Internet Governance Caucus an den Präsidenten der 66. UN-Vollversammlung, in dem die Bedenken der Zivilgesellschaft aufgelistet werden. Der Brief hat mittlerweile die Unterstützung von über 20 NGOs, darunter APC, Electronic Frontier Foundation (EFF), das World Press Freedom Committee (WPFC), Le Quadratur du Net und auch die "Digitale Gesellschaft" aus Deutschland.

Deutschland war im Übrigen bei 6. IGF erstaunlich gut vertreten. Erstmals war mit Jimmy Schulz (FDP) ein Bundestagsabgeordneter zu einem IGF gekommen. Die Bundesregierung war mit dem Außen-, Wirtschafts- und Innenministerium vertreten, die Wirtschaft mit ECO und BITKOM, die technische Community mit DENIC und die Zivilgesellschaft mit mehr als zehn Netzwerken.

Wie weiter?

Natürlich ist das IGF kein universelles Ratifikationsgremium, wo sich Regierungen die Absolution für ihre politischen Internetpläne holen. Aber es ist eine einmalige Gelegenheit, ein Feedback darüber zu bekommen, was die breitere Community denkt, und neue Formen der Interaktion zu erproben.

In Nairobi wurde z.B. viel diskutiert über das Verhältnis von "multilateral" und "multistakeholder". Während in der Vergangenheit das multilaterale zwischenstaatliche Vertragssystem als das Non-Plus Ultra und damit als letzte Instanz angesehen wurde, mehrten sich in Nairobi die Stimmen, die zwischenstaatliche Internetabkommen mehr eingebettet sehen wollen in eine Multistakeholder-Umgebung, um nachhaltige Ergebnisse zu erzielen.

Das heißt auch nicht, dass das Privileg von Regierungen, rechtlich verbindliche Regelungen für das Internet zu treffen, unterminiert wird. Es heißt aber, dass Regierungen viel genauer prüfen müssen, wo denn eine völkerrechtlich verbindliche Absprache sinnvoll und durchsetzbar ist und inwiefern man auch mit anderen Formen politischer Arrangements, die andere Stakehholder einbezieht und damit auch in die Pflicht nimmt, etwas erreichen kann. Transparente Politikentwicklungsprozesse, bei denen nicht nur Parlamentsausschüsse und Ministerien eingebunden sind, sondern auch die breite nichtstaatliche Community aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Zivilgesellschaft sind sicher eine enorme Herausforderung.

Will man aber nachhaltige Lösungen für das Internet, wird man um diese neue Komplexität keinen Bogen machen können. Eine solche globale Multistkaholder-Internetpolitik wäre dann tatsächlich ein neues Politikmodell, das mehr einer partizipatorischen als einer repräsentativen Demokratie ähnelt. Der Druck, sich in einer transparenten Umgebung zu rechtfertigen, ändert zwar noch nicht die Politik von Regierungen, das Geschäftsgebaren von Unternehmen oder Aktionen von Aktivisten, aber sie erzwingt eine neue Dimension von Sensibilität und wechselseitiger Rücksichtnahmen.

Ein Beispiel war die beim IGF noch eher am Rande stattfindende Diskussion zu Facebook. Wenn es darum geht, die Internetwelt mit ihren 2 Milliarden Nutzern demokratischen Spielregeln zu unterwerfen, dann ist es doch nur natürlich, dass ein Sub-System mit 800 Millionen Nutzern sich ähnliche Fragen gefallen lassen muss. Warum sollten die Facebook-Nutzer nicht ein Mitspracherecht haben, wenn es um Fragen wie freie Meinungsäußerung oder Privatsphäre in diesem sozialen Netzwerk geht? Sollten die Facebooker nicht eine Art Facebook-Nutzerparlament wählen, das dann mit Herrn Zuckerberg über solche Regeln offen und transparent diskutiert? Oder könnten die Facebook-Milliarden nicht auch genutzt werden, um einen Fonds von sagen wir 20 Millionen US$ aufzusetzen, der benachteiligte Gruppen befähigen würde, an zukünftigen IGFs teilzunehmen? Wo sonst als bei einem IGF kann man vor der Tribüne der Weltöffentlichkeit solche Fragen stellen?

Auch das Hinterfragen der Entscheidung, ob es richtig ist, das 7. IGF in Baku in Aserbeidschan durchzuführen, einem Land, das nicht gerade für extensive Internetfreiheiten steht, gehört zur kritischen IGF-Diskussionskultur. Das Freedom Forum forderte Garantien, dass es in Baku keine Restriktionen - weder für ausländische Gäste, noch für die lokale Internet Community - gibt. Die UN sicherte sofort zu, dass diese Forderung Teil des Vertrages mit dem Gastland sei.

Wie dem auch sei, im Rahmen das IGF ist keine Frage zu heiß, um nicht angefasst zu werden. Das IGF ist sicher ein Unikum im Ökosystem globaler Institutionen des 21. Jahrhunderts. Aber es beginnt zu funktionieren. Yes, it works.