Russlands Protestbewegung macht sich Mut

Moskau erlebte gestern die zweite Großkundgebung innerhalb von vierzehn Tagen

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An der zweiten Protestkundgebung gegen offensichtliche Wahlfälschungen bei der Duma-Wahl beteiligten sich nach Angaben der Polizei 29.000 Menschen. Nach Angaben der Veranstalter waren es 120.000 Teilnehmer. Journalisten sprachen von 60.000 Demonstranten. Am 10. Dezember waren 40.000 Menschen auf die Straße gegangen (Russische Protestbewegung zeigt Putin die Harke).

Foto: u. Heyden

Während die Teilnehmerzahlen gestern bei den Protestkundgebungen in der russischen Provinz zurückgingen, ist die Bewegung in Moskau noch im Aufschwung, was selbst viele Aktivisten überraschte.

"Mit einer Million Menschen nehmen wir uns die Macht"

"Es sind genug Leute da. Wir können den Kreml jetzt einnehmen", rief der bekannte Blogger Aleksej Nawalny gestern von der Rednertribüne auf dem Sacharow-Prospekt im Zentrum von Moskau. Zum Sturm auf den Kreml rief Nawalny dann aber nicht auf. "Wir sind friedlich Leute", erklärte er. Wenn die Macht aber weiter betrüge, werde man eine Millionen Menschen auf die Straße bringen "und dann nehmen wir uns die Macht".

Nawalny ist ein guter Redner. Immer wieder spornte er die Kundgebungsteilnehmer zum Mitrufen seiner Parolen gegen Putin an. Der 35jährige Blogger ist politisch unverbraucht, bei einem Teil der neuen Protestbewegung allerdings wegen seines Werbens um die Rechtsextremisten unbeliebt.

Dass der russische Präsident Dmitri Medwedew ein Gesetzesprojekt zur Wahlrechtsreform in die Duma einbrachte (Präsident Medwedew kommt der Protestbewegung entgegen), hat die Protestbewegung nicht besänftigen können. Im Gegenteil. Der Tonfall wird schärfer. Neben den alten Forderungen nach Neuwahlen und einer Bestrafung der Wahlfälscher wurden am Sonnabend verstärkt Parolen gegen Putin gerufen.

Pfiffe für Dialogbereite

Mehrere Kundgebungsredner sprachen gar von der Möglichkeit einer Revolution. Kundgebungsredner wie der im September von Dmitri Medwedew entlassene Finanzminister Aleksej Kudrin oder die Fernseh-Moderatorin Ksenia Sobatschak, die zu einem Dialog mit der Macht aufriefen, um – wörtlich - eine Revolution zu verhindern, wurden ausgepfiffen. Es scheint, als ob die neue Bewegung dem Kreml tatsächlich gefährlich werden kann.

Auch Michail Gorbatschow, der ehemalige Präsident der Sowjetunion, fühlt sich berufen, Wladimir Putin zu warnen. Es wäre am besten, wenn der Ministerpräsident seine Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen am 4. März zurückzuzieht, erklärte Gorbatschow in einem Interview mit Radio Echo Moskau. Wenn Putin auf seine Macht verzichte, könne er all das erhalten, was er an Positivem geleistet habe, meinte Gorbatschow vermittelnd.

Der Kreml hat jedoch noch einen Trumpf. Überraschend zeigte sich auf dem Kundgebungsplatz Michail Prochorow. Der Multimilliardär kandidiert in Absprache mit dem Kreml zu den Präsidentschaftswahlen. Der mit 18 Milliarden-Dollar drittreichste Mann Russlands wollte sich dem Stress-Test auf der Redner-Tribüne nicht unterziehen und beschränkte sich stattdessen auf ein Bad unter den Demonstranten. An Putin übte Prochorow in einem Interview vorsichtige Kritik. Als der schwerreiche Präsidentschaftskandidat von einer Gruppe junger Sozialisten als Millionär beschimpft und von Anarchisten mit Schneebällen beworfen wurde, wurde es für den Zwei-Meter-Mann ungemütlich und er verließ den Platz.

Foto: U. Heyden

Volksfeststimmung in eisiger Kälte

Während es bei Kundgebungen in St. Petersburg und Nischni-Nowgorod zu Verhaftungen kam, gab es in Moskau keine Zwischenfälle. Behelmte Polizisten hielten sich im Hintergrund. Trotz der eisigen Temperaturen herrschte Volksfeststimmung. Viele Menschen trugen zum Zeichen ihres friedlichen Protestes weiße Blumen oder Luftballons.

Wie man an den zahlreichen selbstgemalten Transparenten und Schildern sehen konnte, entfaltet sich allmählich das kreative Potential der neuen Bewegung. Putins Bemerkung, die weiße Schleife der Demonstranten erinnere ihn an ein Verhütungsmittel, wendeten viele Demonstranten, in dem sie Präservative in allen möglichen Variationen mitführten, gemalt, als Foto und in echt. Der Musikkritiker Artjom Troizki stand gar in einem Ganzkörper-Präservativ auf der Rednertribüne und warnte vor den "Infektionen des politischen Systems".

Erneut war die Moskauer Mittelschicht aufmarschiert, gut Ausgebildete mit mäßigem bis gutem Einkommen. Das politische Spektrum reichte von Rechtsliberalen der Solidarnost-Bewegung über kommunistische Gruppen, Anarchisten, der Piraten-Partei bis hin zu den russischen Rechtsradikalen. Ein großer Teil der Demonstranten war politisch nicht festgelegt.

Die Star-Redner auf der Veranstaltung waren nicht die altbekannten Politiker der außerparlamentarischen Opposition, sondern Kulturschaffende und Journalisten, die zuvor bei einer Abstimmung per Facebook ermittelt und gleich zu Anfang der Kundgebung sprechen durften.

Foto: Ul Heyden

Boris Nemzow und Michail Kasjanow, unter Boris Jelzin Vizepremier und Finanzminister, wurden auf der Kundgebung mit Pfeifkonzerten empfangen. Als erfahrene Organisatoren und Strategen werden diese liberalen Politiker von der Masse – so scheint es – nur noch geduldet. Publikums-Lieblinge sind sie nicht.

Beifall gab es dagegen für die Kulturschaffenden. "Uns erwartet ein schweres aber interessantes Jahr", erklärte der Schriftsteller Boris Akunin. Der Journalist Leonid Parjonow verglich die Zeit unter Putin mit der Zeit der Stagnation unter Leonid Breschnjew.

Wohin die neue Bewegung genau will, ist allerdings unklar. Eine wirkliche Führungsfigur ist bisher nur der Blogger Aleksej Nawalny. Den Drang ein politisches Programm auszuarbeiten, gibt es unter den Aktivisten nicht, denn Programmdiskussionen könnten das buntscheckige Bündnis sprengen. Der Proteststimmung in Moskau tut das Fehlen der Inhalte aber bisher keinen Abbruch. Noch hält der Putin-Frust die Bewegung am Laufen.

Foto: Ul Heyden

Drei Rechtsradikale und ein Antifaschist

Zu den über zwanzig Rednern auf der Kundgebung gehörten immerhin drei führende Rechtsradikale, Konstantin Krylow, Wladimir Tor und Wladimir Ermojajew. Einfallstor für die Rechtsextremen war die Facebook-Abstimmung über die Rednerliste. Gleich nach dem ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin drückte eine der Veranstalterinnen dem Rechtsextremisten Wladimir Tor das Mikrofon in die Hand. Doch kaum hatte Tor mit seiner Rede begonnen, schallten schon Sprechchöre: "Uchodi!" (Abtreten). Als der Rechtsradikale seine Rede mit dem Ruf "Es lebe Russland" beendet hatte, war es offenbar selbst einem der Veranstaltungsleiter peinlich. Er stimmte den ausländerfreundlichen Sprechchor "Russland für alle" an. Die Menge rief die Parole dankbar mit.

Gegen Ende der Kundgebung sprach dann der Antifaschist Aleksej Gaskarow. Er saß drei Monate in Untersuchungshaft wegen angeblicher Gewaltanwendung bei den Protesten gegen den Bau der Autobahn von Moskau nach St. Petersburg. Gaskarow rief dazu auf, sich aktiv am Aufbau einer Zivilgesellschaft in Russland zu beteiligen. Der Antifaschist verwies auf die Occupy-now-Bewegung im Westen und erklärte, nun gäbe es auch in Russland die Chance, dass die Macht von den Bürgern kontrolliert wird und dabei nicht in die 1990er Jahre zurückfällt.

In den Abendnachrichten auf dem staatlichen Fernsehsender Rossija 1 wurde relativ fair über die Protestkundgebungen in Moskau und anderen Städten Russlands berichtet. In Russland beginnt jetzt die Zeit der Neujahrsferien, die sich bis zum Mitte Januar hinziehen. Doch es sieht ganz so aus, als ob es mit der Protestbewegung nach der Ferienzeit weitergeht.