Hacker zwingen Polens Regierung zur Debatte über ACTA

"Uns droht der Ausnahmezustand", warnt Stanislaw Kozej, der Chef des "Büros für nationale Sicherheit" (BBN), der polnischen Variante des Verfassungsschutzes

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Seit dem Wochenende haben polnische Hacker Webseiten der Regierung und Behörden zum Absturz gebracht. Die Gruppe PolishAnonymous, die der gleichnamigen weltweiten Protestbewegung angehörigen will, kämpft so gegen die geplante Unterzeichnung des internationalen Abkommens ACTA. "Letzte Chance für die polnische Regierung - verwerft ACTA oder die Bevölkerung zieht ihre Konsequenzen", drohten die Aktivisten auf Twitter.

Premier Donald Tusk soll am 26. Januar in Tokio die umstrittene Vereinbarung unterzeichnen, die eine bessere Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen auch im Internet ermöglicht. ACTA, was sich aus dem Englischen mit "Antifälschungs-Handelsabkommen" übersetzen lässt, soll den Kampf gegen Urheberrechtsverletzung und Produktpiraterie international abstimmen und verbessern. An den geschlossenen Verhandlungen haben Minister aus 39 Staaten teilgenommen, darunter die USA, Japan und die 27 EU-Mitglieder.

Noch vor einigen Tagen lobte das polnische Wirtschaftsministerium die Vorbereitungen zu ACTA als einen "Erfolg" der polnischen EU-Präsidentschaft - am 15. Dezember habe der Europäische Rat dank polnischer Anstrengung die Unterschrift des ACTA-Abkommens beschlossen.

Vermutlich wurder der polnische Internetangriff durch die erfolgreichen Protestaktionen in Amerika angefeuert. Dort hatte der Senat die Verabschiedung eines Gesetzes gegen Urheberrechtsverstöße (PIPA) verschoben, das Repräsentantenhaus tat das Gleiche mit dem Gesetzesentwurf gegen Internetpiraterie (SOPA) (SOPA/PIPA-Proteste vorerst erfolgreich).

Doch während die amerikanischen Internetaktivisten, allen voran Wikipedia, die eigenen Seiten schwärzten, hackten die Polen in bester "Untergrundtradition" die Seiten der Ministerpräsidentenkanzlei, des Präsidenten, des Sejms, der polnischen EU-Vertretung und auch die des Geheimdienstes ABW.

Das Internet ist ein populäres Medium in einem Land, in dem die Entscheidungsträger weit jünger als in Deutschland sind. Kaum ein Politiker, der nicht aufwändig einen eigenen Blog betreibt und sich dort oft mehr aus dem Fenster lehnt als in den Debatten des Sejms.

Um so unverständlicher erschien die Reaktion von Regierungssprecher Pawel Gras, der anfangs versuchte, die Lage zu beschönigen - die Websites seien nur wegen des großen Publikumsinteresse zusammengebrochen, so seine Erklärung am Sonntag.

Doch die "PolishAnonymous", über deren Herkunft man offiziell kaum etwas weiß, setzten mit Drohungen nach. Man habe Unterlagen von Abgeordneten, die veröffentlicht werden, sollte keine Diskussion stattfinden und sollte Tusk das Abkommen am Donnerstag unterzeichnen.

Dieser Druck scheint zu wirken: Die gesamte Opposition plädierte am Montage gegen ACTA, allen voran der ehemalige Wodka-Unternehmer Janusz Palikot, der mit seiner linksliberalen Partei "Bewegung Palikot" Polen zu einem "progressiven" Land umgestalten will. Er appellierte an die Internetaktivisten, die Regierungs-Webseiten in Ruhe zu lassen und dafür das Facebook-Profil des Premiers zu hacken.

Unter Polens Internetlobbyisten stieß die Form des Hackerprotests jedoch nicht überall auf Zustimmung. Gegendemonstrationen in mehreren Städten sind geplant und auch die Internet Society Poland, Mitglied der weltweiten Internet Society, lehnte die Angriffe ab.

Die Hacker lassen jedoch nicht locker. Weiterhin sind Websites der Regierung blockiert. Einige alternative Nachrichten- und Blogportale wie www.joemonster.org, ittechblog.pl oder www.wykop.pl wollen heute eine schwarze Seite präsentieren oder allein über die Gefahren der Internetfreiheit durch ACTA aufklären.

Michal Boni, Polens Minister für "Verwaltung und Digitalisierung" erklärte, dass der Vertrag von Polen vielleicht nicht unterzeichnet werde. Es sei ein Fehler gewesen, die Bevölkerung nicht über die bisherigen ACTA-Verhandlungen zu informieren. Gleichzeitig gab Boni bekannt, dass die gesamten Daten aus dem Laptop seines Vizeministers entwendet wurden.

Nach einem Gespräch mit Premier Donald Tusk kündigte er an, dass die Regierung unklare Passagen, die die Meinungsfreiheit beträfen, am Dienstag überarbeiten wolle. Ansonsten, so der Minister, würde ACTA keinem polnischen Gesetz widersprechen. Das Inkrafttreten von ACTA sei zudem von einer Abstimmung im polnischen Sejm abhängig. "Die Regierung wird wohl das Abkommen in Tokio unterschreiben", so interpretieren die Medien die Pressekonferenz des Ministers, der dies jedoch nicht explizit zum Ausdruck brachte.

Immerhin gibt sich die polnische Regierungsbehörde gegenüber dem geplanten Abkommen offiziell kritisch. Das Wort "Erfolg" ist im Zusammenhang mit ACTA und der EU-Präsidentschaft auf der Seite des Wirtschaftsministeriums nun gestrichen worden - von der Behörde selbst, nicht von den "PolishAnonymous".