Das deutsche Europa nimmt Gestalt an

Merkel setzt sich durch, aber macht einen Rückzieher beim "Sparkommissar", nur die Eurokrise wurde auf dem EU-Gipfel nicht gelöst

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Ein Fiskalpakt verbietet künftig Budgetdefizite, ein Wachstumsprogramm fordert Strukturreformen, und Griechenland droht die totale Entmündigung - beim EU-Gipfel bekam Merkel fast alles, was sie wollte. Nur die Eurokrise wurde nicht gelöst, im Gegenteil: Jetzt wackelt auch noch Portugal.

Beim EU-Gipfel in Brüssel sollte Griechenland eigentlich ein "Nicht-Thema" sein. Diese Devise hatte Kanzlerin Merkel vor ihrer Abreise aus Berlin ausgegeben. Doch gleichzeitig hatte ihre Regierung - man weiß noch nicht, ob es das Finanz- oder das Wirtschaftsministerium war - ein nicht signiertes Strategiepapier in die Welt gesetzt, in dem die Einführung eines "Sparkommissars" für Griechenland gefordert wurde.

Der französische Präsident Sarkozy sieht ein wenig gequält aus. Bild: Europäischer Rat

Vermutlich war das Papier als Antwort auf jüngste Forderungen aus Brüssel gedacht, die Hilfe für Griechenland aufzustocken - statt der vorgesehenen 130 Mrd. Euro werden beim zweiten Hilfsplan wohl mindestens 145 Mrd. benötigt, um die drohende Pleite abzuwenden. Doch mehr Geld für die "Pleite-Griechen" freizugeben, ist in der schwarzgelben Koalition tabu. Lieber erhöhen wir den Druck auf Athen, hieß offenbar die Taktik in Berlin.

Doch in Brüssel ging der Schuss mit dem "Sparkommissar" voll nach hinten los: Alle hackten auf Merkel herum, als die sich durch den Generalstreik gegen die "Austeritätspolitik" zum EU-Ratsgebäude durchgekämpft hatte. Österreichs Kanzler Werner Faymann kritisierte die deutsche "Beleidigung", Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn verwahrte sich gegen eine "Drohung". Sogar Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker ging auf Distanz: Ein Sparkommissar nur für Griechenland sei "inakzeptabel".

Angesichts des geballten Widerstands blieb Merkel schließlich nichts anders übrig, als sich von dem deutschen Vorschlag zu distanzieren - jedenfalls vorläufig. "Ich glaube, dass wir eine Diskussion führen, die wir nicht führen sollten", sagte sie zunächst. Indirekt sprach Merkel sich dann aber doch wieder für einen Oberaufseher aus: "Es geht darum, wie kann Europa unterstützen, dass in Griechenland die Dinge eingehalten werden, die als Auflagen gegeben werden." Im Klartext: Der Sparkommissar bleibt auf der Tagesordnung - auch wenn sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy damit brüstete, einen "Vormund" für Griechenland verhindert zu haben.

Griechenland wurde vertagt

Merkel strebt für Athen nun ein "Gesamtpaket" an, das nicht nur die umstrittene schärfere Budgetkontrolle, sondern auch die seit Monaten geplante Umschuldung und den nächsten Rettungsplan enthalten soll. Angesichts des Gezerres um die Umschuldung - seit Wochen wird eine Einigung mit den privaten Gläubigern verkündet, um kurz darauf wieder vertagt zu werden - verheißt dies nichts Gutes. Schließlich hatte Merkel schon im letzten Oktober ein "Gesamtpaket" versprochen - doch die damit verbundene Rechnung ging nie auf. Der Schuldenschnitt fiel immer zu gering, das Wachstum zu schwach und das Budgetdefizit zu hoch aus.

Wer vom EU-Gipfel ein positives Signal für die "Rettung" Griechenlands erwartet hatte, wurde denn auch enttäuscht. Das Thema wurde wieder einmal vertagt, womöglich wird es einen weiteren Sondergipfel Anfang Februar geben. Auch aus Portugal kamen schlechte Nachrichten: Die Regierung in Lissabon brauche möglicherweise - wie Athen - ein zweites Rettungspaket, hieß es am Rande des Brüsseler Treffens. Prompt brach der Euro ein.

Doch Merkel ließ sich von den schlechten Nachrichten nicht beeindrucken. Sie hielt sich strikt an das geplante Programm: Erst ein Treffen mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und dem italienischen Premier Mario Monti. Dann die Arbeitssitzung mit allen 27 Chefs zu den Schwerpunktthemen des Gipfels: der Fiskalpakt und das Wachstum. Und danach, so hieß es im Umfeld der Kanzlerin, werde man weiter sehen, ob es noch Gesprächsbedarf gebe.

Merkel gelassen. Bild: Europäischer Rat

Nicht alles lief nach Merkels Plan

Es war eine Agenda so ganz nach dem Geschmack der Kanzlerin. Schließlich hatte sie die Themen Fiskalpakt und Wachstum höchstpersönlich auf die Tagesordnung gesetzt. Schaut her, wir kümmern uns nicht nur ums Sparen, sondern auch um die Ankurbelung der Wirtschaft und um die Beschäftigung, lautete die frohe Botschaft aus Berlin.

Allerdings lief nicht alles nach Plan. Erst drängte sich der neue Präsident des Europaparlaments, der SPD-Politiker Martin Schulz, in den Vordergrund. Er verurteilte nicht nur Merkels "Sparkommissar", sondern forderte auch noch, künftig an allen Gipfeln teilzunehmen. Merkels Geheim-Diplomatie hinter verschlossenen Türen ist den Europaabgeordneten schon lange ein Dorn im Auge. "Wir beide neigen nicht dazu, die Differenzen unter den Tisch zu kehren", sagte Merkel nach dem turbulenten Gespräch mit Schulz.

Dann stellten sich Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei quer. Auch sie fordern, künftig an allen Euro-Gipfeln beteiligt zu werden. Andernfalls werde man die Unterschrift unter Merkels Fiskalpakt verweigern, drohte Premier Donald Tusk. Doch am Ende wurde eine Zwischenlösung gefunden: Künftig sollen die Osteuropäer zu allen Treffen eingeladen werden; ob sie auch mitreden dürfen, wird dann von Fall zu Fall festgelegt.

Zuvor war Merkel bereits weitere Kompromisse eingegangen. So muss die Schuldenbremse, die der Fiskalpakt vorschreibt, nicht zwingend in der Verfassung aller Euroländer festgeschrieben werden. Bei Verstößen gegen den Pakt, der das zulässige Budgetdefizit auf 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung absenkt (bisher drei Prozent), droht auch keine automatische Klage vor dem Europäischen Gerichtshof mehr. Erst wenn die EU-Kommission den Verstoß feststellt und ein Euroland klagt, kommt es zum Prozess.

Doch auch diese Kompromisslösung birgt reichlich Sprengstoff. Schließlich bedeutet sie, dass künftig Deutschland seinen Partner Frankreich verklagen müsste, wenn Paris das Defizit überzieht. Oder dass Finnland gegen Griechenland vorgehen könnte. Das Ganze sei eine "Behelfslösung", heißt es denn auch in deutschen Regierungskreisen.

Die Wunschlösung, bei der die EU-Kommisson das Heft in der Hand behält, ließ sich jedoch aus rechtlichen Gründen nicht umsetzen. Denn Großbritannien und Tschechien machen beim Fiskalpakt nicht mit. London wacht nun mit Argusaugen darüber, dass die Kommission nicht ihre Kompetenzen überschreitet. Nach bisher gültigem EU-Recht darf die Brüsseler Behörde aber nicht vor dem Gerichtshof klagen.

Sparzwang: das Fundament des "deutschen Europas"

Der ganz große Wurf ist es also nicht geworden, Spötter sprechen schon von einem "zahnlosen Tiger". Doch für Merkel wäre es schon ein großer Erfolg, wenn sie ihren Fiskalpakt beim nächsten regulären EU-Gipfel Anfang März verabschieden kann und er wie geplant 2013 in Kraft tritt. Denn damit würden Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild "bindend und ewig gültig" eingeführt, wie die Kanzlerin schwärmte. Selbst wechselnde Mehrheiten in den Parlamenten könnten den neuen Sparzwang "niemals ändern".

Damit wäre ein Fundament des "deutschen Europas" in Stein gemeißelt. Das vornehmste Recht des Parlaments, das Budgetrecht, wäre auf einen Schlag kastriert: Mehr als 0,5 Prozent Defizit sind künftig nicht mehr drin. Zwar hält sich bisher nicht einmal Deutschland an diese eherne Regel; auch die Schuldenbremse hat ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden. Merkel freute sich trotzdem über diesen "großen Fortschritt auf einem langen Weg".

Und damit das Ganze nicht allzu sehr nach preußischer Disziplin und prozyklischer Politik mitten in einer nahenden Rezession aussieht, verabschiedete die EU auch noch einen Plan für "wachstumsfreundliche Konsolidierung und beschäftigungsfreundliches Wachstum". Dafür wird zwar kein neues Geld in die Hand genommen; man will lediglich die bereits fest eingeplanten Strukturmittel in Höhe von 82 Mrd. Euro umwidmen. Das Ganze wurde aber hübsch verpackt - als aktiver Kampf gegen die grassierende Jugenarbeitslosigkeit und als Förderung des Mittelstands.

Die EU-Staaten sollen sich bei den neuen Maßnahmen an den Besten orientieren. Neben Skandinavien ist dies - wer sonst - wieder einmal Deutschland.