Merkels Spardiktat treibt Europa immer weiter in die Krise

Schuldenbemse: Beobachter warnen vor einer Gefahr für die Demokratie

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Der Beschluss des EU-Gipfels ist eindeutig: Es soll kräftig gespart werden in Europa. Angela Merkel hat sich durchgesetzt, ihr "Fiskalpakt" wird kommen. Das wichtigste Element ist für Merkel dabei die sogenannte "Schuldenbremse". Für die Unterzeichner des Fiskalpakts - es beteiligen sich alle EU-Länder mit Ausnahme von Großbritannien und Tschechien - bedeutet das: Sie müssen in ihrer Verfassung festschreiben, dass ihr Haushaltsdefizit künftig nicht oberhalb von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen wird. Für Angela Merkel, die sich offenbar als eine Art "europäisches Sparschwein" sieht, ist das "ein wichtiger Schritt zu einer Stabilitätsunion". Doch im Gegenteil wird die Lage in Europa durch Merkels "Stabilitätspolitik" nur noch instabiler. Davor warnt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung.

Die Schuldenbremse, so erklären die Autoren der Analyse, sei vor allem deshalb so populär und vielfach als vorbildlich im Gespräch, weil sie in den Augen vieler als Ursache für die günstigen Konditionen angesehen werde, mit denen sich Deutschland an den Kapitalmärkten finanzieren kann. Strenge Regelungen bei der Neuverschuldung, so die Logik, führe zu einem Glaubwürdigkeitsgewinn an den Finanzmärkten, was wiederum die Zinsen für neue Kredite senke.

Nach diesem Denkmuster, das mittlerweile in allen deutschen Parteien mit Ausnahme der Linkspartei mehr oder weniger zum Mainstream geworden ist, sind Schuldenbremsen für Europa die Lösung für die gegenwärtige Krise und die einzige Möglichkeit, den Euro zu retten. Für Achim Truger und Henner Will, die die Analyse verfasst haben, ist dieses Denken "falsch und für den Fortbestand des Euro extrem gefährlich". Die Verengung der Euro-Krise auf die Staatsschulden ist für sie unzulässig, zudem sei die Annahme, die Finanzmärkte würden sich rational verhalten, "geradezu grotesk" und "längst widerlegt".

Das zeigen die Autoren an der Ausgestaltung der Schuldenbremse im Grundgesetz: Diese sieht eine strukturelle Netto-Neuverschuldung von maximal 0,35 Prozent des BIP vor. Wächst das BIP um jährlich drei Prozent, würde das eine gesamtstaatliche Schuldenstandquote von 11,7 Prozent bedeuten. Von einer derart niedrigen Verschuldung allerdings sind nahezu alle Länder seit jeher weit entfernt.

Truger und Will verweisen denn auch darauf, dass allgemein in der Wissenschaft erst eine Schuldenstandsquote von 80 oder 90 Prozent als kritisch eingestuft wird. Die Schuldenbremse setzt, so ihre Schlussfolgerung, eine willkürliche Zielmarke, die sich durch nichts rechtfertigen lässt. Die Autoren sprechen sich stattdessen dafür aus, die auch bisher angewandte "Goldene Regel" beizubehalten. Diese erlaubt eine strukturelle Neuverschuldung in Höhe der öffentlichen Nettoinvestitionen. Der Grund dafür ist simpel: Zwar belastet die Neuverschuldung künftige Generationen. Zugleich ziehen diese aber auch einen Nutzen aus den Investitionen. Verschuldet sich also der Staat, um Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen, Universitäten und Infrastrukturmaßnahmen, wie sie beispielsweise für die Energiewende notwendig sind, zu finanzieren, dann profitieren auch die nächsten Generationen noch direkt davon.

Die von der Bundesregierung gewählte Methode zur Ermittlung des strukturellen Defizits ist äußerst gestaltungsanfällig, so die Autoren. Grafik: Böckler-Institut

Sparpolitik auf Kosten der künftigen Generationen

Wie die Schuldenbremse kommende Generationen belasten kann, demonstriert hierzulande gerade Sachsen: Das von Schwarz-Gelb geführte Bundesland ist auf Platz eins in den Rankings der Verfechter der Schuldenbremse. Sachsen als "Konsolidierungs-Spitzenreiter" im Ländercheck der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Das klingt toll. Nachhaltig ist es aber nicht. Das Land spart wo es kann - und leidet unter akutem Lehrermangel. 4.000 Unterrichtsstunden fallen jede Woche aus, die Schüler im Freistaat gehen auf die Straße.

Die Situation wird in den nächsten Jahren jedoch eher noch schlechter. Innerhalb der nächsten acht Jahre verlässt über ein Viertel der Lehrer in Sachsen die Schule. Bis 2030 sind 73 Prozent der derzeit aktiven Lehrer im Ruhestand: Das Land hat zu lange keine Nachwuchs-Lehrkräfte an die Schulen geholt, das heutige Personal ist hoffnungslos überaltert. Für eine Weile mag diese Art der Sparpolitik auf dem Papier gut aussehen, mittelfristig gräbt sich Sachsen selbst das Wasser ab. Wer heute kein Geld für Bildung hat, muss morgen auf Steuereinnahmen verzichten, wenn Unternehmen wegen Fachkräftemangels das Weite suchen - und stattdessen in Sozialtransfers "investieren".

Auch Ratingagenturen warnen vor einseitigem Sparen

Dabei ist es ein Trugschluss, dass "die Finanzmärkte" einen harten Sparkurs automatisch honorieren würden. Denn selbst Ratingagenturen wie Standard & Poor's sehen die Sparpolitik als krisenverschärfend an - und warnen ausdrücklich, diese weiter fortzusetzen: "Während sich die europäische Wirtschaft abkühlt, erwarten wir, dass ein Reformprozess, der allein auf der Säule von Sparanstrengungen ruht, zwecklos ist, wenn die Sorgen der Bürger um Jobs und Einkommen wachsen, die Nachfrage schrumpft und die Steuereinnahmen der Staaten erodieren."

Doch die Politik will derartige Kritik nicht wahrnehmen - egal, ob sie von kritischen Ökonomen oder von Ratingagenturen vorgetragen wird. Anders ist es nicht zu erklären, wenn Finanzminister Schäuble auf die jüngste Herabstufung von neun Staaten aus der Euro-Zone damit reagiert, dass er Standard & Poor's vorwirft, die Agentur habe nicht ausreichend bewertet, was die betroffenen Länder zur Reduzierung der Defizite getan hätten. Anders als Schäuble hat die Agentur offenbar begriffen, was es bedeutet, wenn ganz Europa gleichzeitig auf die Schuldenbremse tritt - und daraus Konsequenzen gezogen.

Doch Union und FDP bejubeln trotz aller Warnungen und des drastischen Wirtschaftseinbruchs in Ländern wie Griechenland die Sparpolitik der Kanzlerin - und wissen dabei die Bild-Zeitung hinter sich, die populistisch fordert: "Schluss mit den Schulden, Ihr Euro-Sünder!" Dabei ist selbst dem Springer-Blatt nicht entgangen, dass das Sparprogramm für Griechenland "dramatische Folgen" hat und zu explodierender Arbeitslosigkeit und sinkenden Steuereinnahmen führt.

Ganz unabhängig von den sozialen Folgen der griechischen "Haushaltssanierung", die letztlich nur für steigende Defizite sorgt, muss sich die Bundesregierung fragen, wie ein Land wirtschaftlich auf die Beine kommen soll, wenn so elementare Dinge wie die Gesundheitsversorgung aus finanziellen Gründen kurz vor dem Zusammenbruch stehen.

"Demokratien werden weder von extremistischen Parteien noch von Terroristen zu Fall gebracht, sondern durch das Versagen ihres gewählten Führungspersonals"

Einen strukturell nahezu ausgeglichenen Haushalt zu verlangen, ohne die bestehende Lücke bei den Einnahmen des Staates zu schließen, ist für Truger und Will daher "ein extrem riskanter Kurs mit potenziell negativen Folgen für Wachstum und Beschäftigung im Anpassungsprozess - auch und gerade angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage im Euroraum insgesamt". Würden dann noch "notwendige zentrale Zukunftsinvestitionen unterbleiben, dann ist überdies auch der viel beschworenen Generationengerechtigkeit nicht gedient".

Zudem kritisieren die Analysten, dass die Schuldenbremse nach deutschem Vorbild nicht nur im Abschwung, sondern auch im Aufschwung pro-zyklisch wirkt, weil sie dann tendenziell ein zu großes Defizit zulasse und damit die Konjunktur zusätzlich anheize.

Selbst der ehemalige Verfechter der Schuldenbremse, der frühere rheinland-pfälzische Finanzminister Ingolf Deubel (SPD) ist mittlerweile von dieser Art der Sparpolitik nicht mehr überzeugt: Er habe "zum Zeitpunkt meiner Zustimmung im Bundesrat die aus diesem Ausführungsgesetz für den Bundeshaushalt folgenden Konsequenzen nicht in allen Facetten überschaut" und würde aus heutiger Sicht "dem Bund dringend von einer solch präzisen Festlegung auf ein so unpräzises Verfahren abraten", zitiert ihn das IMK. Noch 2009 war für ihn jeder Vorschlag, die Schuldenbremse zu lockern, "brandgefährlich".

Trotzdem bleibt die Opposition auffallend ruhig, wenn es um Kritik an den Sparbeschlüssen des Eurogipfels geht. Das ist kein Wunder: Immerhin sind auch SPD und Grüne Verfechter der Schuldenbremse. Einzig die Linkspartei geht auf Abstand zu den Gipfelbeschlüssen. Deren Vorsitzende Gesine Lötzsch sprach von einem "Pyrrhussieg der Kanzlerin". "So wie die Kanzlerin mit Kürzungspaketen Griechenland in die Rezession getrieben hat, so wird sie jetzt ganz Europa mit diesem Pakt in die Rezession treiben. Schulden werden nicht in erster Linie durch Haushaltskürzungen abgebaut, sondern durch Steuermehreinnahmen. Das erleben wir übrigens gerade in Deutschland", so Lötzsch weiter.

Und so mehren sich mittlerweile die Stimmen, die davor warnen, dass Angela Merkels Sparkurs sogar eine Gefahr für die Demokratie werden könnte - mit Verweis auf die Weimarer Republik, in der auch die hohen Reparationszahlungen und die Austeritätspolitik den Extremisten die Menschen in die Arme trieb. "Demokratien werden weder von extremistischen Parteien noch von Terroristen zu Fall gebracht, sondern durch das Versagen ihres gewählten Führungspersonals", stellt der Ökonom Karl Georg Zinn ebenso treffend wie resignierend in einem aktuellen Beitrag für die "Blätter für deutsche und internationale Politik" fest.

Und selbst die konservative FAZ ist sich mittlerweile sicher, dass wir bereits in der Postdemokratie angekommen sind. Die Regierungen Italiens und Griechenlands seien "bloße Notstandsverwaltungen, die Reformen beschließen, Einsparungen durchsetzen, Personalentscheidungen treffen, zu denen über viele Jahre die demokratisch gewählten Regierungen der Parteien nicht fähig waren".

Am Ende, so scheint es, kann auch ein Sparschwein eine riesengroße Sauerei hinterlassen.