Polens Anti-ACTA-Proteste - die Internauten bleiben auf der Straße

Tage nach der Unterzeichnung des ACTA-Abkommens am vergangenen Freitag will das Thema in Polen nicht aus den Schlagzeilen und Feuilletons weichen

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Auf der Straße wie im Internet gehen die Proteste weiter: Danzig und Stettin waren aufgrund von Demonstrationen am Mittwoch verstopft. Am Freitag, eine Woche nach der verhängnisvollen Unterschrift von Premier Donald Tusk, soll es in den weiteren Städten zu Massenkundgebungen kommen - trotz prophezeiter Rekordkälte.

Unter den Demonstranten sind junge Anhänger der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) sowie linke Gruppen, die auf den Straßen gemeinsam eine Rücknahme des umstrittenen Urheberrechtsschutzes forderten - eine gesellschaftliche Erscheinung, die vor kurzem wohl niemand für möglich gehalten hatte. Vor allem, wenn man an die Ausschreitungen zwischen Linken und Rechten am Unabhängigkeitstag im vergangenen November in Warschau denkt.

Die meist ungenehmigt stattfindenden, teilweise gewalttätigen Protestaktionen wurden bislang von der Polizei nicht aufgelöst. Premier Donald Tusk fürchtet zur Zeit das Entstehen einer jungen Anti-Regierungsbewegung, die von der regierenden Partei "Bürgerplattform" immer weniger erreicht werden kann. Einer Partei, die übrigens selbst nach bester polnischer Tradition 2001 als "Anti-Partei" und Bürgerbewegung gegründet wurde und die die letzten Wahlen vor allem aufgrund mangelnder Alternativen erneut gewann. Tusk wird ein zunehmend intransparenter Regierungsstil vorgeworfen, dem es an einer wirklichen Beteiligung der Einwohner fehlt.

"Dies ist die authentischste Bürgerbewegung des Landes seit 1989!", sagte darum frohlockend Tomasz Lis, einer der einflussreichsten Journalisten des Landes, der eine eigene Talk-Showo im staatlichen Fernsehen und das Wochenmagazin Wprost leitet. Lis gibt sich gerne als ein Anwalt der "einfachen Polen".

Auch der selten regierungskritische Präsident schaltet sich nun ein: Bronislaw Komorowski richtete am Mittwoch medienwirksam eine Anfrage an Irena Lipowicz, die Ombudsfrau für Menschenrechte, ob die ACTA-Ratifizierung nicht etwa eine "Begrenzung" der Bürgerrechte mit sich bringe.

Lipowicz erklärte darauf, dass eine Art "runder Tisch" notwendig sei, bei dem sich Experten der Regierung und der Protestaktionen zusammensetzen müssen. Die Konferenzen sollten dann - ganz im Zeichen der neuen Zeit - via Internetübertragung zu verfolgen sein. Zu einer Unterredung mit dem Präsidenten am Donnerstag sind jedoch nur Vertreter der Ministerialebene eingeladen.

"Das Recht, Zugang zu Kulturgütern zu haben, ist ein Menschenrecht"

Der Protest nimmt teilweise bizarre Formen an. Ronald Reagan, den konservative Polen als "Mitbefreier" vom Kommunismus ehren, trägt mittlerweile die bekannte "Vendetta-Maske", zumindest dessen Statue vor der amerikanischen Botschaft.

Eine Aktion, die auf das Konto der linksliberalen Oppositionspartei "Bewegung Palikot" geht. Się will auch weiter Denkmäler "maskieren", darunter die Nationalhelden Frédéric Chopin, Adam Mickiewicz und Nikolaus Kopernikus und so die polnischen Dichter und Denker ungefragt zu ihren Verbündeten machen.

"Das Recht, Zugang zu Kulturgütern zu haben, ist ein Menschenrecht", erklärt dazu Parteiführer Janusz Palikot in seinem Blog. Der ehemalige Weggefährte Donald Tusks interpretiert die Internetfreiheit sozialrevolutionär als "der letzte Brotkrumen" der "Millionen Armen in Polen", der jüngeren, die sich mit Zeitverträgen über Wasser halten müssen. Der ACTA-Streit sei darum ein Streit um die "Würde" dieser Generation.

Man weiss bislang nicht viel über die Protestler. Nach Umfragen sind sie hauptsächlich männlich und unter 24 Jahre alt.

Der Oppositionspolitiker, der noch am Mittwoch Abend von einem Schwätzchen mit Martin Schulz und Daniel Cohn-Bendit aus Brüssel bloggte ist für provokante Thesen und Auftritte bekannt, sowie für eine widersprüchliche Vita.

Palikot, Jahrgang 1964, wuchs im erzkatholischen Lublin auf, glaubt seit dem 16. Lebensjahr nicht mehr an Gott und schloss sein Philosophiestudium mit einer Arbeit über Kant ab. Danach entschied er sich dafür, richtig Geld zu verdienen, stieg in den Alkoholhandel ein und wurde zu einem Millionär und Wodka-Fabrikbesitzer. Die harten frühkapitalischen Neunziger und die Branche, in der er sich sich durchsetzte, wo man es mit Arbeitermitbestimmung und Gerechtigkeitsdenke nicht weit brachte, lassen heute Zweifel an der Redlichkeit seines aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Programms laut werden. Mit der konservativ-liberalen Bürgerplattform, der er von 2005 bis 2010 angehörte, brach er, weil er mit einer neuen, progressiven Partei Polen modernisieren wollte.

Seitdem hat er sich als Gegner die katholische Kirche auserkoren, der er vorwirft, sich von der Kaczynski-Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) instrumentalisieren zu lassen. Darum soll auch die 36 Meter hohe Jesus-Figur im westpolnischen Swiebodzin bald mit einem schnurrbärtigen Grinsegesicht auf die Pilger herab schauen. Die Partei sammelt bereits, um sich einen Hubschrauber zu mieten.

Die medialen Auftritte des "Polit-Clowns", wie ihn seine Gegner nennen, passen nicht allen Protestlern. Auf der einflussreichen Webseite Stop Acta verwahrten sich namhafte Aktivisten gegen die Vereinnahmung der Bewegung durch die Politik. Auch bei Protestkundgebungen wurde Palikot schon ausgepfiffen.

Offen bleibt, was die "Internauten", wie sich die Netz-Gemeinde in Polen bezeichnet, über die Abschaffung von ACTA hinaus wollen. Wahrscheinlich ist ihr Protest wirklich im engeren Sinne unpolitisch und antipolitisch, also gegen die bestehenden Parteien gerichtet.

Denn die polnische Piratenpartei, die sich als Plattform der neuen Bewegung anbietet, vermag nicht auf der Welle der Entrüstung segeln - auf ihrer Facebook-Seite finden sich nicht einmal 1000 Befürworter.