Internetbekanntschaft: Sprache trifft Schrift

Auf den ersten Blick scheint es schwer, den besonderen Kniff zu erkennen, der dem Internet zum weltweiten Siegeszug verholfen hat: Im Internet fallen Schriftkultur und Sprachkultur zusammen

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Dieser einmalige Vorgang birgt viele Chancen. Doch der kommerzielle Wüterich in Gestalt der allgegenwärtigen Webkonzerne bedroht die Artenvielfalt dieser kulturellen Mutation.

Die mündliche Perspektive gilt seit langem als Mangelkultur, der die Speichermöglichkeiten für Wissen aller Art fehlt. Dabei sind es die Mythen, die all das in sich tragen, was das Gedächtnis von drei Generationen überdauern soll. Alles Wissen, das nicht in eine Überlieferung eingeht oder permanent von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird, verfällt. Dieser effiziente Umgang mit all den Erkenntnissen, deren Halbwertszeit selten größer als ein paar Monate ist, kann uns Vorbild werden. Denn aktuell handeln wir gegenläufig und heben selbst den kleinsten Schnipsel Buchstabensalat auf.

Das hat Gründe. Denn vor allem der Hang zur Selbstanalyse leitet sich von den formal-logischen Operationen ab, die wir im Schriftcode praktizieren. Und so sammeln wir allerlei Daten über uns selbst und alle potentiell wichtigen Details der Realität in großen Aktenschränken und digitalen Ordnerstrukturen. Bisher hat uns gerade diese Archivtätigkeit des Aufbewahrens im Schreiben von sozialen Handlungen abgekoppelt. Wer schrieb, der war der Gesellschaft abhanden gekommen. Hohe kognitive Leistungen sind aber nicht allein beim Verfassen, sondern auch beim Ordnen der Texte vonnöten. Auf diese Weise bildete sich ein besonderer Umgang der Dichter und Denker mit den Produkten dieser zeitlosen Tätigkeit aus.

Das zeitgebundene und vor allem soziale Handeln im Sprechen hingegen war und ist in vielen Fällen chaotischer Natur. Deswegen findet Brainstorming fast ausnahmslos in Gesprächsrunden statt. Denn dort zählen der Moment und seine Assoziationen als besonderes Gut. Und Sokrates' Hinweis in Platons Phaidros, dass man weder die Schrift noch das Bild befragen kann, fokussiert den Kern des Problems der Schriftkultur: Die Buchstaben schweigen. Um sie zum Klingen zu bringen, brauchte es mittlerweile Heerscharen von Priestern und Schriftgelehrten. Denn selbst die Bibel war früher eine mündliche Überlieferung, die erst nach und nach in Schriftform gebracht wurde. Und dort lag der Inhalt fest in der Hand der weisen und gebildeten Männer.

Genau dieser Umstand änderte sich mit dem Internet. Texte werden von ganzen Armeen von Kommentatoren ausgelegt und diskutiert. Der universale Speicher des weltweiten Web ist erweitert um unmittelbare, spontane und trotzdem speicherbare Befragungen und Antworten. Aber auch schon vor den digitalen Weihen der Bits und Bytes war klar, dass sich die beiden Formen des Wissensaustauschs nicht ausschließen sondern eher ergänzen. Denn man geht davon aus, dass zumindest in unserer Welt die Schriftform erst um das siebte Jahrhundert vor Christus weite Verbreitung fand.

Vorher war das Übermitteln von Botschaften an besondere soziale Situationen gebunden, wie das Zusammenkommen der Sippe am Lagerfeuer beim Essen oder bei Festen. Auf diese Weise wird eine identitätsstiftende Unmittelbarkeit erzeugt, die dem Buch zum Teil abgeht. Aber gerade im Lesen im stillen Kämmerlein entsteht auch eine ungleich intimere Beziehung des Lesers zum Autor. Francis Picabia bezeichnete daher auch das Lesen als das Denken mit fremdem Gehirn.

Warum das Internet (noch) kein familiärer Platz zum Geschichtenerzählen ist

Was bis dato eine tolle Einrichtung war, zu historisch oder räumlich entfernten Menschen einen Kontakt aufzubauen, war mit dem Einzug des Internet mehr und mehr ein Last geworden. Kein Leser will ständig und überall mit fremden Gehirnen denken. Er verliert sich und sein eigenes Koordinationssystem – vor allem deswegen, weil die identitätsstiftende Einheit in der besonderen Situation am Lagerfeuer fehlt. Denn genau das ist das allgegenwärtige Internet nicht: ein familiärer Platz zum Geschichtenerzählen. Er könnte es sein.

Doch vor allem die Webkonzerne hindern uns daran, den virtuellen Ort zum Wohnort werden zu lassen. Sie liefern uns zwar eine veritable Grillhütte mit Holzbänken und einem Regendach, aber die besondere Situation, der Anlass der Zusammenkunft, wird jedes Mal durch optimierte Wandbemalung, personalisierte Grillkohle und eine wilde Laserlichtshow zunichte gemacht.

Was aber noch deutlich schlimmer ist: Google und Konsorten versuchen uns Themen und Interessen unterzuschieben, die wir gemeinsam überliefern und diskutieren sollten. Die Schriftform wird dabei immer weniger zur Gedächtnisstütze. Das Internet ist nicht mehr nur eine hohe Form der Mnemotechnik, das Netz übernimmt die Aufgabe des Archivars, der uns vorschreibt, welche Bände und Inkunabeln noch erstellt werden müssen, um das Weltwissen zu erweitern. Alles nur zu unserem Besten. Doch aus der oralen Kultur wissen wir, wie heilsam es ist, dass Wissen einfach untergeht, ohne je gespeichert zu sein. Der Mythos lässt nämlich viel Raum für Auslegung und Deutung. Damit ist sein Gehalt jederzeit anwendbar auf neue Situationen ohne als starre Handlungsanweisung einzuengen.

Schon im postmodernen Umgang mit Wissen im professionellen Umfeld ist eine Lücke offenbar geworden. Seit Ende der neunziger Jahre wurde mit Archivsystemen und letztlich sogar mit Wissensmanagement suggeriert, man könne nun endlich Zugang erhalten zum prozeduralen Gedächtnis der Menschen. Dort sind deren Fertigkeiten abgespeichert wie das Fahrradfahren und eben das Lösen von Problemen im Alltag. Man hatte sich daran gewöhnt, das Weltwissen und das episodische Wissen der Menschen in Wissensdatenbanken abzuspeichern. Gemeinsam mit Millionen von Datensätzen über Firmenkennzahlen sollte auf diese Weise ein Firmengedächtnis entstehen, das Entscheidungen und Fragen lösbar machen sollte. Ein ähnliches Vorhaben schwebt auch den Gründern von Google vor – nur für die ganze Welt.

Offenheit gegenüber der Kontingenz der Welt

Was bei all diesen Projekten außer Acht gelassen wird, ist die Kontingenz der Welt. Rein logisch betrachtet ist dies ein Zustand, der sowohl wahr als auch falsch sein kann. So eine Begebenheit ist digital nicht darstellbar. In der Soziologie und Philosophie wird damit die prinzipielle Offenheit der Lebenswelt gegenüber Unvorhersehbarem bezeichnet. Und genau so einen Raum öffnet die dialogische Plattform im Internet. Jederzeit ist alles denkbar und diskutierbar – wenn nicht ängstliche Regierungen diese Offenheit per Technologie oder Gesetz einschränken wollen.

Wohlmeinende Kräfte bezeichnen das Internet daher auch als eine Maschine, die potenziell einen Demokratisierungsprozess auslöst oder befördert. Im Kern jedoch ist es ein ideeller Ort der die alte Kultur der Zusammenkunft zum Zweck des Zuhörens mit dem neuen Streben nach Ordnen und Bewahren des ganzen Wissens verbindet.

In diesem Spannungsfeld hat Walter J. Ong seine Theorie der zweiten Oralität verortet. Er sah in seinem 1982 erschienen Buch Orality and Literacy: The Technologizing of the Word eine neue Form der Sprachkultur in Fernsehen und Radio am Werk. Ong bezeichnete sie als eine postliterarische Kultur, die sich mittels technologischen Fortschritts von den Behinderungen des Aufschreibens im stillen Kämmerlein befreit sah. Da gerade TV und Radio in vielerlei Hinsicht noch aufwändiger in der Produktion sind als das Niederschreiben von Gedanken in Bezug auf das Übermitteln von Wissen, kann man seine Gedanken eigentlich erst im Web realisiert sehen. Denn dort trifft sich in sozialen Netzwerken eine Gruppe von Menschen, um Themen zu erörtern, die oft spontan das Interesse der Webnutzer wecken und meistens genauso unmittelbar wieder hinter dem Mantel des Schweigens verschwinden.

Eine Betrachtung unserer postmodernen Auffassung von Wissensaustausch im Zeitalter des Web tut vor allem deshalb Not, weil das fehlende Theoriegebäude einen direkten Mangel in der Bildungspolitik auslöst. Das betrifft sowohl die Schulen wie auch die innerbetriebliche Ausbildung und das Personalwesen in Firmen. Wer sich dabei nur auf systemische Sichtweisen, Software als Werkzeuge oder gruppendynamische Prozesse zurückzieht, verpasst die einmalige Chance, unser archaisches Erbe mit der modernen und gegenwärtigen Kommunikationspraxis zu verbinden. Die Webkonzerne nutzen diese Herausforderungen aktuell nur deshalb zu ihren Gunsten, weil wir keine positiven Ziele formulieren wollen.