Japan: Das ganze Nuklearsystem war nicht auf Verantwortlichkeit ausgerichtet

Erste Bilder vom Roboter Quince2 aus dem 5. Stockwerk des Reaktors 2 in Fukushima. Bild: Tepco

Ab Mai wird Japan atomstromfrei sein, noch ist unklar, ob, unter welchen Bedingungen und wie viele der abgeschalteten Reaktoren wieder angefahren werden können

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Nach Schätzungen einer Expertengruppe des japanischen meteorologischen Instituts und dem Forschungsinstitut der Elektroindustrie wurden durch das Unglück im AKW Fukushima 1 ab Mitte März bis Anfang April 2011 zwischen 30.000 und 40.000 Terabecquerel an radioaktivem Cäsium freigesetzt. Verglichen mit Tschernobyl entspräche dies etwa 20 oder 30 Prozent der 1986 freigesetzten Menge.

In Japan wurde mit der Havarie des AKW Fukushima 1 das Vertrauen vieler Menschen nicht nur in die Atomtechnik, sondern auch in Politiker und Behörden nachhaltig zerstört. Zwar waren die Gefahren gerade in einem so erdbebengefährdeten Land wie Japan bekannt, aber kaum jemand nahm sie ernst. Tschernobyl war schon weit entfernt, die Katastrophe kam just in dem Moment, in dem die japanische Regierung die Atomtechnik noch weiter ausbauen wollte.

Nach dem Unglück, das auch mangelnde Kontrollen, eingesparte Sicherheitsmaßnahmen und fehlende Maßnahmen zum Katastrophenschutz offenbarten, wurden Stimmen laut, die forderten, die Verantwortliche strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Das fordern auch Mitglieder der Rebuild Japan Initiative Foundation, die einen Bericht über den Unfall vorgelegt hat, um die Grundlage für eine mögliche Klage zu schaffen. Der Bericht sollte aber erst einmal nur die Fakten festhalten. Es wurde aber nicht eruiert, wer für was rechtlich verantwortlich war: "Unsere Aufgabe ist es, die Fakten herauszufinden", sagte der ehemalige Leiter der Japan Science and Technology Agency Koichi Kitazawa, der Vorsitzende der unabhängigen Expertenkommission der Stiftung. "Das Rechtliche ist der nächste Schritt."

Die Kommissionsmitglieder gehen allerdings davon aus, dass es kaum möglich sein wird, Einzelne zur Verantwortung ziehen, da das ganze Atomenergiesystem dafür verantwortlich sei. Weder die Organisation noch das rechtliche Regelung seien so angelegt gewesen, dass der Gerechtigkeitssinn der Mitarbeiter funktionieren konnte. Man müsste denjenigen verantwortlich machen, so Kitazawa, der dieses System eingeführt hat. Er hofft, dass sich die Einstellung der Wissenschaftler verändern wird, da keiner eine Vorstellung gehabt habe, was nach dem Tsunami geschehen würde. Sie seien meist von dem Mythos der hundertprozentigen Sicherheit überzeugt gewesen. Jetzt würden viele Wissenschaftler die Sorglosigkeit bedauern und sich mit Gefahren beschäftigen, die von Erdbeben und Tsunamis verursacht werden können.

Weiterhin sind nur noch zwei Reaktoren am Netz. Im Mai werden wohl auch diese wegen der routinemäßigen Inspektionen abgeschaltet werden, was Japan atomstromfrei macht. Bislang haben die lokalen Behörden die Genehmigung verweigert, die Reaktoren wieder anzufahren. Auch der Handelsminister Yukio Edano geht mittlerweile davon aus, dass im Sommer alle 56 Reaktoren außer Dienst sein werden.

Blick auf die Kühlbecken im 5. Stockwerk des Reaktors 2 in Fukushima. Bild: Tepco

Während die Industrie darauf drängt, die Reaktoren wieder anzuschalten, um wieder Energiesicherheit für die Produktion herzustellen, hat die Regierung noch nicht entschieden, wie sie bei den Sicherheitsauflagen verfahren soll. Kein Reaktor darf wieder ans Netz, der nicht einen Stresstest überstanden hat. In Computersimulationen soll geprüft werden, ob die Anlagen Erdbeben und Tsunamis in der Stärke vom 11. März überstehen können. Unklar ist, ob auch Tests bestanden werden müssen, bei denen eine Anlage mehrere extreme Ereignisse gleichzeitig überstehen muss. Aber es bleibt ungewiss, ob die lokalen Behörden wirklich mitziehen werden.

Nach einer Umfrage würden zwar 57 Prozent der Gouverneure und Bürgermeister in den Präfekturen und Kommunen im Umkreis von 30 km um AKWs die stillgelegten Reaktoren wieder ans Netz lassen, während sich nur 17 Prozent ganz dagegen aussprechen. Aber auch die Befürworter würden eine Genehmigung an Bedingungen knüpfen. So werden Hinweise auf die Sicherheitsmaßnahmen und den Zustand der Reaktoren seitens der Regierung oder die Durchführung von Stresstests gefordert, aber auch eine klare Erklärung für die Ursache des Unglücks in Fukushima oder eine Zustimmung der Stadt- und Gemeinderäte. Ein Präfekt erwartet, dass eine "hundertprozentige Sicherheit" erreicht wird.

Zur Unsicherheit dürfte beitragen, dass bei zwei Reaktoren neue Inspektionen durchgeführt werden müssen, nachdem sich herausgestellt hat, dass sie größeren Erdbeben ausgesetzt sein können, als man bislang erwartet hat. Aktive Verwerfungen in der Nähe der Reaktoren könnten nämlich gleichzeitig in Bewegung geraten und so das Beben verstärken. Das war am 11. März des letzten Jahres der Fall gewesen, als mehrere aktive Verwerfungen an der Küste des Pazifiks in Nordjapan gleichzeitig Erdbeben auslösen. Die Atomsicherheitsbehörde ordnete an, dass beim AKW Tokai Daini in der Präfektur Ibaraki und beim AKW Tomari in der Präfektur Hokkaido mit 3 Reaktoren geprüft werden müsse, ob solche gleichzeitige Beben im Umkreis von 5 km stattfinden können. Die Betreiber räumten ein, es sei nicht auszuschließen, dass die AKWs dadurch gefährdet sein können. Möglicherweise müssen deswegen auch die für andere AKWs durchzuführenden Stresstests bei Inspektionen verändert werden.

Takeshi Takahashi, der seit letzten Dezember das AKW Fukushima 1 leitet, räumte gestern ein, dass die Anlage noch immer "fragil" sei. Die Regierung hat zwar erklärt, dass die Anlage stabil sei und dass die Bedingungen einer Kaltabschaltung erreicht worden seien, aber es gebe weiterhin Probleme, beispielsweise mit den Kühlsystemen. Im Außenbereich ist die Strahlung zwar gesunken, aber im Inneren der drei Reaktoren, in denen eine erst spät von Regierung und Tepco eingeräumte Kernschmelze stattgefunden hat, ist sie weiterhin hoch, so dass Arbeiter nur wenige Minuten etwa in Reaktor 3 arbeiten können.