Sollte "Abtreibung", also Kindstötung, auch nach der Geburt noch möglich sein?

In einem Aufsatz haben sich zwei Philosophen dafür ausgesprochen, was heftige Kritik bis Todesdrohungen provozierte

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Heftiger Streit ist in Großbritannien über einen Beitrag in der Zeitschrift Journal of Medical Ethics entbrannt. Dort hatten die Philosophen und Medizinethiker Alberto Giubilini (Universität Mailand, Monash University) und Francesca Minerva University of Melbourne, Oxford University) die Frage gestellt, warum Abtreibungen von schwer behinderten Kindern kurz nach Geburt legal nicht ebenso möglich sein sollen wie kurz vor der Geburt. Abtreibungen sind möglich bei schwer behinderten Föten und bei Risiken für die körperliche oder geistige Gesundheit der Mütter. Besonders problematisch sei, so die beiden utilitaristischen Ethiker, wenn die schwere Behinderung, die eine Abtreibung legal machen würde, erst nach der Geburt erkannt wird bzw. erkannt werden kann oder während der Geburt entsteht.

Neugeborene seien moralisch mit Föten gleichzusetzen. Sie seien zwar Menschen und potentielle Personen, aber noch keine Personen, die einen moralischen Anspruch auf Leben hätten. Daher sollte sich nach Ansicht der Autoren, die sich u.a. auf den ebenso umstrittenen australischen Philosophen Peter Singer (Humanist oder Tötungsphilosoph?) beziehen, das Recht auf Abtreibung auch auf Neugeborene erstrecken, wobei sie so weit gehen, dass eine "nachgeburtliche Abtreibung", die bislang als Neonatizid gilt und mit Gefängnis bestraft wird, in allen Fällen möglich sein soll, in denen auch bislang abgetrieben werden darf, also auch dann, wenn das Neugeborene nicht behindert ist. Die Philosophen schlagen vor, dann die Rede von der Kindstötung oder von der Euthanasie durch den Begriff der "nachgeburtlichen Abtreibung" zu ersetzen. Die Geburt selbst, also der erste Schritt zur Verselbständigung des Kindes, spielt für die Ethiker keine Rolle. Moralisch gibt es für sie zwischen einer Abtreibung und der Kindstötung eines Neugeborenen daher keinen Unterschied.

Als Personen können nach Ansicht der Philosophen weder Föten noch Neugeborene gelten, auch wenn Personen werden können, da sie nicht dazu imstande seien, "ihrer eigenen Existenz einen (zumindest) fundamentalen Wert zuzuschreiben, so dass die Beraubung dieser Existenz für sie einen Verlust darstellt". Wer nur Schmerzen oder Lust empfinden kann, könne nicht als Person gelten, hat aber das Recht, dass ihm keine Schmerzen zugefügt werden. Nur ein Mensch zu sein, heiße nicht schon, dass es einen Grund gebe, jemandem ein Recht auf Leben zuzuschreiben. Das sei schließlich auch so bei der Verhängung der Todesstrafe, der bei der Abtreibung von Föten oder bei der Forschung mit embryonalen Stammzellen, wenn überflüssige Embryonen entstehen.

Nur wenn (nicht-menschliche) Tiere oder Menschen in der Lage sind, Ziele zu haben und die eigene Existenz zu schätzen, soll für sie das moralische Recht auf Leben gelten. Ziele aber hätten Neugeborene noch keine, erst nach einigen Tagen oder Wochen würden bei ihnen Erwartungen und ein minimales Selbstbewusstsein entstehen. Ab wann dies der Fall ist, wäre offenbar von Neurologen und Psychologen aufgrund der Gehirnentwicklung zu klären. Anhand welcher Kriterien dies geschehen soll, wird nicht diskutiert. Das Argument, dass die Tötung eines Neugeborenen dieses schädige, weil es nicht zu einer wirklichen Person heranwachsen kann, wird sophistisch widerlegt. Gemäß der Definition könne man einem Lebewesen nur schaden, wenn es diese Beeinträchtigung erfahren kann, woraus sie einen Freibrief auch für das Töten ableiten, der wie aus dem Wörterbuch des Unmenschen klingt:

Wenn eine potentielle Person wie ein Fötus oder ein Neugeborenes keine wirkliche Person wie Sie und wir wird, dann gibt es keine künftige Person, der Schaden zugefügt werden kann, was bedeutet, dass es keinen Schaden gibt. Wenn Sie also einen von uns fragen, ob wir einen Schaden erlitten hätten, wenn unsere Eltern sich entschieden hätten, uns zu töten, ist unsere Antwort "Nein", weil sie dann jemanden einen Schaden zugefügt hätten, der nicht existiert, d.h. niemandem. Und wenn niemandem ein Schaden zugefügt wurde, ist auch keiner geschehen.

Zwar könnte (noch) nicht existierende Personen kein Schaden zugefügt werden, Föten und Neugeborene könnten aber wirklichen Personen und der Gesellschaft Schaden zufügen und verhindern, dass diese ihr Wohlergehen verfolgen können. Das Wohlergehen wirklicher Menschen - wohl im Sinne von Personen - könnte, so die Autoren, durch das neue Kind, auch wenn es gesund ist, beeinträchtigt werden. Ziemlich gefinkelt wird die Argumentation, wenn die Autoren erklären, dass man bei einem bestimmten Neugeborenen oder Fötus nicht mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass es in Zukunft als Person existiert, wohl aber gebe es weiterhin moralische Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen, weil man allgemein davon ausgehen müsse, dass es solche gibt, wer immer dies sein möge.

Gefährlich sind die Fanatiker, nicht rational argumentierende Wissenschaftler

Wenig erstaunlich, dass die Argumentation heftige Kritik und auch Abscheu hervorgerufen hat, dass Neugeborene selbst dann getötet werden dürften, wenn sie eine untragbare psychische, soziale oder ökonomische Belastung mit sich bringen, weil niemand gezwungen werden dürfe, etwas zu tun, "was er sich nicht leisten kann". In zahllosen Protestschreiben und Kommentaren wurden die beiden Autoren und die für die Zeitschrift Verantwortlichen heftig beschimpft, auch Todesdrohungen wurden geäußert, weil die Ethiker von manchen als Mörder bezeichnet werden.

Right now I think these two devils in human skin need to be delivered for immediate execution under their code of ‘after birth abortions’ they want to commit murder - that is all it is! MURDER!!

Ein Kommentar

Julian Savulescu, Chefredakteur des Journal of Medical Ethics, der an der Oxford University lehrt und zuvor an den australischen Universiäten Monash und Melbourne gearbeitet hat, versuchte in einem Beitrag die Veröffentlichung zu verteidigen. In Äußerungen wird die Argumentation der beiden Ethiker als Ausdruck der liberalen oder linken Weltanschauung verurteilt: "Liberals are disgusting. They have criminal minds. To think that a person must be considered 'worthy' to live is criminal." Savulescu weist darauf hin, dass die Argumente längst durch Peter Singer oder Michael Tooley bekannt und weltweit von Philosophen und Bioethikern diskutiert worden seien. Neu an dem Text der beiden Autoren sei, dass sie den Infanizid in Bezug zur Berücksichtigung der Interessen von Müttern und Familien setzen.

Die Aufgabe seines Journals sei nicht, die Wahrheit vorzustellen oder eine bestimmte moralische Sucht zu propagieren, sagt Savulescu, sondern sie unterstütze die Freiheit der ethischen Diskussion und soll rationale Argumente auf der Grundlage von weithin akzeptierten Voraussetzungen vorstellen und diskutieren. Die Autoren hätte zwar eine provokative Schlussfolgerung vorgestellt, diese aber logisch von Prämissen abgeleitet. Wenn es kohärente rationale Entgegnungen auf eine Befürwortung der nachgeburtlichen Abtreibung gebe, würden diese ebenfalls im Journal veröffentlicht. Für Savulecu, der sich auf die Neutralität des wissenschaftlichen Diskurses beruft, sind nicht die Thesen der Autoren erstaunlich, sondern die feindliche Reaktion, die sie ausgelöst haben. Fanatiker würden die "akademische Diskussion und Freiheit" bedrohen.

Abtreibungsgegner sehen Kritik bestätigt

Bei Abtreibungsgegnern ist der Artikel allerdings nicht nur auf Ablehnung gestoßen, er wurde sogar begrüßt, weil er auch indirekt Argumente gegen die Abtreibung liefere. So meint Anthony Ozimic von der Society for the Protection of Unborn Children (SPUC), dass hier die Logik der Abtreibung al seiner "Kultur des Todes" deutlich werde. Man habe schon immer gesagt, dass die Argumente für Abtreibung auch die Kindstötung rechtfertigen würden. Den Beweis hätten jetzt die beiden Medizinethiker geliefert.

Ähnlich ist die Haltung von Nick Pollard vom Damaris Trust, der sagt, man habe dies schon lange kommen sehen, weil die Argumentation der von vielen "säkularen Humanisten" entspreche, die einen "grundsätzlichen Unterschied zwischen einem 'menschlichen Wesen' und einer 'menschlichen Person' machen". Und wenn dann einige menschliche Wesen keine wirklichen Personen seien, sei es auch nicht moralisch falsch, sie zu töten.

Freiheit des Denkens

Es wurde auf einer anderen Ebene ein ähnliches Problem in letzter Zeit diskutiert. Sollen Wissenschaftler, wie dies holländische Forscher gemacht haben, nicht nur einen für Menschen gefährlichen Grippevirus vom Typ H5N1 im Labor schaffen dürfen, sondern auch die Daten über die Herstellung dieses Virustyps durch Veröffentlichungen verbreiten können? Die Informationen können, wenn sie vollständig veröffentlicht werden, so die Angst, von Menschen, die Böses im Sinne haben, verwendet werden, um selbst gefährliche Vogelgrippeviren zu schaffen. Die Wissenschaftler selbst wollen diese natürlich nicht als Waffen verwenden, aber sie bringen die Möglichkeit in die Welt - zumindest bevor der Virentypus vielleicht auch von selbst evolutionär entstehen kann -, dass Unverantwortliches damit gemacht wird. Aber kann man alles zensieren, was irgendwie "zweckentfremdet" werden könnte, oder sollte man solche Forschungen ganz unterbinden? Schließlich ist schon die Möglichkeit, Lebewesen gentechnisch zu modifizieren, der Schlüssel für alles Mögliche.

Ähnlich könnte man im Fall der philosophischen Argumentation zur Rechtfertigung von "nachgeburtlichen Abtreibungen" sagen, dass diese nicht von wissenschaftlichen Magazinen veröffentlicht werden sollen. Die Autoren streben zumindest nicht explizit an, dass Kindstötungen gesetzlich legitimiert werden sollen, sie führen lediglich im Gedankenlabor vor, zu welchen Schlussfolgerungen man gelangt, wenn man von bestimmten Hypothesen, beispielsweise einem bestimmten Begriff einer Person, ausgeht. Das mag nur ein ethisches Gedankenexperiment sein, gleichwohl ließen sich damit memetisch andere Menschen infizieren, die die Argumente aufgreifen und verlangen, dass das Töten von Neugeborenen, die ein Recht auf Leben nicht in Anspruch nehmen können, gesetzlich erlaubt sein sollte.

Nun wurde zwar Kindestötung etwa in der griechischen und römischen Antike praktiziert - und sie findet auch weiterhin statt. Zudem ist das Argument tatsächlich nicht einfach von sich zu weisen, dass die Geburt selbst kein Sachverhalt darstellt, der eine Tötung verbietet, wenn eine Abtreibung vor der Geburt erlaubt sein soll. Abtreibungsgegner können hier scheinbar kohärenter argumentieren, weil sie schon eine Abtreibung einer befruchteten Eizelle als Tötung betrachten. Aber sie müssten sich auch fragen, warum sie dieses Tötungsverbot nicht zumindest auf nichtmenschliche Tiere erweitern, die wie Primaten oder Delfine menschenähnliche Eigenschaften und Persönlichkeiten entwickeln. Aus welchem Grund, es sei denn etwa einer biblischen Höherstellung des Menschen, sollten befruchtete menschliche Eizellen stärker geschützt werden als selbstbewusste Gorillas oder Organ-Utans? Das ist die Frage (Schonung der Tiere, Euthanasie für schwer behinderte Kinder?), die auch hinter Peter Singers philosophischen Überlegungen steht (Sind nur Menschen Personen?) - und die sich nicht bloß durch Abwehr beantworten lassen, wenn man nicht das Denken abschaltet.