Griechenland: "Niemand" ist der Übeltäter

Dora Bakoyianni mit Horst Reichenbach, Jorgo Chatzimarkakis und Regionalentwicklungsminister Michalis Chrysochoidis anlässlich Reichenbachs Antrittsbesuch im Herbst 2011. Bild: W. Aswestopoulos

Steuerflüchtige Abgeordnete: Chronik einer Politposse

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"Kapitalflucht, das heißt, die Tatsache, dass Reiche ihr Geld ungestraft außer Landes schaffen können und die Ärmeren die Rechnung zahlen müssen, zerstört den Zusammenhalt der Gesellschaft. Griechenland kann in diesem Fall nicht warten, bis die EU irgendwelche Regeln trifft. Da bin ich mit Frau Merkel einer Meinung. Griechenland muss unmittelbar mit den Staaten, in denen Geld am Fiskus vorbei deponiert wird, bilaterale Vereinbarungen abschließen", bemerkte Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments im Rahmen seines Besuchs in Athen gegenüber Telepolis und zeigte damit ein Hauptproblem des Landes auf.

Martin Schulz am vergangenen Dienstag im Büro des EU-Parlaments in Athen. Bild: W. Aswestopoulos

Aufruf an die Bürger: "Bringt all euer Geld zu griechischen Banken!"

Ausgerechnet unter den für die Landesrettung verantwortlichen griechischen Politikern scheint sich diese Binsenweisheit nicht überall herumgesprochen zu haben. Am 21.2.2012 erwähnte Staatsanwalt Panagiotis Nikoloudis, der Vorsitzende des Amts für die Bekämpfung der Geldwäsche, stolz im Parlament: "Bei der Überprüfung dessen, was wir politische Personen nennen, habe ich festgestellt, dass ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete mitten im dramatischen Mai 2011 eine Million Euro ins Ausland geschafft hat. Prozentual ist das wenig bei 300 Parlamentariern. Das ist einer von 300."

Geldwäsche oder sonstige strafwürdige Aktivitäten wollte der Prüfer seinerzeit nicht gesehen haben. Sofort begann in den Medien und unter den Abgeordneten die Suche, wer wohl der Übeltäter sei. Es stieß übel auf, dass gerade jemand aus der Gruppe der Politiker, die ansonsten nie müde werden, ihre eigenen Bürger und ausländische Investoren zur Geldanlage bei griechischen Banken aufzufordern, eine große Geldsumme ins Ausland geschafft hat. Dass Nikoloudis mit seinem verunglückten Statement eigentlich vorhatte zu beweisen, wie wenig Schwarzgeld in der Politik ist, fiel niemandem auf.

Finanzminister Evangelos Venizelos spielt ein undurchsichtiges Spiel. Bild: W. Aswestopoulos

Ich habe da noch eine Liste …

Je länger die Suche lief, desto mehr Details über kapitalflüchtige Politiker kamen ans Tageslicht. Finanzminister Evangelos Venizelos versuchte, die aufgeregte Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Sein Ministerium habe eine Liste mit vierzig Parlamentariern, die 2011 jeweils Summen von mehr als 100.000 Euro ins Ausland überwiesen hätten. Ähnliche Listen habe er auch für 2009 und 2010, ergänzte der Minister. "Solange ich nicht mit jedem davon gesprochen habe, um zu überprüfen, ob die Überweisung vielleicht mit gesundheitlichen Gründen zusammen hing, werde ich jedoch keine Namen nennen", verkündete er.

Die griechische Öffentlichkeit erlebte dadurch ein Déjà-vu. Denn auch in der Frage eines weiteren griechischen Staatspleitefaktors, der massiven Steuer- und Abgabenhinterziehung reicher Griechen, wedelte Venizelos monatelang mit einer Liste herum. Auch damals konnte oder wollte er "aus Datenschutzgründen" keine Namen nennen. Als er sie schließlich nannte und eine entsprechende Liste veröffentlichte, war diese bestenfalls mangelhaft.

Auffällig war, dass niemand der griechischen Journalisten auf die Idee kam, den Finanzminister zu fragen, wieso er gerade zu diesem Zeitpunkt auf die Idee kam, mit der entsprechenden Liste zu wedeln. Zu erwarten, dass die Überprüfung der Datensätze von 2009 bis 2011 schon längst erledigt sein müsste, wäre in Hellas utopisch. Schließlich wurde vor wenigen Wochen mit Evangelos Mytilinaios ein Unternehmer medial zum "Wohltäter des Landes" erklärt, der bei näherem Hinsehen eher ein notorischer Nassauer ist.

Mytilinaios schuldet dem halbstaatlichen Elektrizitätsunternehmen DEI - Public Power Company knapp 100 Millionen Euro, steht damit jedoch auf keiner Liste. Als die Türkei jüngst im Zusammenhang mit einer Kältewelle die nach Griechenland laufende Erdgaspipeline zwecks Eigennutzung kappte, sprang Mytilinaios ein und spendierte dem staatlichen Gasunternehmen eine Schiffsladung voll Flüssiggas im Wert von 35 Millionen Euro, das er natürlich nach Behebung des Lieferengpasses zurückerhält.

Eventuell habe die selektive Bloßstellung von Schuldnern und Übeltätern in Griechenland aber auch andere Gründe, postulieren internationale Journalisten. Die Financial Times vermutete, dass der gewitzte Venizelos mit Hilfe der Liste künftig Sparkurskritiker in Zaum halten könnte. Dass sich Venizelos, Vizepremier und Finanzminister in Personalunion, darüber hinaus um den Parteivorsitz und die Nachfolge des Ex-Premiers Giorgos Papandreou bemüht, hat die FTD beim ihrem mutigen Postulat offenbar übersehen. In Griechenland hätte sich kaum eine Zeitschrift solch eine Vermutung zugetraut. Nicht umsonst steht der Staat auf Platz 71 der internationalen Liste der Pressefreiheit.

Haben Sie vielleicht eine Million Euro vergessen?

Hinsichtlich der europaweit diskutierten Kapitalflucht reicher Griechen beschwichtigte Venizelos: "Von den 65 Milliarden Euro von Konten abgezogenen Spareinlagen sind nur 16 Milliarden ins Ausland geflossen. Der Rest ist in Schließfächern und Wohnungen versteckt." Die dadurch ausgelösten journalistischen Recherchen der griechischen Presse konzentrierten sich auf Politiker. Diese sind ebenso wie Journalisten, Staatsanwälte und Richter gesetzlich zur Offenlegung aller bestehenden Vermögensverhältnisse verpflichtet. Die Erklärungspflicht besteht auch über den Ablauf der Amtszeit hinaus.

"Pothen Esxes" heißt die Regel, was so viel bedeutet wie: "Woher hast Du es". Tatsächlich beschränken sich die Angaben immer nur auf das "Esxes", also den Besitz. Trotzdem wurden einige Spürnasen fündig. Der 2009 abgewählte Abgeordnete der Nea Dimokratia, Spilios Livanos, hatte 2009 schlicht die Angabe von 980.000 Euro, die sich in den Erklärungen von 2008 und 2010 im Ausland befanden, unterschlagen. Zumindest hier reagierte die Justiz schnell. Livanos muss sich nun beim Staatsanwalt dafür rechtfertigen, warum er so viel Geld einfach vergessen konnte. Der gesuchte Kapitalflüchtling war er jedoch nicht. Der vergessliche Politiker schwor Stein und Bein, dass er anhand der von Nikoloudis vorgelegten Daten nicht gemeint sein könnte.

Dora Bakoyianni im Dezember 2011 bei einer Rede pro Sparkurs. Bild: W. Aswestopoulos

Fraktionsübergreifende Saubermannbewegung

Den übrigen Parlamentariern wurde die Aufregung um die verschwundene Millionenüberweisung zu viel. In ungewohnter Einigkeit fanden sich fraktionsübergreifend neunzig Parlamentarier und verlangten per Gesetzesantrag, dass Datenschutzregeln wie das Bank- und Steuergeheimnis für griechische Politiker nicht mehr gelten sollen.

Am 25. Februar forderte die vehemente Sparkursbefürworterin Dora Bakoyianni als Parteivorsitzende der Demokratischen Allianz wütend im Parlament, dass der Abgeordnete endlich benannt werden oder, noch besser, sich selbst outen solle. Seit Ausbruch der Staatsfinanzkrise 2009 versucht sich Dora Bakoyianni als Sparkursbefürworterin zu profilieren. Sie wird nicht müde, das seit 1974, dem Ende der Militärjunta, herrschende politische System als Hauptverantwortlichen des Dilemmas zu brandmarken. Bakoyianni, Ex-Bürgermeisterin von Athen und selbst Spross einer Politikerdynastie, diente unter Kostas Karamanlis bis 2009 als Außenministerin. Wegen ihrer zahlreichen Auslandsaufenthalte will sie nicht gemerkt haben, dass vor allem die letzten Jahre von Karamanlis Regierungszeit das Land kaputt gewirtschaftet haben.

Oh je! Das Geld stammt aus meiner Familie

Peinlich berührt musste sie drei Tage später gestehen: "Mein Ehemann, Isidoros Kouvelos, hat als eigenständiger Schifffahrtsunternehmer das Geld ins Ausland überwiesen." Allerdings handele es sich um eine Million Dollar, nicht Euro, und die Überweisung habe im März 2011 und nicht im Mai stattgefunden, ergänzte sie. Damit wollte sie verdeutlichen, dass sie in bestem Wissen und Gewissen nicht vermuten konnte, dass Nikoloudis ihren Mann gemeint haben könnte.

"Ich habe erst heute am Telefon vom Vorsitzenden des Wirtschafsprüfungsausschusses, Vangelis Argyris, erfahren, dass mein Mann gemeint war", entschuldigte sie sich zusätzlich für ihre tagelange Unkenntnis und ging in die Offensive. Sie leitete juristische Schritte gegen Staatsanwalt Nikoloudis ein und beantragte ein Disziplinarverfahren. Die Dame fühlt sich verleumdet. Über Nikoloudis Zukunft entscheiden nun Gremien. Er selbst versuchte zu dementieren, niemals habe er einen Politiker gemeint, erzählt er seit der Aufdeckung des Millionentransfers bei jeder Gelegenheit.

Das überwiesene Geld stammte nach Angaben des Unternehmers Kouvelos aus dem Verkauf von Aktien, die Bakoyiannis Ehemann in New York deponiert hatte. Entsprechende Nachweise möchte der Reeder nachliefen. Als Grund für die anschließende Auslandsüberweisung gab Kouvelos an, dass er mit dem Geld ein Schiff kaufen wollte.

Bislang liegen weder Nachweise für den Aktienverkauf noch für den beabsichtigten Schiffskauf vor. Zwanzig Tage Zeit bleiben dem Mann nun, diese Nachweise zu erbringen. Kouvelos fühlte sich deshalb so belastet, dass er aufgrund von Herzflattern die Athener Onassis-Klinik aufsuchte und sich stationär einweisen ließ. Ärztliche Communiques berichten von einen "stabilen, nicht lebensgefährlichen Zustand". Sobald er wieder draußen ist, darf auch er zum Staatsanwalt. Denn Kouvelos hat nicht nur entgegen der gesetzlichen Verpflichtung die Angabe der Transaktionen vergessen, laut vorliegenden Informationen taucht auf seinen Konten Geld auf, dessen Herkunft noch im Unklaren liegt. Es passt den vereidigten Prüfern nicht, dass die Kontosummen des Unternehmers allen mathematischen Additionsgesetzen zu widersprechen scheinen.

Die kompromittierte Exministerin Bakoyianni kann an seinen Transaktionen nichts Unethisches entdecken. Parlamentspräsident Filippos Petsalnikos nahm des Rätsels Lösung zum Anlass, den Gesetzesantrag der neunzig transparenzbewussten Parlamentarier auf Eis zu legen.

An Bundestagspräsident Norbert Lammert, der in der vergangenen Woche mehr Solidaritätsbewusstsein von den kapitalflüchtigen griechischen Politikern gefordert hatte und per Brief um Aufklärung der Affäre bat, schrieb er am vergangenen Donnerstag als Antwort: "Die Untersuchungen haben bis jetzt keinen griechischen Parlamentarier aufgezeigt, der einen größeren Geldbetrag ins Ausland überwiesen hat." Dass er damit seinen Parteifreund Venizelos dementierte, störte niemanden. Für die griechische Politik ist die Sache erledigt. Die heimische Presse wird in den nächsten Wochen eine neue Sau durchs Dorf jagen und internationale Medien werden das Thema schlicht vergessen.

Bissige Kommentatoren verweisen jedoch darauf, dass einst der listige Odysseus den Zyklopen Polyphem dazu gebracht habe zu rufen: "Niemand hat mich geblendet." Blind war der Sohn von Meeresgott Poseidon trotzdem, denn der homerische Held hatte ihm das Auge ausgestochen. Odysseus hatte dem Giganten lediglich weisgemacht, dass sein Name "Niemand" sei.