"Man muss die Pornoindustrie angreifen"

Ein französischer Regierungsbericht zur Hypersexualisierung von Kindern und die Vorschläge, dem Phänomen entgegenzuwirken

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Wie geht eine Kultur, die sich Freiheit als ersten Grundwert auf ihre Fahnen geschrieben hat, wie Frankreich, mit dem Phänomen um, dass Medien und Modeindustrie Kinder in Posen und einem Habitus präsentieren, die mit sexuellen Reizen spielen? Das Schlagwort dazu heißt "Hypersexualisierung von Kindern" und ist Thema eines Berichts der Senatorin Chantal Juanno, deren Vorschläge die bekannte Debatte neu aufleben lassen.

Der Bericht, den Juanno, Mitglied der konservativen Mehrheitspartei UMP, im Auftrag der Ministerin Roselyne Bachelot veröffentlichte, schlägt eine Serie von Maßnahmen vor: etwa das Verbot bestimmter Abbildungen von jungen Mädchen; eine Website, wo man Namen von Unternehmen posten kann, die in ihrem Angebot Kleidungsstücke führen, die dem Alter unangemessen sexuellen Reize akzentuieren, wie zum Beispiel Bras für Mädchen, die noch gar nicht in der Pubertät sind. Darüberhinaus wird vorgeschlagen, bestimmte Fernsehshows, in denen Mädchen wie sexuell attraktive Popstars tanzen und posieren, zu untersagen. Wieder im Gespräch ist auch die Einführung von Schuluniformen.

Die Vorschläge, inspiriert durch ähnliche Aktionen in anderen westlichen Ländern, sind zur Vorbeugung gedacht. Denn wie Juanno das starke Schlagwort der "Hypersexualisierung von Kindern" relativiert, sei das Phänomen in Frankreich noch "marginal". Allerdings, so Juanno, sind die Eltern beunruhigt, weswegen man frühzeitig handeln müsse.

Die Beunruhigung der Eltern ist nachvollziehbar - weil sie anscheinend häufig von der Befürchtung getragen ist, die Mädchen könnten schon früh von einem Schlankheitswahn befallen werden, der sich in Krankheiten manifestieren kann. Jeder, der damit zu tun hat, weiß, wie nervenzerrüttend und langwierig es für die Kinder und die Familie ist, wenn sie mit Anorexie konfrontiert werden. Doch können die Phänomene "Anorexie" und "Hypersexualität" nicht so direkt miteinander verbunden werden, wie dies die Ängste nahelegen.

Der Vorwurf der Hypersexualisierung junger Mädchen taucht in der Öffentlichkeit immer wieder auf. Es ist hauptsächlich ein Medienphänomen, das sich auf Schulhöfen oder in den Straßen nicht unbedingt zeigt. Auch hier wird einiges zusammen in einen Topf gemischt. Dass sich junge Mädchen mit teurer Markenkleidung eindecken, um attraktiv zu sein, ist von anderen Erscheinungsweisen, die betont auf Laszivität setzen, zu unterscheiden, wie Kommentare von Schülerinnen betonen. Die Grenzen verlaufen in einer schwer markierbaren Grauzone.

Immer wieder neu angestoßen wird die Diskussion der Hypersexualisierung durch ambivalente Bilder, die mit einer sexuellen Aufladung provozieren - natürlich ist das Absicht, Sex sells. So haben im vergangenen Jahr Fotos der Mode- und Lifestylezeitschrift Vogue für einige Erregung in Frankreich gesorgt: Die Pose einer angeblich Zehnjährigen spielt eindeutig mit den Reizen einer erwachsenen Frau.

"Junge Mädchen werden 'sexualisiert' und die Frauen 'infantilisiert'"

Auch die Soziologen, die Le Monde zum Phänomen der Hypersexualisierung und dem Juanno-Bericht befragt hat, weisen darauf hin, dass die aufgesexte Darstellung von Kindern, meist Mädchen, in den für Mode- und Lifestyle zuständigen tonangebenden professionellen Milieus schon seit längerem in immer wieder neuen Wellen praktiziert wird - das ist nicht nur in der Modebranche der Fall, sondern auch in der Musikindustrie und in der Kunst, sowie den, ja nach Anschaung, Zwischenbereichen.

Aus diesen mehrfachen Wellen hat sich jedoch ein kultureller Rückschritt ergeben, der die Selbstdarstellung und das Selbstbild der Frauen und Mädchen nachhaltig beeinflusst hat, so lässt sich die Ansicht des kanadischen Soziologen Richard Poulin zusammenfassen: Frauen und die jungen Mädchen würden sich diesen Bildertendenzen verpflichtet fühlen, sich möglichst deutlich mit sexuellen Reizen zu präsentiern, um zu gefallen. Dies laufe darauf hinaus, dass die jungen Mädchen "sexualisiert" würden und gleichzeitig die Frauen "infantilisiert". In der kollektiven Vorstellung müsse die Frau immer jünger sein, um schön zu sein.

Ein Indiz dafür sei etwa der schon seit einiger Zeit allgegenwärtige Trend, dass Frauen sich am ganzen Körper enthaaren. In Ottawa sollen dies nach Forschungen, die Poulin zitiert, 87 % der Studentinnen praktizieren. Als weiterer Hinweis für die Infantilisierung nennt Poulin eine Studie, wonach 10 Prozent aller Schönheitsoperationen in Kanada darauf abzielen, das weibliche Geschlecht jünger aussehen zu lassen.

"Attaquer au porno"

Diese Phänomene sind nach Auffassung Poulins letztlich auf die Pornoindustrie zurückzuführen, deren Bilderwelt auf die Modeindustrie, auf Medien und damit auf die Alltagsästhetik großen Einfluss habe. Dem Verbot von aufreizenden Bildern junger Mädchen, wie es der Juanno-Bericht vorschlägt, hält er zwar einige Wirkungsmöglichkeiten zugute, für ihn ist das allerdings Symptom- und nicht Ursachenbekämpfung - die Pornoindustrie müsse angegriffen werden

"Le plus important est de s'attaquer au porno."

Auf welche Weise und mit welchen Einschränkungen oder Verboten, das führt Poulin nicht aus. Er ist davon überzeugt, dass es ein wirtschaftliches Tabu gibt, das verhindert, hier anzusetzen. Die Pornoindustrie sei mit dem Neoliberalismus groß geworden, es gebe geschäftliche Interessen, welche diese Industrie von solchen Zudringlichkeiten abhält, unterstellt der kanadische Soziologe. Die Rolle der Pornos für die Sexualität der nachwachsenden Generationen kann seinen Worten nach gegenwärtig nicht relevant genug eingeschätzt werden. Pornos seien mittlerweile die erste und wichtigste Quelle der Pubertierenden, um sich sexuell aufzuklären.