Wachsender Widerspruch

Ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima sind die Nachrichten über die Zukunft der Atomindustrie in Ostasien widersprüchlich

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"Die Zukunft der Atomkraft ist heller denn je, trotz Fukushima", so letzte Woche, kurz vor dem Jahrestag der dreifachen Reaktorkatastrophe in Nordjapan, die englischsprachige Zeitung Japan Today. In einem Land, in dem nur noch zwei von 54 Atommeilern laufen und auch das nicht mehr lange, ist das eine bemerkenswerte Aussage. Irgendwie klingt das nach Pfeifen im Walde, aber ein Blick in den Artikel zeigt, dass es sich um ein interessantes Stück Propaganda der Agence France Press handelt.

Der staunende Leser erfährt zum Beispiel von einer französischen Expertin, dass es künftig im Energiemix "ein bisschen mehr erneuerbare Energie" geben werde und dass ein Jahr nach Fukushima die AKWs sicherer geworden seien. Alle wichtigen Länder, mit der Ausnahme Deutschlands, würden weiter auf Atomkraft setzen. Besonders amüsant der Hinweis, dass der Einsatz erneuerbarer Energieträger ein "interessantes Life-Experiment" sei, das für den Augenblick nicht funktionieren würde. Selbstredend erfährt der Leser nicht, woher Frankreich während des Kälteeinbruchs Anfang Februar den Strom bezog, als seine AKWs den Bedarf nicht mehr abdecken konnte: aus hiesigen Solar- und Windkraftanlagen (Ein schöner Extraprofit).

Eine gewisse Berechtigung hat der euphorische Ton des Beitrags jedoch, wenn man einen Blick auf die Entwicklung in Ostasien wirft. In Japan steht es zwar weiter schlecht für die Nuklear-Branche, im Nachbarland Südkorea wurden jedoch im Januar zwei neue AKWs in Betrieb genommen. Auch der Inselstaat Taiwan baut weiter an zwei Reaktoren, die 2016 in Betrieb gehen sollen. Allerdings hat der kürzlich wiedergewählte Präsident Ma Ying Jeou während seines Wahlkampfs versprochen, dass die älteren AKWs (sechs Reaktoren an drei Standorten) keine Verlängerung der Betriebsgenehmigungen bekommen. Die umstrittenen beiden Meiler, die in Lungmen in der Nähe von Taipeh gebaut werden, will Ma jedoch fertigstellen lassen. Deren Baukosten haben sich in den letzten Jahren verdoppelt. Seine knapp unterlegene Gegenspielerin Tsai Ing Wen hatte hingegen angekündigt, die Bauarbeiten zu beenden und das Land bis 2025 unabhängig von der Atomkraft zu machen.

Gemischte Signale also von der "Schönen" (Formosa), wie die kurzzeitigen portugiesischen Kolonialherren die Insel im 16. Jahrhundert einst tauften. Ein Blick auf die andere Seite der Taiwan-Straße dürfte hingegen die Herzen der nuklearen Kraftwerksbauer erwärmen. In China soll der bisher relativ bescheidene Park von 16 AKWs erheblich erweitert werden. 26 Reaktoren sind derzeit im Bau, weitere rund 20 sollen in den nächsten Jahren hinzu kommen.

Allerdings handelt es sich zumeist um neue, unerprobte Baureihen, wie den französischen EPR (European Pressurized Reactor). Ein Kraftwerk dieses Typs wird derzeit im finnischen Olkiluoto gebaut und entwickelt sich seit Jahren mehr und mehr zu einem Skandalgemenge aus Pfusch und Kostenexplosion (siehe "Laufzeitverlängerung ist eine Sackgasse"). Es wäre also eher überraschend, wenn die chinesischen Bauherren nicht mit ähnlichen Problemen und Verzögerungen geplagt werden sollten. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die ehrgeizigen Pläne bis zum Ende des Jahrzehnts vollständig umgesetzt werden, wird das Ergebnis für chinesische Verhältnisse bescheiden bleiben: Derzeit hat der Atomstrom einen Anteil von 1,8 Prozent an der Versorgung und wird angesichts des wachsenden Verbrauchs auch im für die Atomindustrie günstigsten Fall bis 2020 kaum über fünf Prozent hinausgehen. Die chinesischen Vorhaben haben daher mehr von einem industriellen Prestigeprojekt als von einem aus der Notwendigkeit geborenen Ansatz.

Bleibt die Frage, ob die betroffene Bevölkerung mitspielt. Aus China gibt es in letzter Zeit des öfteren Nachrichten von lokalem Widerstand gegen Industrieprojekte (Erfolgreicher Protest), der sich offensichtlich hier und da auch bereits gegen AKW-Vorhaben entwickelt. Besonders in der Inlandprovinz Anhui, am Yangtse gelegen, formiert sich lokaler Protest gegen den Bau eines AKWs in der Nachbarschaft. Wie auch in vielen anderen Ländern scheinen sich dort nach der Katastrophe in Japan die Ängste der Betroffenen vermehrt zu haben. Arrogante Informationspolitik der Bauherren und Behörden sowie Erfahrungen mit jüngsten durch Pfusch verursachten Katastrophen, wie dem Zugunglück in der Küstenprovinz Zhejiang im Sommer 2011, tragen ein Übriges dazu bei, die Stimmung zu verschlechtern.

Da die chinesische Führung in permanenter Angst vor sozialen Unruhen lebt, was durch die jüngste ökonomische Eintrübung noch verstärkt werden dürfte, besteht also durchaus noch die Aussicht, dass ihre Atompläne durch Widerstände in der Bevölkerung zusammengestrichen werden könnten.

Auch auf Taiwan wächst der Unmut. "Es gibt kein Vertrauen in die Experten mehr", berichtet Kang Shi Hao, Soziologe an der Universität von Taipeh und Mitglied der Green Alliance. Vor dem Unfall in Fukushima habe Japan in seinem Land als das leuchtende Vorbild in Sachen moderner Technik gegolten. Das sei nun vorbei, der Expertenmythos gebrochen. Besonders junge Menschen würden sich gegen Atomkraft engagieren.

Eine große Rolle spiele bei den dortigen Protesten auch der Umgang mit den abgebrannten Brennstäben und anderen strahlenden Hinterlassenschaften der Atomindustrie. Jüngste Pläne sehen ein Endlager ausgerechnet in einem Gebiet vor, in dem ein Teil der indigenen Bevölkerung Taiwans lebt. Das sind die Nachfahren jener malaiischen Völker, die bereits vor den ersten mittelalterlichen chinesischen Einwanderungswellen auf der Insel lebten. Der Ausgang der Auseinandersetzung um Endlager und AKW-Neubauten ist offen, aber Kang ist vorsichtig optimistisch, dass die Atomindustrie in Taiwan ihre Blütezeit hinter sich hat.