Sachbücher des Monats: April 2012

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jeden Monat neu präsentiert von der Süddeutschen Zeitung, dem Norddeutschen Rundfunk, Buchjournal, Börsenblatt und Telepolis. (Die Jury )

Ein deutsches Leben

Als Melitta von Stauffenberg im Januar 1943 von Hermann Göring höchstpersönlich das Eiserne Kreuz II. Klasse erhält, ist dies der vorläufige Höhepunkt einer fast unglaublichen Karriere. Nicht nur beherrscht sie als Testfliegerin und Ingenieurpilotin alle damals bekannten Flugzeugtypen, hat sagenhafte zweitausend Sturzflüge absolviert, selbst ausgewertet und so den Bombenkrieg der Luftwaffe perfektioniert - sie bewahrt auch ein Geheimnis: "Flugkapitän Gräfin Stauffenberg" ist nach den Kriterien der Nazis eine "Halbjüdin". Nur mit Hilfe von ganz oben gelingt es ihr, den Fängen der Rassenjustiz zu entkommen. Für einige Jahre kann sie sich sicher wähnen - bis sie nach dem 20. Juli 1944 in Sippenhaft genommen wird. Enkelin eines jüdischen Textilhändlers aus Odessa, Schwägerin des späteren Hitler-Attentäters, Stuka-Amazone, tragische Heldin ihrer Zeit: Melitta von Stauffenbergs Geschichte erscheint fast wie ein Spiegelbild des totalitären 20. Jahrhunderts.

Rowohlt Berlin Verlag, 412 Seiten, € 22,95

Bewundert, bewohnt, ramponiert

Das Kolosseum kennt jeder. Selbst wer noch nie in Rom war, hat das riesige Gemäuer vor Augen: Es ist der Inbegriff des antiken Rom. Dabei war das monumentale Amphitheater seit dem Untergang der altrömischen Kultur eine dauernde Baustelle. Im Mittelalter verwandelte man seine Gewölbe in Wohnungen, Läden und Werkstätten und einige davon in den Wohnsitz der mächtigen römischen Adelsfamilie Frangipane. Die Päpste residierten zu dieser Zeit in der nahegelegenen Lateransbasilika, und der Sitz der Frangipane diente ihnen nicht selten als strategisch günstiger Fluchtort. Im 16. Jahrhundert setzte sich die Idee vom Kolosseum als Leidensort christlicher Märtyrer durch, weshalb der gesamte Bau in eine gigantische Kirche umgewandelt werden sollte. Die Pläne scheiterten, doch legte man einen Kreuzweg entlang der Arena an und weihte das Kolosseum den frühchristlichen Glaubenskämpfern. Die Grand Tourists des 18. Jahrhunderts erkannten in dem verfallenen Gemäuer schließlich eine arkadische Landschaft, die sie dank der auf den Ruinen üppig wuchernden Pflanzen in ihre eigene Ideal-Antike versetzte.

Verlag Klaus Wagenbach, 234 Seiten, € 24,90

Schon Sokrates fand nach Jahren intensiven Studiums der Philosophie nur eine Antwort auf all seine Fragen: "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Und Immanuel Kant, Königsberger Theorie-Ikone, traute sich über die Welt vor seiner Tür so wenig zu sagen, dass er sich selten um praktische Erkenntnis, dafür aber umso intensiver um die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt bemühte. Mit anderen Worten: Viele philosophische Bücher sind nie geschrieben worden - aus Respekt, aus Zeitmangel, aus Lustlosigkeit. Höchste Zeit also für ein Lexikon der imaginären philosophischen Werke, das all diese unausgesprochenen Ideen vereinigt. Ob Seneca, Cicero oder Averroes, Ockham, Pascal oder Leibniz, von den deutschen Klassikern Fichte oder Kant ganz zu schweigen, und natürlich mit Blick auf die Modernen wie Carnap oder Benjamin und die Zeitgenossen wie Habermas - und viele, viele beinahe unbekannte Denker, zeigt uns Andreas Urs Sommer, wie die virtuelle Philosophie zu ihrem Recht kommt. Und die Philosophie wäre nicht die Königsdisziplin der Wissenschaft, wenn sie die kritische Würdigung des noch nicht Verfassten nicht gleich mit übernähme. Und so ist das Lexikon der imaginären philosophischen Werke beides - Konstruktion und Kritik des Virtuellen.

AB - Die Andere Bibliothek, 363 Seiten, € 32,00

Zweck und Mittel der Lyrik

Heinz Schlaffer legt die Fundamente der Lyrik frei. Von der Antike bis zur Gegenwart kommt der Dichtung eine bestimmte Aufgabe in der Kultur einer Gemeinschaft zu: von der Anrufung der Götter bis zum Spruch für Menschen, vom Bettellied bis zum Erntedank, von der Beschwörung bis zum Liebeszauber. Um solche Zwecke zu erreichen, setzt das Gedicht außergewöhnliche Mittel wie Rhythmus, Reim und Metaphern ein. Heinz Schlaffer hat ein anschauliches, durch markante Beispiele sinnfälliges Buch geschrieben. Für alle, die sich gern von Gedichten anrühren lassen und genauer wissen wollen, wie Dichtung gemacht ist und wozu wir sie auch heute brauchen.

Carl Hanser Verlag, 208 Seiten, € 18,90

Friedrich II. als Herr über die Herzen?

Durch Liebe, nicht durch Furcht und Gehorsamszwang sollte der König regieren. So bestimmte es die (früh)moderne Staatstheorie. Schon Friedrich II. von Preußen (1712-1786) wusste, dass es nicht ausreicht, über die Körper der Untertanen zu herrschen. Auch ihre Herzen wollen erobert werden. Doch die Geschichtsschreibung berichtet, dass Friedrich der Große weder mild noch sanft mit seinen Untertanen umging. Ute Frevert analysiert das Herrschaftsverständnis Friedrichs ebenso wie dessen gefühlspolitische Praktiken. Sie zeigt, mit welchen Mitteln der aufgeklärt-absolutistische König die Zustimmung und Zuneigung derjenigen suchte, die seiner Herrschaft unterworfen waren. Dieses Interesse machten sich die Untertanen zunutze: Sie stellten Bedingungen, formulierten Erwartungen und reagierten enttäuscht, wenn der König darauf nicht einging. Die Historikerin zeigt, dass Herrschaftskommunikation in zwei Richtungen verläuft, und das nicht erst in der heutigen Mediengesellschaft. Im 18. Jahrhundert entdeckt Frevert die Ansätze einer Gefühlspolitik, die ihre Spuren in der Moderne hinterlassen haben.

Wallstein Verlag, 151 Seiten, € 16,90

Eine philosophische Untersuchung (Ideen & Argumente)

Das Buch bietet die erste systematische Untersuchung der Frage nach der Verantwortung für historisches Unrecht seit dem Erscheinen von Karl Jaspers' "Die Schuldfrage". Mit den Mitteln der modernen philosophischen Analyse untersucht es Gründe und Grenzen moralischer und krimineller Verantwortung und unterbreitet Lösungsvorschläge für das Problem der Wiedergutmachung für vergangenes Unrecht.

Walter de Gruyter Verlag, 468 Seiten, € 64,95

The Sixties

Mary Quants Minirock und Vidal Sassoons "Bob", Pop Art und Op Art, Richard Hamilton und David Hockney, Francis Bacon und Lucian Freud, der Fotograf David Bailey und sein bevorzugtes Model Jean Shrimpton, die Beatles und die Rolling Stones, The Who und The Kinks, Emma Peel - im modisch körperbetonten Catsuit - und James Bond, die Architektengruppe "Archigram" und ihre utopischen Entwürfe - die Welthauptstadt der Kultur hat sich Mitte des 20. Jahrhunderts von Paris nach London verlagert. Zumindest in den "Swinging Sixties" hat die britische Metropole Trends gesetzt, die bis heute Bestand haben. London hatte vorgegeben und verkörpert, was an Aufgeregtheit, Innovativität, Avanciertheit denkbar war. Drei Phänomene waren es, die den Take Off in die Zukunft trugen: Mehr Jugendliche, mehr Wohlstand, mehr Massenkommunikation sind die Ingredienzen für die Sechziger und für die Pop-Kultur, die sie prägt. Dass es London war und nicht eine der anderen Hauptstädte des Westens, in denen diese Pop-Kultur ganz zu sich kam, ist Thema dieses Buches.

Brandstätter Verlag, 367 Seiten, € 49,90

Und was man von ihnen lernen kann

Das Buch zeigt anhand ausgewählter Themen, dass der Ausdruck "philosophisches Wissen" kein leeres Wort ist. Ungeachtet mancher Zweifel wissen Philosophen wirklich etwas; sie verfügen über einen Kernbestand wissenschaftlichen Wissens, der wenig umstritten ist und hinter dessen Einsichten nicht zurückfallen darf, wer heute nach den Regeln des Fachs philosophiert. Dieses Wissen hat sich in der neueren Philosophiegeschichte im ständigen kritischen Dialog mit dem Tradierten herausgebildet. Es wird beispielsweise gezeigt, dass in der modernen erkenntnistheoretischen Diskussion niemand ernstgenommen wird, der immer noch mit den Modellen "Subjekt - Objekt" oder "Bewusstsein - Gegenstand" operiert, in der Semantik Bedeutung und Gegenstand miteinander gleichsetzt, in metaphysischen Fragen das Sein für eine Eigenschaft von Gegenständen hält oder in der Praktischen Philosophie Werte und Normen nicht auseinanderhält.

C. H. Beck Verlag, 237 Seiten, € 19,95

II. Chronologie einer Bewegung

Die AKW-Protestbewegung von Wyhl bis Brokdorf. In den frühen Siebziger Jahren formierte sich in der norddeutschen Wilstermarsch und im badischen Kaiserstuhl der Widerstand gegen die Atompolitik der Bundesregierung. In den Bürgerinitiativen kam es zu einem bislang einmaligen Aktionsbündnis zwischen Winzern, Bauern, Fischern und der linksradikalen ausserparlamentarischen Opposition. Zehntausende leisteten Polizei und Bundesgrenzschutz erbitterten Widerstand, machten zum großen Teil erstmals Erfahrungen mit exzessiver staatlicher Gewalt. Wyhl und Wackersdorf konnten so verhindert werden, Brokdorf und Biblis wurden gebaut. Die Bewegung gegen die Kernkraft ist heute eine gesellschaftliche Massenbewegung.

Laika-Verlag, 168 Seiten, 6 CDs, € 29,90

Wie der Schulden-Staat uns entmündigt und wie wir uns befreien können

Die Schuldenlast und die Abwertungen ganzer Volkswirtschaften, die die Märkte vornehmen, bringen es an den Tag: Der Staat hat sich übernommen, sein in den meisten westlichen Ländern auf annähernd 50% aufgeblähter Anteil am gesamten wirtschaftlichen Geschehen führt unweigerlich in die Krise. Da die Regierungen jetzt sparen müssen, haben sie kaum mehr Gestaltungsspielraum, sodass die Parteien einander zunehmend ähneln. Die Demokratie wird dadurch leer: eine hochexplosive Mischung von Finanzkrise und politischer Ohnmacht. Rainer Hank zeichnet die historische Entwicklung nach, die vom Rechtsstaat zum Fürsorge- und schließlich zum paternalistischen Staat führte, der die Initiative des Bürgers, aber auch sein soziales Gewissen erstickt und ihn in immer mehr Lebensfragen - von der Helmpflicht bis zum Rauchverbot reglementiert. Der Bürger reagiert auf diese zunehmende Entmündigung mit einer sich oftmals irrational entladenden Wut.

Karl Blessing Verlag, 445 Seiten, € 19,95

Besondere Empfehlung des Monats April von Jörg-Dieter Kogel:

An der dauernden Italiensehnsucht der Deutschen hat Goethes "Italienische Reise" großen Anteil. In Neapel kulminieren Glücksgefühl und Befremden des fahrenden Nordmenschen. Dieter Richter begibt sich gewohnt kenntnisreich auf eine höchst unterhaltsame Spurensuche. "Gestern dacht ich: entweder du warst sonst toll, oder du bist es jetzt." Goethe scheint recht verwirrt gewesen zu sein in Neapel, wie diese Zeilen verraten. Immerhin war Neapel die größte Stadt, die er zeitlebens besuchte, und gegen das laute Straßenleben der süditalienischen Metropole schien ihm Rom wie ein kühler, ruhiger Ort des Nordens. Der Neapel-Kenner Dieter Richter lässt uns an Goethes Befremden, aber auch an seiner Begeisterung teilhaben: über den öffentlichen Charakter des Volkslebens mit Lastträgern, Bootsleuten, Fischern, Eseltreibern und unzähligen Kindern. Über die bunten und bizarren Formen der neapolitanischen Volksfrömmigkeit. Über das Schauspiel der ungewohnten Vegetation, der Früchte, der Landschaft, des Meeres. Über den feuerspeienden Vesuv. Und schließlich über die Kunst, von den antiken Monumenten (wie dem Tempel in Paestum) zu den in Neapel lebenden Künstlern und Lebenskünstlern, deren Gesellschaft der reisende Goethe sucht.

Verlag Klaus Wagenbach, 142 Seiten, € 15,90

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