"Es muss ein großer Unmut aufkommen"

In der Finanz- und Staatsschuldenkrise wird Demokratieabbau attraktiv

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In Sonntagsreden werden sie immer wieder gepriesen, in der Praxis jedoch zunehmend mit Füßen getreten: die so genannten westlichen Werte wie Freiheit und Demokratie. Wenn es wahr ist, dass sich die Stärke einer Demokratie gerade auch in Krisensituationen zeigt, so sieht es derzeit danach aus, als ob es um deren Kraft nicht gut bestellt ist. Schuld daran sind jedoch nicht zuletzt die Politiker in Regierung und Opposition, die sich nur allzugern von den anonym erscheinenden Märkten treiben lassen, um eine, nach den Worten der Bundeskanzlerin Angela Merkel, "marktkonforme Demokratie" zu schaffen. Tatsächlich scheint die Krise für viele eine willkommene Gelegenheit, unbequeme demokratische Mitbestimmung über Bord werfen zu können.

Bisweilen lassen sich selbst Spitzenpolitiker wie Außenminister Guido Westerwelle dazu hinreißen, ganz offen einzugestehen, dass sie den Druck der Märkte, der die Handlungsoptionen der gewählten Politiker immer weiter einengen soll, positiv sehen. So ist Westerwelle der Ansicht, dass es nötig sei, sich die "disziplinierenden Kräfte der Märkte klug zunutze machen, um die Regierungen der Euro-Zone zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik anzuhalten" - sprich: wenn die Finanzindustrie gegen Euro-Staaten wettet, die aufgrund der von derselben Finanzindustrie ausgelösten Krise, die letztlich durch die Bankenrettungen auch die Staatsschulden in die Höhe getrieben hat, in eine finanzielle Notlage geraten sind, dann ist das aus der Sicht Westerwelles ein positives Ereignis. Immerhin eröffnet das die Gelegenheit, mittels drastischer Haushaltskürzungen den Einfluss des Staates zugunsten der Vermögenden weiter zurückzudrängen.

In dieser Logik werden milliardenschwere Rettungspakete für die Finanzindustrie zu einer alternativlosen Notwendigkeit, während gleichzeitig Haushaltskonsolidierung und damit eisernes Sparen gepredigt wird. Das geht zu Lasten der einfachen Bürger, der Arbeiter, der kleinen Selbständigen und Arbeitslosen: Um "wettbewerbsfähiger" zu werden, geraten die Rechte der Arbeitnehmer in Europa zusehends unter Druck, Vorbild dafür ist die deutsche Agenda 2010.

So sinkt der Mindestlohn in der griechischen Privatwirtschaft auf 590 Euro, Jugendliche unter 25 müssen sich mit 500 Euro begnügen. Lohnerhöhungen gibt es erst dann wieder, wenn die Arbeitslosigkeit unter 10 Prozent fällt – was aufgrund der harten Sparmaßnahmen in Griechenland auf absehbare Zeit nicht der Fall sein wird. In Spanien wird es den Unternehmen künftig freigestellt, die gewerkschaftlich ausgehandelten Tariflöhne zu unterschreiten, ebenso in Italien. Dort sollen in Zukunft auch mehr Praktikanten eingesetzt werden. Die Europäische Kommission greift mittlerweile ein, wenn ihr die Löhne in einem EU-Mitgliedsstaat zu hoch erscheinen.

Im Euro-Plus-Paket, dem so genannten Sixpack, hat sich die demokratisch nicht legitimierte Kommission sogar das Recht vorbehalten, künftig bei der Gestaltung der nationalen Haushalte, den Steuern, der Lohnentwicklung und der Sozialleistungen einzugreifen. Nationale Souveränitätsrechte und die Entscheidungsfindung in demokratischen Institutionen werden damit zunehmend zu einem Störfaktor, der von Brüssel aus bei Bedarf ausgeschaltet werden kann.

Dabei werden die Anzeichen für die zunehmende Aushöhlung der Demokratie immer deutlicher. Selbst das Rederecht der Abgeordneten im Bundestag sollte nach dem Willen von Union, SPD und FDP eingeschränkt werden. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte bei einer Abstimmung über die Euro-Rettung je einem Abgeordneten aus der Union und der FDP das Rederecht erteilt, obwohl diese wegen ihrer von der Fraktionshaltung abweichenden Meinung nicht auf der Rednerliste ihrer Fraktion standen, was für Empörung bei den Fraktionsvorsitzenden sorgte. Mit der neuen Regelung sollten die bürokratischen Hürden für die Erteilung des Rederechts an nicht von den Fraktionen benannte Abgeordnete so hoch gesetzt werden, dass möglichst kein zweites Mal Abweichler an das Rednerpult im Plenarsaal treten. So wollten die Fraktionsführungen in Zukunft möglichst verhindern, dass die Behauptung, die derzeitige Krisenpolitik sei "alternativlos", als haltlos und interessengeleitet entlarvt wird. Nachdem der Widerstand und die Kritik groß wurden, haben Regierungskoalition und SPD erst einmal wieder einen Rückzug angetreten.

Zuvor wurde bereits von der deutschen Bundesregierung, aber auch aus Brüssel, die Verschiebung der Parlamentswahlen in Griechenland gefordert, weil die seit jeher starken Parteien Pasok und Nea Dimokratia, die bereit sind, das Spardiktat der EU umzusetzen, in den Umfragen stark eingebrochen sind. Es drohen somit Parteien an die Macht zu kommen, die eine andere Politik in der Krise umsetzen wollen, und dies gilt es zu verhindern. Aus demselben Grund weigern sich die Regierungen Deutschlands, Italiens, Großbritanniens und Spaniens, den aussichtsreichen französischen Präsidentschaftskandidaten François Hollande zu empfangen. Er hatte es gewagt, die Neuverhandlung des europäischen Fiskalpakts zu fordern, sollte er die Wahl gewinnen. Wo es den Politikern gilt, in allererster Linie "die Märkte" zufrieden zu stellen und nicht nach einer Lösung für die gesamte Gesellschaft zu suchen, haben alternative Lösungsvorschläge keinen Platz. Werden sie zu stark, werden sie entweder ignoriert oder als unvernünftig gebrandmarkt, ohne sich näher mit ihnen zu beschäftigen.

Weniger Demokratie in Pleitestaaten?

Wahlen und demokratische Willensbildung sind da nur störend. Laut einem Bericht der Deutschen Mittelstandsnachrichten hat sich die umstrittene Investment-Bank Goldman Sachs nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi gegen Neuwahlen ausgesprochen, sie seien "das worst case Szenario für die Märkte". Damit, dass ohne Neuwahlen der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti der neue Premier wurde, dürfte Goldman hingegen sehr zufrieden sein - immerhin ist er Berater bei Goldman Sachs und hat in dieser Funktion bereits die EU in der Schuldenkrise beraten (Regiert Goldman Sachs nun in Italien?).

Zudem ist Verlass darauf, dass Monti die derzeitige Logik der Krisenbewältigung nicht in Frage stellen, sondern sogar energisch vorantreiben wird. Mit harten Einschnitten bei den Arbeitnehmern und im "nationalen Interesse" soll in Italien nach deutschem Vorbild ein "Arbeitsmarkt mit größtmöglicher Flexibilität" geschaffen werden. Dahinter steckt eine Standortlogik, die einen Wettlauf um immer billigere Arbeit und immer niedrigere Steuern in Europa und weltweit befeuert. Der Sozialpsychologe Oliver Decker sieht darin eine kaum verdeckte Nationalstaatslogik, die alle unter dem angeblich gemeinsamen Interesse der wirtschaftlichen Prosperität zu sammeln versuche. "Das ist Nationalismus und eigentlich antidemokratisch. Denn es gibt ja gar kein gemeinsames Interesse, weil vom Wohlstand längst nicht alle profitieren", so Decker. Mittlerweile gebe es sogar Stimmen, die behaupten, eine Diktatur sei das Beste was Griechenland passieren könne.

Tatsächlich sprechen sich Wirtschaftswissenschaftler wie Melvyn Krauss offen für weniger Demokratie in den "Pleitestaaten" aus, da die Demokratie "schmerzhafte, aber nötige Reformen im Süden der Euro-Zone verhindert". Und Nathan Gardels, Berater beim Nicolas-Berggruen-Institut, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, "neue Ideen für gute Regierungsführung" zu entdecken, sieht in den neuen technokratischen Regierungen einen Gegenentwurf zur Demokratie, von dem "wir alle" profitieren könnten.

In seiner Logik sind die Demokratien in Italien und Amerika nur populistische "Vetokratien", Politiker werden zu "Sklaven" der Stimmungen des Volkes und damit handlungsunfähig. Direkte Demokratie könne das Problem auch nicht lösen, weil dann "die Rentner weiter auf ihren Pensionen" bestünden - nicht gewählte Expertenregierungen, die auf die Wünsche und Bedürfnisse des Volkes keine Rücksicht zu nehmen brauchen, werden so zum Heilsbringer stilisiert. Am Ende steht die Diktatur der Märkte.

Wirtschaftsexperten beziehen das Expertentum meist aus Beziehungen zu Interessengruppen

Kritik an der zunehmenden Entdemokratisierung äußert sich nur einzeln und stammt zumeist auch nicht von den Parlamentariern selbst – auch wenn der Vorstoß zur Beschneidung der Rederechte im Bundestag für einigen Wirbel bei den Abgeordneten gesorgt hat. Spätestens beim nächsten Rettungspaket und weiteren harten Einschnitten zur Beruhigung der Märkte ist der Konsens zwischen Regierung und Opposition - mit Ausnahme der Linkspartei? - dann wiederhergestellt.

Umso bemerkenswerter sind Äußerungen wie die des Geschäftsführenden Direktors am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, der den Austausch von gewählten Regierungen durch Experten scharf kritisiert. Zum einen, weil hier ein fragwürdiges Demokratieverständnis offenbar wird. Aber auch, weil die so genannten Experten lediglich das altbekannte "Arsenal neoliberaler Theorie" auspacken, mit dem sie zumeist selbst an der Entstehung der aktuellen Krise mitgewirkt haben.

Mit Blick auf die deutschen Politiker, die sich gerne als Experten ihrer Partei zu einem bestimmten Thema bezeichnen, bemerkt Streeck lakonisch, diese bezögen ihr Expertentum zumeist nicht aus Wissen, sondern aus Beziehungen zu Interessengruppen. So sei es die Aufgabe der Wirtschaftsexperten in der Politik, der Wirtschaftslobby die Wünsche von den Augen abzulesen und in Sachzwänge zu übersetzen. Daher sei das, was der Öffentlichkeit derzeit als Rettungspolitik verkauft wird, möglicherweise nicht mehr als eine Schlüsselübergabe der Macht an die Finanzindustrie.

Endgültig verloren hat die Demokratie Streeck zufolge jedoch noch nicht. Unter anderem dank der Occupy Wallstreet-Bewegung wachse bei den Mächtigen die Angst vor der Unvernunft der Massen, die auf ihre Bürgerrechte bestehen, obwohl man ihnen immer erklärt hat, dass sie diese nicht verdient hätten. Jedoch solle man nicht darauf hoffen, die herrschende Expertokratie mit Argumenten zu überzeugen, immerhin hat sie ihre Politik selbst für alternativlos erklärt. Für Streeck kann nur noch der Druck der Bevölkerung helfen, die Demokratie zu retten: "Es muss ein großer Unmut aufkommen."

Wie groß der Unmut mittlerweile ist und ob er überhaupt vorhanden ist, wird sich am kommenden Wochenende zeigen. Für den 21. April rufen Aktivisten von Occupy Frankfurt erneut zu Protesten gegen die Krisenpolitik auf.