Europas Showdown

Wie das Spardiktat der Bundesregierung den Zerfall der Eurozone beschleunigt - und wieso auch Hollandes Gegenvorschläge keinen Ausweg aus der Krise liefern

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Die Zeit der deutsch-französischen Harmonie, als Angela Merkel und Nicolas Sarkozy das Merkozy getaufte europäische Führungsduo bildeten, scheint fürs Erste vorbei. Der jüngste informelle EU-Gipfel war von einem regelrechten Schlagabtausch geprägt, bei dem die konträren Forderungen der Bundeskanzlerin und des neuen französischen Staatschefs François Hollande direkt aufeinanderprallten. Hollande forderte bei dem Treffen die Einführung von Eurobonds, mit denen die Zinslast der europäischen Krisenländer gesenkt werden könnte. Merkel lehnte dies ebenso strikt ab, da diese Maßnahme die Zinslast für Deutschland erhöhen würde.

Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.

Hannah Arendt

Dieser "Schlagabtausch" bildet dabei nur einen Aspekt der zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen Paris und Berlin um den richtigen Kurs in der Eurokrise. Der neu gewählte französische Präsident, dem Merkels Intervention im französischen Wahlkampf noch in guter Erinnerung sein dürfte, fordert kreditfinanzierte Konjunkturmaßnahmen, um das Wirtschaftswachstum in der Eurozone zu stimulieren. Dies scheint auch dringend geboten, da immer mehr Länder in dem europäischen Währungsraum in die Rezession übergehen. Die Bundeskanzlerin verweist hingegen auf die hohen Schuldenberge, unter denen Teile der Eurozone stöhnen, und fordert die Beibehaltung der strengen Austeritätspolitik.

Der Druck auf Angela Merkel, ihre Blockadehaltung bei schuldenfinanzierten Konjunkturmaßnahmen aufzugeben, steigt dabei schon seit Wochen kontinuierlich an. Zuletzt wurde die Kanzlerin auf dem G8-Gipfel von Hollande und US-Präsident Obama in die Mangel genommen. Der US-Präsident rief Berlin auf, von der Sparpolitik abzurücken und eine Wachstumspolitik einzuleiten, um eine "globale Krise" zu verhindern. Die Allianz zwischen Obama und Hollande habe dazu geführt, dass Merkel auf dem G8-Gipfeltreffen in dieser Frage weitgehend isoliert war, meldete die Financial Times. Diese zunehmende Isolation Merkels thematisieren inzwischen auch deutsche Medien. In der "Zange zwischen Obama und Hollande" habe sich Merkel "zu nichts verpflichten zu lassen", was angesichts der "schwierigen Ausgangslage ... kein geringer Erfolg" sei, kommentierte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Der Frust über Merkels Halsstarrigkeit sitzt insbesondere im Weißen Haus tief, da Obama sich bereits im Wahlkampf befindet und die US-Regierung mittels umfassender Konjunkturimpulse und einer lockeren Geldpolitik bis zum Wahltag im November den kreditfinanzierten amerikanischen Aufschwung (Amerikas politischer Aufschwung) aufrechterhalten will - eine Eskalation der Eurokrise mitsamt globalen Verwerfungen könnte dieses kostspielige Kalkül ruinieren.

Die zunehmende Isolation Berlins, die auch in der Eurozone seit längerer Zeit voranschreitet, resultiert schlicht aus dem Scheitern des deutschen Spardiktats in Europa. Daran ändert auch die verbissene Realitätsverweigerung nichts, mit der ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit sich dieser Einsicht verwehrt. Alle europäischen Krisenländer, die Sparmaßnahmen umsetzen, befinden sich auf dem selben Weg, auf den Griechenland von Berlin genötigt wurde. Hierbei wird eine ökonomische Todesspirale ausgelöst, bei der immer neue Kürzungsorgien zu einem Wirtschaftseinbruch führen, der die Steuereinnahmen einbrechen und die Sozialausgeben ansteigen lässt. Dadurch werden die Sparziele unterlaufen. Abermalige Sparprogramme läuten dann eine neue Runde der ökonomischen Kontraktion ein.

Der durch immer neue Austeritätsprogramme ausgelöste sozioökonomische Kollaps in Hellas wird bei Beibehaltung des deutschen Spardiktats auch Spanien, Portugal, Irland und Italien erfassen. Insbesondere auf der iberischen Halbinsel ist die Lage bereits ähnlich dramatisch wie in Hellas, sodass inzwischen Gerüchte über geheime Absprachen über Anleiheaufkäufe zwischen EZB und Madrid die Runde machen. Immer mehr europäische Volkswirtschaften, die vormals als stabil galten - wie etwa Tschechien, die Niederlande oder Dänemark - gehen ebenfalls in die Rezession über. Den griechischen Kollaps vor Augen bleibt den meisten Regierungen dieser Länder nichts anderes übrig, als gegen den maßgeblich von Berlin geformten Fiskalpakt zu opponieren.

Die machtpolitischen und ökonomischen Vorteile lassen Deutschlands Politiker blind für die desaströsen Folgen des deutschen Spardiktats in Europa werden

Während für die Mehrheit der Eurostaaten die Lage immer unerträglicher wird, können Deutschlands Exportindustrie und Staatshaushalt von der gegenwärtigen Krise profitieren. Zum einen sinkt die Zinslast für deutsche Staatsanleihen, da Berlin als ein "Sicherer Hafen" im europäischen Chaos erscheint. Mittlerweile leiht sich Deutschland Geld für null Prozent Zinsen. Zudem bleibt der Euro gegenüber anderen Währungsräumen aufgrund der Krise in Europa stark unterbewertet, was die Ausfuhren Deutschlands jenseits der Eurozone massiv ansteigen lässt.

Inzwischen konnten die starken Einbrüche der Exporte in die Eurozone aufgrund des schwachen Euro durch "starke Zuwächse der Verkäufe in andere Regionen mehr als wettgemacht" werden, berichtete etwa die FTD. Somit kann Deutschlands Exportindustrie den schwachen Euro nutzen, um ihre Abhängigkeit von der Eurozone zumindest vorläufig zu reduzieren. Eine eigene deutsche Währung würde gegenüber dem Euro um rund 40 Prozent aufwerten, was zu einem raschen Ende des deutschen Exportbooms beitragen würde. Zudem steigt mit dem Fortbestehen der gegenwärtigen Konstellation und Krisenpolitik in Europa die ökonomische Übermacht Deutschlands immer weiter an: Während die Krisenländer in Rezession und Stagnation verfallen, wächst die exportgetriebene Deutsche Wirtschaft dank Euroschwäche kräftig.

Diese machtpolitischen und ökonomischen Vorteile sind es, die Deutschlands Politelite blind werden lassen für die desaströsen Folgen des deutschen Spardiktats in Europa. Die ökonomische Überlegenheit Deutschlands münzte Berlin in einen politischen Führungsanspruch um, den der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder auf eine berüchtigte Formel brachte: "Auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen."

In der Eurozone wird die Krisenpolitik von den divergierenden nationalen Interessen überlagert und mit diesen vermengt. Die besondere Ineffektivität der europäischen Krisenpolitik ist somit zu einem guten Teil darauf zurückzuführen, dass es sich hierbei - im Gegensatz zu den Maßnahmen etwa in den USA - um das Ergebnis nationaler Machtkämpfe innerhalb einer Währungsunion handelte, die den nationalen Vorteil zur Maxime haben, und nicht die Stabilisierung des Währungsraums. Die Nationalstaaten praktizieren in der Krise dieselbe Politik der Maximierung des eigenen Vorteils, die sie schon seit ihrer Entstehung im 18. und 19. Jahrhundert verfolgten. Und hierbei konnte sich bisher Berlin auf nahezu ganzer Linie durchsetzen. Deutschlands Meinungsmacher träumen bisweilen schon davon, die Bundesrepublik werde in die Fußstapfen der Vereinigten Staaten treten:

In der Euro-Krise hängt mittlerweile alles an Deutschland. Die Bundesrepublik könnte in Europa wirtschaftlich das werden, was Amerika immer noch für die Welt ist: unvollkommene, ungeliebte, aber entscheidende Macht. Jetzt muss Deutschland führen, und Merkel ist dazu bereit.

Die Haltung der Deutschen ist von der Agenda 2010 geprägt

Wieso ist aber auch ein Großteil der Bevölkerung nicht bereit, die offensichtliche Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass die deutsche Reform- und Sparpolitik in der Eurozone gescheitert ist? Das liegt vor allem an der Legende, der zufolge die Reformpolitik der Agenda 2010 in Deutschland erfolgreich gewesen sei. Viele Menschen in der Bundesrepublik haben im Verlauf dieses Sozialkahlschlags enorme Entbehrungen auf sich nehmen müssen und reagieren nun mit Wut und Unverständnis, wenn ihre Steuergelder für die Stabilisierung der Krisenländer aufgewendet werden sollen, die ein schuldenfinanziertes "Lotterleben" geführt hätten.

Während die Bevölkerung der Bundesrepublik vermittels Hartz IV auf lohnpolitische Nulldiät gesetzt wurde, haben die südlichen Euroländer einen wilden schuldenfinanzierten Boom erlebt, so die Stammtischlegende hierzulande. Es herrscht die Stimmung vor, die "Südländer" demselben Sparterror zu unterwerfen, dem man selber ausgesetzt gewesen war - und der doch anscheinend Deutschland nun zur Führungsmacht Europas aufsteigen ließ. Die Blindheit eines großen Teils der deutschen Bevölkerung gegenüber der Tragödie, die sich in Griechenland und Südeuropa aufgrund des deutschen Spardiktats entfaltet, resultiert somit aus einer im Gefolge der Schocks der Agenda 2010 um sich greifenden Untertanenmentalität. Hierbei richtet sich die Wut gegen alle Menschen, die sich den Prämissen der Amok laufenden "Ökonomie" nicht beugen wollen - und etwa Generalstreiks durchführen, anstatt sich in Niedriglöhne und Hartz-IV-Zwangsarbeit zu fügen. Für alle Menschen, die die Prämissen des grassierenden Ökonomismus verinnerlicht haben und deswegen Verzicht üben, muss ein Widerstand gegen die wirtschaftlichen "Sachzwänge" unerträglich scheinen.

Das Problem bei dieser gewissermaßen sadistischen Sichtweise der Eurokrise ist nur, dass die Agenda 2010 in der BRD ohne die Verschuldungsprozesse in Europa nicht möglich gewesen wäre. Die von der Regierung Schröder-Fischer eingeleitete Prekarisierungswelle in Deutschland ließ die Binnennachfrage in Deutschland genauso einbrechen, wie es nun der deutsche Sparterror in Europa tut. Doch konnte in der Bundesrepublik dieser Einbruch damals durch die extreme Steigerung der Exportüberschüsse in die Eurozone ausgeglichen werden, die ja aufgrund des Euro nicht mehr mit Währungsabwertungen darauf reagieren konnte.

Die Folge: Seit der Einführung des Euro hat Deutschlands Exportindustrie einen gigantischen Leistungsbilanzüberschuss gegenüber der Eurozone angehäuft, der inzwischen auf rund 800 Milliarden Euro angestiegen sein dürfte. Diese Überschüsse Deutschlands entsprechen den Defiziten - also Schulden - der übrigen Eurostaaten. Bei der Eurozone handelt es sich also bereits um eine Transferunion - allerdings nicht um eine, bei der Deutschlands Steuerzahler andere Staaten finanzieren würden; sondern um eine Transferunion, bei der die Leistungsbilanzüberschüsse der deutschen Exportindustrie mit einer ausufernden Defizitbildung der schwächeren südeuropäischen Volkswirtschaften beglichen wurden - wie mit der Prekarisierung des Arbeitslebens in Deutschland selber. Die simple arithmetische Tatsache, dass Deutschlands Leistungsbilanzüberschüsse automatisch die Schulden der Importländer darstellen müssen, wird im deutschen Krisendiskurs verbissen ausgeblendet. Es gibt somit tatsächlich einen ökonomischen Zusammenhang zwischen den schmerzhaften Reformen der Agenda 2010 und den Schuldenbergen Südeuropas: Beide Prozesse bedingen einander.

Es ist somit absolut ausgeschlossen, dass Europas derzeitige Krisenstaaten dem repressiven deutschen Vorbild folgen könnten und durch Strukturreformen nach Vorbild der Agenda 2010 plötzlich "konkurrenzfähig" würden. Dies schon allein deswegen, weil es keine ausartenden Verschuldungsprozesse mehr gibt, die den Einbruch der Binnennachfrage im Zuge der Sparprogramme kompensieren könnten - dafür sorgt Merkel mit unerbittlicher Härte. Und Berlin ist offensichtlich gewillt, dieses ruinöse Spardiktat in Europa auch zum bitteren Ende durchzusetzen, um die derzeitige Dominanz zu zementieren. Hierzu wird an Griechenland ein Exempel statuiert werden, sollten dessen Wähler tatsächlich Parteien zur Mehrheit verhelfen, die dem seit Jahren erfolglosen und das Land in den Abgrund treibenden Spardiktat ein Ende bereiten.

An Griechenland wird ein Exempel statuiert

Griechenland wird in diesem Fall aus der Eurozone gedrängt werden. Die Bundesbank etwa erklärte jüngst, die Folgen eines Ausscheidens Griechenlands aus der Eurozone und EU seien "beherrschbar". Bundesbankpräsident Jens Weidemann forderte inzwischen auch die europäischen Zentralbanken auf, ihr Engagement in Hellas nicht zu erweitern. Bundeskanzlerin Merkel ging sogar so weit, bei griechischen Politikern ein Referendum über den Euro-Ausstieg zu fordern, das zeitgleich mit der Wahl am 17. Juni abgehalten werden sollte (Verlangt Merkel ein Referendum in Griechenland?).

Diese in aller Offenheit angekündigten Schritte sollen selbstverständlich auch die griechische Wählerschaft beeinflussen und gefügig machen, doch meinen es Brüssel und Berlin mit ihren Drohungen durchaus ernst. Schon kurz nach der Wahl in Hellas soll Finanzminister Schäuble gegenüber EU-Diplomaten angekündigt haben, entsprechende Pläne zu einer Exklusion Griechenlands auszuarbeiten, wie der britische Telegraph am 19. Mai berichtete.

Tatsächlich wird Berlin aus machtpolitischen Erwägungen heraus alles daran setzen müssen, Athen aus der Eurozone zu drängen, sollte dessen künftige Regierung nicht mehr dem deutschen Spardiktat Folge leisten wollen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung brachte diese Machtlogik unter Bezugnahme auf Alexis Tsipras, den Vorsitzenden der griechischen Linkspartei Syriza, auf den Punkt: "Warum sollten andere Staaten noch sparen, wenn sie sehen, dass ein smarter Enddreißiger in Athen die gesamte Eurozone in die Knie zwingen kann?"

An Griechenland wird notfalls unter Inkaufnahme aller Konsequenzen ein Exempel statuiert werden, um andere Schuldenstaaten davon abzuhalten, künftig gegen die Vorgaben aus Berlin und Brüssel zu revoltieren. Hellas würde von einem Ausstieg aus der Eurozone sehr hart getroffen werden, da das Land nach jahrelangem Sparterror deindustrialisiert ist und nach einem Bankrott kaum noch neue Investitionen anlocken würde. Der Rauswurf Griechenlands bildet das Disziplinierungsmittel, mit dem Berlin hofft, seine Dominanz in der Eurozone zementieren zu können.

Neben der Einstellung der Kreditzahlungen würde die Europäische Zentralbank in einem solchen Fall aufhören, die griechischen Banken mit Liquidität zu versorgen. Die Folge wäre ein "Bankrun", bei dem Sparer verzweifelt versuchen würden, an ihr Geld zu kommen. Dies ist keine graue Theorie - diese Stürme auf die Banken deuten sich bereits in Griechenland und Spanien in Zeitlupe an. Eine mit massiven Bankruns einhergehende Panik würde zu Bankenschließungen führen und Schockwellen über die Finanzmärkte jagen. Der Sturm auf die Banken könnte bei den geringsten Anzeichen eines Ausscheidens Griechenlands aus der Eurozone einsetzen, weil dies mit einer enormen Abwertung der neuen Drachme - und somit enormen Werteinbußen für die Griechen - einherginge.

Um aber einer nahezu zwangsläufige Kettenreaktion in der Eurozone entgegenzuwirken, bei der südeuropäische Staaten wie Spanien, Portugal oder Italien in den Abgrund gerissen würden, müsste die EZB in die Lage versetzt werden, den europäischen Finanzmarkt mit Liquidität förmlich zu überschwemmen. Nur durch massive Kreditvergabe der Notenbank an notleidende Banken und umfangreiche Aufkäufe von Staatsanleihen bestünden überhaupt Chancen, eine katastrophale Kernschmelze der Eurozone zu verhindern. Diese Maßnahmen liefen de facto auf Gelddruckerei hinaus, mit der mittelfristig die Inflation angeheizt würde.

Um die europäische Austeritätspolitik durchzusetzen und ein Exempel an Hellas zu statuieren, müsste somit ein Grundprinzip der Austeritätspolitik - der Monetarismus - untergraben werden. Tatsächlich scheint die Bundesregierung gewillt, in diesem Punkt ihre abwehrende Haltung aufzugeben, sodass der "Rettungsfonds" ESM mit einer Bankenlizenz ausgestattet würde, um ein Übergreifen der Krisendynamik auf andere Länder zu verhindern. Der Ausgang dieses Vabanque-Spiels ist absolut ungewiss, es könnte bei Misslingen katastrophale Folgen für die gesamte Weltwirtschaft nach sich ziehen.

Aporie der Krisenpolitik

Letztendlich reiht sich dieser angehende Versuch der Exklusion Griechenlands in die populären Krisenreflexe ein, die die Krisenopfer zu Krisenverursachern imaginieren (Wir müssen draußen bleiben). Doch selbst beim erfolgreichen kurzfristigen "Eindämmen" der Krisendynamik auf Griechenland und einer Zementierung der Sparpolitik in der Eurozone würde es sich um einen klassischen Pyrrhussieg handeln. Den Gipfelpunkt der Realitätsflucht im deutschen Krisendiskurs bildet eben die Annahme, die europäischen Schuldenländer hätten die Eurokrise selbst verursacht. Wie bereits dargelegt, haben die Verschuldungsprozesse in der Eurozone überhaupt erst die erfolgreiche Exportausrichtung der deutschen Wirtschaft ermöglicht.

Die Verschuldungsdynamik spielt nicht nur in Europa, sondern auch auf globaler Ebene seit Jahrzehnten in zunehmendem Ausmaß die Rolle einer zentralen Konjunkturstütze. Weder die verschuldeten "Südeuropäer", noch der deutsche Sparterror haben die derzeitige Krise verursacht. Die derzeitige Systemkrise resultiert aus den Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise, die an ihre inneren Schranken stößt (Die Krise kurz erklärt). Die Verschuldungsdynamik der letzten Jahrzehnte stellte schlicht eine Notwendigkeit dar, um den an seiner eigenen Produktivität erstickenden Kapitalismus überhaupt funktionsfähig zu erhalten. Ohne Verschuldung zerbricht das System an sich selbst.

Implizit tragen viele Regierungen und Institutionen dieser Tatsache einer systemischen Überproduktionskrise Rechnung, indem sie - wie in den USA - mit Konjunkturpaketen die Nachfrage stimulieren. Inzwischen warnt auch die OECD eindringlich, dass die Sparmaßnahmen die Eurozone in die Rezession treiben. Überall, wo die Verschuldungsdynamik nicht mehr aufrechterhalten wird, bricht die Wirtschaft in einer Spirale aus Stagnation, Rezession und schließlich Depression zusammen.

Tatsächlich ist die Krise systemimmanent mit den Mitteln bürgerlicher Politik nicht lösbar. Die politische Klasse befindet sich somit in einer Krisenfalle, bei der sie nur die Wahl zwischen zwei Übeln hat: Sie kann nur zwischen weiterer Verschuldung bis zum unvermeidlichen Staatsbanktrott mitsamt Hyperinflation wählen, oder sie kann den Weg harter Sparprogramme einschlagen, die in Rezession inklusive einsetzender Deflationsspirale führen. Diese Aporie der Krisenpolitik spiegeln gerade die eingangs dargelegten Auseinandersetzungen zwischen Hollande, der weitere Schuldenberge aufhäufen möchte, und Merkel wider, die mittels Sparterror den sofortigen Wirtschaftsabsturz herbeiführt. Und genau dieser Widerspruch kapitalistischer Krisenpolitik bildet das morsche Fundament, auf dem das "deutsche Europa" errichtet wurde. Mit der Sparpolitik trocknet die Regierung Merkel sukzessive die Absatzmärkte der deutschen Exportindustrie nicht nur in der Eurozone, sondern auch in den Schwellenländern aus, die bereits von den Folgen der Schuldenkrise erfasst werden.