Risse an Reaktorbehältern

AKW Cofrentes. Bild: R. Streck

Sicherheitsprobleme im belgischen Atomkraftwerk Doel führen zu Untersuchungen und Forderungen nach Abschaltung baugleicher Meiler, weltweit gibt es 22 davon

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Etwa 8.000 Risse sind bei einer Ultraschallprüfung an einem Reaktorblock im belgischen Doel entdeckt worden. Die belgische Atomaufsicht hat daraufhin auch die Abschaltung eines Blocks in Tihange angeordnet und spricht von einem "weltweiten Problem", da insgesamt 22 Meiler mit Reaktordruckbehältern einer holländischen Firma ausgestattet wurden, die nicht mehr existiert. In Spanien ist ausgerechnet der Uraltreaktor mit dem Behälter versehen worden, der zudem baugleich mit den havarierten in Fukushima ist. Die konservative Regierung will aber die Laufzeit von Santa Maria de Garoña, der nach 40 Jahren schon 2011 vom Netz gehen sollte, sogar bis 2019 verlängern.

Es waren Hinweise aus Frankreich, die Belgien auf die Spur der Risse im Atomkraftwerk Doel brachte. Schon vor acht Jahren waren Risse im französischen Tricastin entdeckt worden. Das Atomkraftwerk kam 2008 wegen Unfällen zu einer traurigen Berühmtheit (Tricastin schon wieder). Zwar wurden in Doel nicht Risse in der Art von Tricastin gefunden, sondern man stellte tausende feine Risse wurden bei der Überprüfung mit neuen Ultraschall-Messgeräten am unteren Teil des Reaktorblocks fest. Die französische Tageszeitung Le Monde hatte danach berichtet, dass weltweit 22 Meiler betroffen sein könnten.

Am vergangenen Donnerstag wurden schließlich Vertreter verschiedener Aufsichtsbehörden der betroffenen Länder in Brüssel über die Vorgänge informiert. Weil es Hinweise auf Fehler im Stahl gäbe, ordnete die belgische Atomaufsichtsbehörde AFCN am Donnerstag gleichzeitig auch die Abschaltung des Kernkraftwerks Tihange aus Sicherheitsgründen an. Es werde den gleichen Untersuchungen wie Doel 3 bei Antwerpen unterzogen, hieß es in einer Erklärung der AFCN.

Ein Problem der belgischen Behörden ist, dass die Reaktorbehälter vom niederländischen Hersteller "Rotterdamsche Droogdok Maatschappij" stammen, der nicht mehr existiert. Man wisse deshalb nicht, welche Kunden sie hatte, sagte die AFCN-Sprecherin Karina De Beule: "Deswegen haben wir alle anderen Atomaufsichtsbehörden über unseren Fall informiert und sie gebeten zu prüfen, ob in ihrem Land ebenfalls ein solcher Reaktorbehälter existiert." Nach Angaben von Le Monde finden sich die Behälter in den USA, Frankreich, der Schweiz, Schweden, Deutschland, den Niederlanden, Spanien, Großbritannien und Argentinien.

Reparatur nahezu unmöglich

In einem Interview mit der Zeitung De Morgen hat der Direktor der belgischen Atomaufsichtsbehörde AFCN am Samstag angeregt, die mit baugleichen Reaktorbehältern ausgestatteten Meiler "dauerhaft" stillzulegen. Die Abschaltung von Tihange begründete von Willy De Roovere damit, dass er überrascht wäre, wenn man dort bei der Prüfung nichts finden würde. Wie Doel soll auch der Block in Tihange vor der Überprüfung nicht wieder ans Netz gehen. Die Untersuchungen sollen ausgewertet werden und es ist geplant, dass im Oktober über die Zukunft der beiden belgischen Meiler entschieden wird.

Bisherige Resultate schließen nicht aus, dass umfangreiche Materialfehler vorliegen. Wenn sich die Probleme in der Stahlstruktur bestätigen, dann habe man es mit einem "weltweiten" Problem zu tun, vor allem dann, wenn sich in Tihange die Probleme aus Doel ebenfalls zeigen. Für die belgische Atomaufsicht sei es dann kaum noch zu beweisen, dass diese Reaktorbehälter sicher sind und wieder ans Netz gehen können. Eine Reparatur einen solchen Behälters hält De Roovere für "nahezu unmöglich".

De Roovere hat deshalb alle betroffenen Länder aufgefordert, entsprechende Prüfungen durchzuführen. Die Schweiz hat schon reagiert. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) lässt auch Mühleberg und Leibstadt untersuchen. Beide Meiler mussten aber nicht abgeschaltet werden, da sie wegen der jährlichen Jahresrevisionen außer Betrieb waren. Für das Ensi handelt es sich beim Reaktordruckbehälter um das "Herz eines Kernkraftwerks", das "extreme Belastungen aushalten" müsse. Nun können die Eidgenossen zeigen, ob sie tatsächlich durch "umfangreiche Prüfungen bei der Herstellung" sichergestellt hatten, dass nur Material eingesetzt wurde, "das strenge Qualitätsanforderungen erfüllt".

Stresstests haben versagt

Allerdings meint die Ensi, dass es bei der "Ultraschallprüfung, wie sie im Juni im belgischen Kernkraftwerk Doel-3 durchgeführt wurde, um eine Sonderprüfung handelt". Derlei großflächige Prüfungen des Grundmaterials werden nur vorgesehen, "wenn es hierfür einen entsprechenden Anlass gibt". Das Ensi kläre ab, ob aufgrund der Erkenntnisse aus Belgien diese Sonderprüfungen erforderlich sind. Deutschland scheint dagegen Glück zu haben, da die betroffenen Atomkraftwerke Brunsbüttel und Philippsburg 1 bereits abgeschaltet wurden.

Greenpeace bewertet die Risse als besonders kritisch, weil es kein Backup-System gäbe. "Das bedeutet, dass ein komplettes Versagen des Behälters auch von Sicherheitssystemen nicht abgefangen werden kann." Deshalb könne es zu Freisetzung großer Mengen von Radioaktivität kommen, schreibt die Umweltschutzorganisation. Greenpeace weist in diesem Rahmen aber auch darauf hin, wie unsinnig der EU-Stresstest für Atomkraftwerke ist. Die Tests sind fast abgeschlossen, aber bei den belgischen Reaktoren habe es keine Beanstandung an Reaktordruckbehältern gegeben. Da die Reaktoren nun aber heruntergefahren wurden, zeige sich, "dass der Test zwar hilfreich für die Imagepflege der Atomindustrie ist, aber als Sicherheitsnachweis versagt hat", meint Heinz Smital, Atomphysiker und Atomexperte von Greenpeace.

Anders als in der Schweiz, scheinen die spanischen Aufseher im Urlaub zu sein. Obwohl der atomfreundliche Kontrollrat (CSN), der bisweilen an der Vertuschung von Störfällen beteiligt ist (Unfallserie und Vertuschung in spanischen Atomkraftwerken), auch einen Vertreter nach Brüssel entsandt hatte, vermisst man eine Stellungnahme der Atomaufsicht bis heute. Dabei sind gerade die Pannenreaktoren Cofrentes (Rekordstrafe für verheimlichten Störfall in spanischem Atomkraftwerk) und Santa Maria de Garoña mit den defekten Reaktorbehältern ausgestattet.

In Spanien fordern auch Konservative die Abschaltung der Uralt-Meiler

Es handelt sich, wie im havarierten Atomkraftwerk Fukushima, ebenfalls um Siedewasserreaktoren. Garoña ist sogar ein Fukushima-Zwilling und baugleich mit den japanischen Reaktoren (Spanische Fukushima-Schwestern). Cofrentes ging dagegen erst 1984 ans Netz und ist moderner als Garoña. Es handelt sich aber um die Schwesteranlage des Schweizer Reaktors Leibstadt und steht zudem in einem Erdbebengebiet. Anders als Leibstadt ist Cofrentes aber weiterhin am Netz. Spanische Medien haben die Worte des Direktors der belgischen Aufsichtsbehörde aufgegriffen. Sie interpretieren sie so, dass beide Reaktoren definitiv abgeschaltet werden müssen, wenn sich auch hier Risse zeigten.

Auffällig ist, dass es konservative Medien sind, die wie El Mundo in einer Wunde der regierenden konservativen Volkspartei (PP) bohren, der sie nahe stehen. Dass die Linke (IU) und Umweltschutzorganisationen fordern, dem belgischen Beispiel "sofort" zu folgen und die betroffenen Reaktoren abzuschalten, verwundert nicht. Vor allem im Baskenland aber, an dessen Grenze der altersschwache Meiler Garoña in der Provinz Burgos steht, fordern auch immer mehr Konservative, den Meiler sofort und für immer vom Netz zu nehmen. Schließlich handelt sich um das älteste spanische Atomkraftwerk, dass schon 2011 nach 40 Jahren hätte abgeschaltet werden sollen. Doch schon die sozialistische Regierung in Madrid hatte die Krise als Ausrede benutzt und die Laufzeit bis 2013 gegen alle Ausstiegsversprechen verlängert (Atomenergie: Spanische Sozialisten brechen Wahlversprechen).

Damit hatten sie es der atomfreundlichen PP ermöglicht, den Forderungen des Betreibers nach einer weiteren Laufzeitverlängerung nachzukommen. Denn Nuclenor, hinter der Endesa und Iberdrola stehen, will den Altmeiler sogar bis 2019 weiter betreiben. Doch als im Juli das spanische Industrieministerium angekündigt hat, diesem Ansinnen nachzukommen zu wollen (Spanien will ältestes Atomkraftwerk bis 2019 am Netz halten), wurde auch offener Widerspruch in der baskischen Sektion der PP laut. Auch Führungsmitgliedern der Konservativen wird immer mulmiger, da auch sie Garoña für unsicher halten. Offen argumentiert der PP-Bürgermeister von Vitoria-Gasteiz gegen das Atomkraftwerk. Die Stadt liegt nur gut 50 Kilometer entfernt vom Reaktor.

Javier Maroto hat Einspruch gegen die Laufzeitverlängerung beim Industrieministerium eingelegt und in dieser Frage herrscht Einigkeit im Stadtrat. "Wir wollen diesen Vorgang stoppen", erklärte Maroto. Er liegt damit quer zur Parteilinie auf einer Linie mit der Greenpeace, die gegen die Laufzeitverlängerung klagen will. Er weiß, dass er sich damit Feinde in Madrid macht. Doch der überwiegende Teil der Bürger in der Stadt mit 250.000 Einwohnern, die das baskische Regionalparlament beherbergt, sei der Meinung, "dass Garoña die Laufzeit überschritten hat und ein Risiko darstellt".

Es zeigt sich, dass auch bei spanischen Konservativen der Super-Gau in Fukushima Spuren hinterlassen hat. Den Beschwörungen von Nuclenor, Garoña sei trotz seines Alters sicher, bezweifeln auch sie immer stärker. Dass der Reaktor von General Electric (GE) baugleich mit den Unglücksreaktoren ist, hat Zweifel bestärkt. Hinzu kommt noch, dass die Notkühlprobleme dieses Reaktortyps schon seit 1971 bekannt sind und von der US-Aufsichtsbehörde missachtet wurden (Notkühlprobleme von Fukushima-Reaktoren seit 1971 bekannt). Das alles führte letztlich dazu, dass sich Maroto öffentlich gegen Garoña positioniert hat und damit einem atomkritischen Flügel gegen die Parteidoktrin eine Stimme gibt.

Die in Doel entdeckten Probleme am Reaktorbehälter erhöhen nun den Druck auf Spanien weiter, altersschwache Atomkraftwerke endlich abzuschalten. Sollten auch Risse an anderen Orten nachgewiesen werden, sind auch Cofrentes und Garoña nicht zu länger halten. Ohnehin, darauf hatte EU‑Energiekommissar Günther Oettinger kürzlich hingewiesen, wäre es sinnvoller und billiger für Spanien, in erneuerbare Energien zu investieren. Brüssel beklagte auch eine "unzureichende Konkurrenz" auf dem spanischen Strommarkt. Das Tarifsystem verteuere zusätzlich den Strom, weil alte längst abgeschriebene Anlagen bevorteilt würden. Explizit werden dabei auch Atomkraftwerke benannt.