Nazis gegen Hitler

Otto Strasser und der Revolutionäre Nationalsozialismus

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Otto Strasser ist in der rechten Szene zum Teil beliebter als Adolf Hitler. Bei den Demonstrationen des „Nationalen Widerstands“ findet man das Zeichen des Strasser'schen „Revolutionären Nationalsozialismus“, Hammer und Schwert, auf vielen Fahnen und Transparenten. Der NSDAP-Renegat hat den entschiedenen Vorteil, sich nicht bei einem Holocaust die Finger schmutzig gemacht zu haben. Vor allem ist er im Gegensatz zu Hitler kein Bündnis mit dem Großkapital eingegangen. Die sozialrevolutionäre und antikapitalistische Ausrichtung dieses wichtigsten Theoretikers der NS-Linken macht ihn gerade für viele jüngere Neofaschisten attraktiv. Seine starke Wirksamkeit in der heutigen Rechten ist ein Grund, sich mit „Hitlers Feind Nummer 1“ (Joseph Goebbels), dessen Anhänger im „Dritten Reich“ massiver verfolgt wurden als die Kommunisten, einmal näher zu beschäftigen.

Otto Johann Maximilian Strasser (auch: Straßer) wird am 10. September 1897 in Windsheim, Mittelfranken geboren. Die Eltern sind Peter und Pauline. Die Familie hat 5 Kinder, von denen der Bruder Gregor fünf Jahre älter ist als Otto. Der Vater ist Kanzleirat am Amtsgericht in Windsheim.

Otto besucht die Realschule in Meggendorf und die Oberrealschule in München. Dann nimmt er ein Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften auf. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges bricht er sein Studium ab und meldet sich wie sein Bruder Gregor freiwillig zum Wehrdienst. Er ist 16 Jahre alt und dient als jüngster Freiwilliger Bayerns. Otto bringt es bis zum Oberstleutnant. Er erhält für seine Tapferkeit das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse.

Otto Strasser 1915

Nach seiner Demobilisierung im April/Mai 1919 beteiligt er sich mit seinem Bruder Gregor am Einsatz der Freikorps gegen die Bayerische Räterepublik. Im Juli 1919 kehren die Brüder ins Zivilleben zurück. Gregor wird Apotheker in Landshut. Bald wird er Adolf Hitler treffen.

Otto nimmt 1919 in Berlin sein Studium wieder auf. Strasser ist seit 1919 in der SPD aktiv und gründet 1920 den „Akademischen Kriegsteilnehmerverband S.P.D.“ Der Student betätigt sich beim sozialdemokratischen „Vorwärts“ als Autor.

Während des Kapp-Putsches vom 13. März 1920 wird er Ehrenpräsident des „Republikanischen Führerbundes“, der die monarchistischen Freikorps bekämpft. Im Ruhrgebiet sind aufständische sozialistische Arbeiter trotz der Zusage der Straffreiheit nach ihrer Kapitulation Vergeltungsmaßnahmen der Reichswehr ausgesetzt. Auch wurde den Arbeitern eine Nationalisierung der Großbetriebe versprochen, was die Reichsregierung nicht einhält. Erschüttert über diesen Verrat tritt Otto aus der SPD aus.

Er geht, politisch desorientiert, zurück nach Bayern. Es kommt, auf Vermittlung seines Bruders Gregor, zu einem ersten Treffen mit Hitler. Otto ist, auch menschlich, nicht gerade angetan von ihm. Er resümiert nach dem Gespräch, Hitler habe keine politischen Überzeugungen und attestiert ihm die „Beredsamkeit eines Lautsprechers“.

Strasser lernt den konservativ-revolutionären Theoretiker Arthur Moeller van den Bruck kennen, der das Wort vom „Dritten Reich“ geprägt hat, und schreibt für dessen Zeitschrift „Das Gewissen“. Bei Moeller schätzt er die Verbindung von Sozialismus und Nationalismus.

Otto schließt 1920 auch seine Promotion in Würzburg ab. Er arbeitet als Hilfsreferent im Versorgungsministerium, bis er 1923 in die Privatwirtschaft wechselt, um bald die rechte Hand des Generaldirektors eines Spirituosenkonzerns zu werden.

Nach dem Scheitern des Hitlerputsches am 9. November 1923 wird die NSDAP reichsweit verboten. Am 1. April 1924 wird Hitler zu fünf Jahren Festungshaft wegen Hochverrats verurteilt, von denen er aber nur wenige Monate verbüßt. Im Februar 1925 wird die NSDAP wiedergegründet. Gregor wird eines der ersten Mitglieder und zuerst Gauleiter von Niederbayern/Oberpfalz. Nachdem er schließlich Organisationsleiter der NS-Partei in Norddeutschland geworden ist, bittet er seinen Bruder, ihm bei der Herausbildung einer Ideologie des nationalen Sozialismus zu helfen. Otto Strasser ist von nun an der norddeutsche Chefideologe der Partei.

Hitler beginnt, in Gregor einen Konkurrenten um die innerparteiliche Macht zu sehen. Er braucht ihn aber vorerst noch. Im September 1925 kommt es zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft der nord- und westdeutschen Gaue der NSDAP“, die Vehikel des sozialrevolutionären, antikapitalistischen Flügels der Partei wird.

Radikal sozialistischer und prosowjetischer Kurs

Einer der wichtigsten Vertreter eines radikal sozialistischen und prosowjetischen Kurses ist Joseph Goebbels, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft und Redakteur des Theorieorgans „Nationalsozialistische Briefe“.

Spannungen zwischen der NS-Linken und der Münchner Zentrale zeigen sich bei der Frage der Fürstenabfindung. Auf Antrag von SPD und KPD soll ein Volksbegehren zur entschädigungslosen Enteignung der Königs- und Fürstenhäuser stattfinden, das schließlich scheitert. Die linken Nationalsozialisten unterstützen dieses Ansinnen. Hitler plädiert für eine Entschädigung der Fürsten.

Propagandawagen zur Fürstenenteignung 1926. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-00685 / CC-BY-SA.

Verhandelt wird diese Frage auf einer Tagung am 24. Januar 1925 in Hannover. Hier soll, glaubt man Otto Strasser, Joseph Goebbels sogar den Ausschluss des „kleinen Bourgeois Adolf Hitler aus der nationalsozialistischen Partei“ gefordert haben. Die versammelten NS-Funktionäre beschließen ein Zusammengehen mit den linksgerichteten Parteien in Sachen Fürstenabfindung. Sie legen ein Programm vor, dass das 25-Punkte-Programm der NSDAP aus dem Jahr 1920 antikapitalistisch präzisieren soll.

Adolf Hitler gelingt es, Goebbels aus der Front der Linken herauszulösen, als er ihn im März nach München einlädt und hofiert. Nach einer Rede des NS-Führers ist der vollends von ihm überzeugt: „Ich beuge mich dem Größeren, dem politischen Genie“, notiert er in sein Tagebuch. Ende April des Jahres gibt Goebbels seinen Übertritt zu Hitler bekannt.

Durch eine Verwaltungsreform konzentriert Hitler die Macht in der Partei auf sich. Die Gauleiter werden zum Beispiel ab jetzt nicht mehr von Gregor Strasser, sondern von Hitler direkt ernannt. Der NS-Führer erklärt, dass das 25-Punkte-Programm der Partei von nun an unabänderlich ist.

Gregor Strasser. Foto: Bundesarchiv, Bild 119-1721 / CC-BY-SA

Hitler bietet Gregor an, nach München zu kommen und hauptamtlicher Parteifunktionär zu werden. Der lehnt ab. Die Brüder gründen den „Kampf-Verlag“, in dem diverse Zeitungen und Zeitschriften wie „Der Nationale Sozialist“ und der „Sächsische Beobachter“ erscheinen. Otto wird der wichtigste Mitarbeiter, als Chefredakteur der "Berliner Arbeiterzeitung" (BAZ) und der "NS-Briefe".

Die Ernennung von Joseph Goebbels zum Gauleiter von Berlin am 9. November 1926 ist das Startsignal für eine neue Phase im Kampf gegen die Strasser-Fraktion. Goebbels schließt die BAZ, eigentlich NSDAP-Organ in Berlin, von allen parteioffiziellen Bekanntmachungen aus und behält diese seiner eigenen Publikation, dem Angriff, vor. Er sorgt dafür, dass SA-Männer Straßenverkäufer der BAZ überfallen, und schiebt die Übergriffe den Kommunisten in die Schuhe.

1928 bietet Hitler Gregor das Amt des Reichsorganisationsleiters an, um ihn zu neutralisieren. Der nimmt an, in der Hoffnung, Hitler für die sozialistische Richtung zu gewinnen. Die Frage, ob man mit den bürgerlichen Nationalisten zusammengehen soll, wird akuter. Am 12. Mai 1929 sind Landtagswahlen in Sachsen. Die NSDAP erringt 5 Sitze und ist Zünglein an der Wage. Hitler erstrebt ein Bündnis mit der bürgerlichen Rechten. Die linke NSDAP vor Ort will eine Koalition mit KPD und SPD eingehen. Die beiden Arbeiterparteien lehnen diesen Vorschlag vehement ab und machen das Vorhaben des Gauleiters von Mücke öffentlich. Hitler ersetzt daraufhin alle sozialistisch denkenden Funktionäre durch München-treue Parteimitglieder. Er lehnt nun selbst einen Eintritt in eine Koalition ab und unterstützt nur die Konservativen und die Deutsche Volkspartei (DVP). Dieser relative Rückzug Hitlers bedeutet keinen Sieg der NS-Linken, weil sie alle ihre parteiinternen Stützpunkte in Sachsen verliert und vor allem, weil die NSDAP ein Bündnis mit der bürgerlichen Rechten eingeht.