Was Banker, Fernsehpromis und Merkel gemeinsam haben

Thomas Rietzschel über Dilettantismus als Massenphänomen unserer Zeit. Teil 1

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Mit Stunde der Dilettanten - Wie wir uns verschaukeln lassen hat der Autor und ehemalige Kulturkorrespondent der FAZ Thomas Rietzschel ein kluge und scharfzüngige Kritik an den gegenwärtigen politischen und kulturellen Zuständen verfasst. Auch der Leser, welcher den Tenor seiner Ausführungen in der Gesamtheit nicht teilt, kann das Buch erstens mit Vergnügen lesen, weil es über weite Strecken brillant geschrieben ist.

Zweitens lässt es sich auch dort, wo man mit dem Autoren nicht übereinstimmt, mit Erkenntnisgewinn studieren, weil die Thesen so klar formuliert sind, dass einem, geradewegs die nötigen Gegenargumente dazu einfallen. Und drittens wird man feststellen, dass einem - trotz konträrer politischer Positionen - mittlerweile der kluge, sich auf die Aufklärung berufende Konservatismus näher steht als die politisch korrekt servierte, postmodern-grünsozialdemokratische Milchgraupensuppe, die einem sonst als alternatives Sparmenü zum schwarzgelben Feinschmecker-Eintopf geboten wird. Ein Interview mit dem unzeitgemäßen Merkel-Kritiker.

Herr Rietzschel, was zeichnet einen Dilettanten aus?

Thomas Rietzschel: Gemeinhin glaubt man, der Dilettant sei einer, der von dem, was er zu können meint, meist nichts und in jedem Fall zu wenig versteht. Das stimmt aber nicht ganz, denn eines beherrscht der Dilettant ganz hervorragend: die Täuschung. Der Dilettant ist ein begnadeter Blender, ein Meister in der Kunst, sich und anderen etwas vorzumachen.

Kurzum: Der Dilettant glaubt zu sein, was er sein will. Denken sie an Flauberts Roman Bouvard und Pécuchet fast schon die klassische Geschichte der Dilettanten. Zwei abgedankte Schreiber wollen nach ihrer Pensionierung alles Mögliche sein: Landwirte, Ärzte, Naturforscher. Und was tun sie? Beginnen sie eine Ausbildung? Nein. Sie lesen etwas; und vor allem besorgen sie sich das nötige Equipment und die Kostüme, die zu den jeweiligen Berufen passen. Das heißt, der Dilettant betreibt die Sache nicht um der Sache willen, sondern wegen der Lust, die ihm die Sache verspricht. Er will sich inszenieren, will sich ergötzen, wie es das italienische Verb dilettare sagt, von dem der Begriff abgeleitet wurde.

Ein Beispiel aus der Gegenwart: Wir haben derzeit mit Guido Westerwelle einen Außenminister, der vor allen Außenminister werden wollte, weil er sich in der Rolle gefiel. Als er dann gewählt wurde und zum Außenminister ernannt war, wusste er nicht, wie er das Amt ausfüllen sollte. Und seither tingelt er nun als Operettendiplomat durch die Welt. Er hat sein Ziel erreicht, indem er den Außenminister darstellt. Das ist es, was den Dilettanten ausmacht: Auf der Bühne eine Rolle darstellen und sich mit etwas spreizen, was ihm bei anderen gefallen hat.

Deshalb sollte man den Dilettanten auch vom Laien unterscheiden. Während dieser sich als Autodidakt etwas aneignet, für das er entflammt ist, genügt dem Dilettanten die Vorspiegelung der Kompetenz. Geht es ihm doch zuerst um die persönliche Präsentation.

"Das große Welttheater der Selbstverwirklichung"

Mit welchen kulturellen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen hängt die flächendeckende Durchsetzung des Dilettantismus in den oberen Segmenten der Gesellschaft zusammen?

Thomas Rietzschel: Dilettanten hat es immer gegeben. Schon Goethe und Schiller haben ihnen heimgeleuchtet. Ein gewisser Bodensatz an Dilettanten gehört zu jeder Gesellschaft.

Allerdings gibt es immer wieder Zeiten, in denen der Dilettantismus epidemisch wird, dann nämlich, wenn die Menschen das Glück haben, in größerem Wohlstand zu leben. Denn der Dilettantismus kann nur dort grassieren und systemische Bedeutung erlangen, wo die Gesellschaft so reich ist, dass es Einzelne sich leisten können, nach ihren Vorstellungen und zu ihrem Vergnügen zu leben. Das, was wir heute als Dilettantismus erleben, entsteht am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Gesellschaft im Vergleich zu früheren Zeiten unendlich wohlhabend wird und deshalb immer mehr Menschen davon befreit sind, sich der täglichen Fron zu beugen.

Damals entstanden die ersten Aussteiger-Kolonien. Berühmt wurde der Monte Vérita, der Berg der Wahrheit in Ascona. Eine der Gründerinnen dieser Ansiedlung, die Klavierlehrerin Ida Hoffmann, schrieb seinerzeit ein kleines Manifest, in dem sie unter anderem erklärte: "Jeder Mensch ist ein Künstler", er muss nur sein "natürlichen künstlerischen Fähigkeiten" in sich entdecken. Mit anderen Worten, es bedurfte keiner besonderen Begabung oder Ausbildung mehr, jeder sollte fortan der Künstler sein können, der zu sein er sich einbilden mochte. Eine Kernbotschaft für das kommende Jahrhundert des Dilettantismus. Joseph Beuys wiederholte sie später als er erklärte: "Ich definiere mich selbst als Künstler."

Das setzte einerseits, keine Frage, sehr viel Kreativität frei, wovon die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts profitiert hat, andererseits war man damit auch jeglicher Vergleichbarkeit enthoben, die Banalität konnte sich bedeutungsvoll in Szene setzen, jeder sich selbst die Bedeutung geben, die ihm zukommen sollte. Eröffnet war das große Welttheater der Selbstverwirklichung. Unterdessen haben wir uns darin prächtig eingerichtet.

Jeder hat das Recht, sich selbst als das Maß aller Dinge zu begreifen. Wenn ich mich - in der Übertreibung liegt die Kraft der Darstellung - bei der Vorstellung, dass zwei mal zwei fünf ergibt, besser fühle als bei dem Ergebnis vier, dann ist vier eben fünf. Oder denken Sie, was mit der Sprache geschehen ist. Wir hatten schon Kultusminister, die die Rechtschreibung abschaffen wollten, weil sie darin eine Diskriminierung derer entdeckten, die sie nicht beherrschen.

Thomas Rietzschel. Copyright Foto: Zsolnay Verlag / Heribert Corn.

Warum hat der Dilettantismus überhaupt in solcher Weise systemische Relevanz erlangen können?

Thomas Rietzschel: Weil wir in einer leistungsmüden Gesellschaft leben, in der wir einesteils ein enormes individuelles Selbstbewusstsein entwickelt haben, andererseits es aber leid sind, uns vom Zweifel an den eigenen, den eingebildeten Fähigkeiten die Laune verderben zu lassen. In den Medien werden uns ständig Versager präsentiert, die trotzdem Fernsehstars werden.

Wir leben längst in einer Epoche des professionellen Dilettantismus. Die Vortäuschung der Kompetenz - vor sich und den anderen - ist zur eigentlichen Profession geworden. Zumal in der Politik kann man es damit weit bringen, bis zur Bundeskanzlerin, die uns einen unendlichen Blödsinn über die Wirtschaft erzählt, das aber mit einem Gestus der Macht und der Überzeugung, dem die Mehrheit nur allzu gern erliegt.

Oder nehmen wir die Finanzkrise. Die, die sie angerichtet haben, wollte vor allem eines sein, nämlich so wie Gordon Gekko in dem Hollywoodfilm Wallstreet. Mit ihrer eingebildeten Kompetenz haben sie einen Schaden angerichtet, der uns alle unterdessen Milliarden kostet. Reihenweise haben die Banker erfolgreich versagt, sind sie in der Sache erbärmlich gescheitert und persönlich mit Boni abgefunden worden. Großmeister des Dilettantismus.

Alle Welt wiegte sich in dem Glauben, Unternehmen wie die Münchner Hypo Real Estate oder die KfW würden von ausgewiesenen Experten geführt, bis wir plötzlich feststellen mussten, dass diese Elite von dem Metier, in dem sie sich gefiel, viel zu wenig, oft gar nichts verstand. Noch die Sparkassendirektoren aus der Provinz sind mit dem Geld, das die Gemeinde für das neue Schwimmbad oder die Oma für den Enkel zurückgelegt hat, losgezogen, um auf den Finanzplätzen dieser Welt den großen Max zu markieren. Von dem, was sie dabei angerichtet haben, konnten sie sich keinen Begriff machen. Der Mut der Dilettanten verdankt sich ihrer Ahnungslosigkeit.

"Keine abschließende Geschichte des Dilettantismus"

In Ihrem Buch wimmelt es gerade von Romantikern, Selbstverwirklichern, Ichlingen, Aussteigern und anderen Hippievorläufern des 19. und 20. Jahrhunderts. Warum haben Sie die postmodernen Philosophen, die Eventkunst und die suhrkampende Literaturzwergenriege von heutzutage nicht auch angemessen in ihrer Geisteskrankenkabinett mit aufgenommen?

Thomas Rietzschel: Ich denke schon, dass sie vorkommen. Sie sind beispielsweise in dem Kapitel zur Kunst durch Jeff Koons und Damien Hurst vertreten, von denen in zwanzig Jahren niemand mehr sprechen wird. Ich habe mich auch bemüht, Intellektuellen wie Claus Peymann oder Walter Jens mit ihrer ideologischen Verführbarkeit und Selbstüberhebung zu Wort kommen zu lassen, aber das Ganze ist eben ein Essay und keine wissenschaftliche Arbeit. Ich versuche, Linien aufzuzeigen, mehr nicht. Daraus mag sich erklären, dass es Phänomene gibt, die ich nicht beachtet habe.

Aber natürlich haben Sie recht: Der Dilettantismus offenbart sich nicht zuletzt in der Kunst. Nur musste ich mich entscheiden, mit welchen Bereichen ich mich ausgiebiger beschäftigen wollte, und da war es mir wichtiger zu ergründen, was in Politik, Bildung, Wirtschaft und in den Medien geschieht. Außerdem hat die Geschichte des Dilettantismus nicht den Vorzug guter Geschichten, nämlich vergangen zu sein. Wie sie ausgeht, kann ich nicht sagen, und schon allein deshalb konnte auch keine abschließende Geschichte des Dilettantismus entstehen.

Ausdruckstanz und NS-Ideologie

Sie erzählen in Ihrem Buch, dass Rudolf von Laban, der Erfinder des Ausdruckstanzes, später zum Lieblingschoreographen von Adolf Hitler avancierte. Ist es möglich, dass dies nicht nur kein Zufall ist, sondern die dieselbe Medaille mit ihren beiden Seiten?

Thomas Rietzschel: Eine kleine Einschränkung: Hitler hat ihn für die Inszenierung des Massenballetts zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 verpflichtet. Dass Laban sein Lieblingschoreograph gewesen sei, habe ich nicht geschrieben. Es stimmt auch nicht. Der Choreograph musste schließlich emigrieren.

Aber richtig ist sicher, dass die ästhetische und die politische Seite des Dilettantismus zwei Ausprägungen einer Medaille sind. Der Ausdruckstanz war zunächst ein Versuch, sich von den ästhetischen Normen zu befreien. Die Tänzer sollten ihr Wesen frei entäußern können. Einzelne haben es darin bald zu großer künstlerischer Meisterschaft gebracht, zu etwas, das wieder viele ansprach.

Zugleich wurde damit aber auch der Illusion Vorschub geleistet, man könne es aus sich heraus, gleichsam voraussetzungslos schaffen. Übertragen wir diese Erkenntnis in den politischen Bereich, ist der Weg nicht mehr weit zu Hitler und Stalin, die ja beide auf ihrer Art politische Dilettanten waren. Beiden haben sie krude Ideologien individuell, nicht kreativ ausgesponnen, um sich narzisstisch zu befriedigen, bedenkenlos.

"Merkel versucht das Parlament auszutricksen"

Seit Rot-Grün können wir beobachten, dass sich gemäß dem Helmut Schmidt-Bonmot: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen" in der Politik nicht nur der Dilettantismus, sondern auch der Pragmatismus flächendeckend durchgesetzt hat ...

Thomas Rietzschel: Nur weil es den Pragmatismus gibt, heißt das nicht, dass richtig ist, was in seinem Namen angestellt wird. Nur weil etwas von allen gemacht wird, muss es noch nicht wahr sein. Wenn wir annehmen würden, dass etwas richtig wäre, was sich pragmatisch durchgesetzt hat, dann würden wir von vornherein alle humanistischen Ansprüche aufgeben. Dazu bin ich nicht bereit. Ich glaube schon, dass sich im Laufe der Entwicklung, über die Jahrtausende hin, ein kulturelles und ethisches Wertebewusstsein herausgebildet hat, das wir, wenn wir als humanistisch orientierte Gesellschaft weiter existieren wollen, bewahren sollten. Wenigstens sollten wir es versuchen und die Orientierung nicht verlieren. Sonst zerfällt das Gemeinwesen in um sich schlagende Individuen. Die Brutalität, die wir heute schon auf vielen Schulhöfen erleben, wäre dann nur ein Vorspiel. Dem ist politisch Einhalt zu gebieten.

In der Politik aber scheint es derzeit, waren Brandt, Schmidt und Kohl die Letzten, hinter deren Handeln noch mehr als Machtstreben zu erkennen war. Sei es, dass der eine die Ostpolitik umbaute, der andere den Mut hatte, sich dem Terrorismus zu widersetzen, oder dass der Dritte, die deutsche Einheit wagte. Bei unserer derzeitigen Bundeskanzlerin kann ich hingegen nicht erkennen, dass wir es mit einer überzeugten Demokratin zu tun haben. Im Gegenteil versucht sie das Parlament auszutricksen, wo es ihre Kreise zu stören droht. Schon wiederholt musste sie vom Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen werden. Sie ist eine professionelle Dilettantin, die alles tut, um selbst an der Macht zu bleiben, wofür auch immer.

Es ehrt Sie als Konservativer natürlich, wenn Sie den Dilettantismus von Frau Merkel in den Vordergrund stellen, aber glauben Sie nicht, dass seinerzeit Rot-Grün während ihrer Regierungszeit in Sachen Dilettantismus einen echten Meilenstein hingelegt haben?

Thomas Rietzschel: Zweifelsohne. Mit Schröder beginnt das. Zuerst hat er in Bonn als einfacher Abgeordneter aus einer Weinlaune heraus an den Gitterstäben des Kanzleramts gerüttelt und gerufen: "Ich will hier rein!" Und als er drin war, hat er gesagt, er will Politik machen, um "Spaß" zu haben. Der Ausdruck sagt genug, die Sprache ist wie immer verräterisch.

Der neue Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, der monatelang die Auswirkungen der Finanzkrise auf die deutsche Wirtschaft leugnete, um dann binnen kürzester Zeit ohne die geringste Gegenleistung der Banken einen riesigen Rettungsschirm aufzuspannen, ist der Dilettant in Reinform. Dennoch bescheinigt ihm zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung, ein kompetenter Finanzpolitiker zu sein...

Thomas Rietzschel: Nun ja, Herr Steinbrück ist als professioneller Dilettant perfekt. Er beherrscht die Vorspiegelung von Kompetenz so vollendet, dass sogar die SZ darauf herein fällt. Aber er ist nicht nur derjenige, der die Banken mit unendlichen Mengen von Geld versorgt hat, er hat außerdem nach Kräften zur Deregulierung im Bankenbereich beigetragen, worauf der Schwindel mit den hochriskanten Finanzprodukten in Deutschland erst so richtig Fahrt aufnehmen konnte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass es sich die Betroffenen nachher einiges kosten ließen, wenn er ihnen als Vortragsredner die Köpfe wusch.

In Teil 2 des Interview äußert sich Thomas Rietzschel über die Verzwergung der Politik, Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, den Verlust der Bildung und den bundesdeutschen Medienbetrieb.

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