"Wir wollen experimentell ein neues Politikverständnis entwickeln"

Meinhart Ramaswamy, Spitzenkandidat der Piraten in Niedersachsen, über die Auswirkungen des Bundesparteitags, den Wahlkampf in Niedersachsen und die Schwierigkeit, eine politische Heimat zu finden

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Die Suche nach einem Spitzenkandidaten war kein leichtes Unterfangen für die niedersächsische Piratenpartei. Monatelang dauerte die Nominierung von Dr. Meinhart Ramaswamy, auf den sich eigentlich schon die meisten Mitglieder verständigt hatten.

Nun wartet auf den studierten Kultur- und Sozialwissenschaftler, der als Werbegrafiker und Dozent für Medienpraxis arbeitet, eine denkbar schwierige Aufgabe. Nach den Erfolgen in Berlin, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und im Saarland wollen auch Niedersachsens Piraten bei der Landtagswahl am 20. Januar 2013 ins Parlament einziehen.

Eine Grundsatzerklärung wurde bereits verabschiedet, das Programm steht ebenfalls. Doch die jüngsten Umfragen geben Anlass zum Nachdenken. Telepolis sprach mit Meinhart Ramaswamy über die Auswirkungen des Bundesparteitags in Bochum, den Wahlkampf in Niedersachsen und die Schwierigkeit, eine politische Heimat zu finden.

"Der Versuch, in der Demokratie nach neuen Wegen zu suchen, wird nicht unbedingt goutiert"

Das erste Halbjahr 2012 war zweifellos das erfolgreichste in der noch jungen Geschichte der Piraten. Doch nach bizarren Nazi-Vergleichen, eigenwilligen Twitter-Spielchen und personellen Querelen sind die Umfragewerte deutlich gefallen. Was ist da los?

Meinhart Ramaswamy: Diese Geschichten haben uns natürlich geschadet, wobei es ja nicht so ist, dass sie in anderen Parteien nicht auch vorkämen. Ich denke schon, dass die Piraten hier im Nachteil sind, weil sich die Medien ganz besonders dafür interessieren, was wir falsch machen. Die guten und konstruktiven Vorschläge, die aus unseren Reihen kommen, produzieren leider nicht annähernd so viele Schlagzeilen.

Das ändert allerdings nichts daran, dass wir weiter an unserer Kommunikationsstrategie arbeiten müssen. Es schadet sicher auch nicht, das eine oder andere Problem intern zu klären. Generell ausschließen lassen sich solche Ereignisse aber nicht, wenn in einer Partei ganz unterschiedliche Individuen zusammenarbeiten.

Also sind die Piraten doch nur eine Partei wie jede andere.

Meinhart Ramaswamy: Nein, denn die Piraten unterscheiden sich in anderen Bereichen ganz wesentlich von den traditionellen Modellen, Politik zu gestalten. Einige hätten es sicher gern, wenn wir eine "ganz normale" Partei wären. Weil die Entscheidungen bei uns so lange dauern, viele Menschen mitdiskutieren und es keine schnellen Antworten auf alle denkbaren Fragen gibt.

Aber uns geht es darum, experimentell ein neues Politikverständnis zu entwickeln, die Bürgerinnen und Bürger viel stärker als bisher an Entscheidungsprozessen zu beteiligen und so gemeinsam Lösungsansätze für die Herausforderungen des digitalen Zeitalters zu erarbeiten.

Das ist mühsam, dafür braucht man Geduld und das gefällt auch nicht jedem. Der Versuch, in der Demokratie nach neuen Wegen zu suchen, wird nicht unbedingt goutiert.

Im Parteienvergleich sind Sie Experte, schließlich waren Sie schon Mitglied der FDP, der Linken und haben außerdem für die Friedrich-Ebert-Stiftung gearbeitet. Die meisten Zeitgenossen wären nach dieser Tour endgültig der Politikmüdigkeit anheimgefallen, aber Sie wollen nicht aufgeben.

Meinhart Ramaswamy: Obwohl ich tatsächlich einige deprimierende Erfahrungen gesammelt habe. Allerdings nicht bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, denn damals ging es im Zuge der neuen Ostpolitik um eine rein sachorientierte Arbeit. Kein Mensch hat von mir verlangt, dass ich in die SPD eintrete oder sozialdemokratische Ideen vertrete.

Eine ähnliche Erfahrung mache ich jetzt bei den Piraten. Hier muss ich mich nicht verbiegen und kann stattdessen meine Ideen und Vorschläge einbringen. Ich muss dann natürlich für meine Positionen werben und schauen, ob ich eine Mehrheit finde. Dass sich allein in Niedersachsen 30 Mitglieder für das Amt des Spitzenkandidaten bewerben und 150 auf die Landesliste wollen, zeigt, dass wir anders vorgehen. Dann dauern Vorstellungsrunden und Wahlen etwas länger. Aber das ist der Preis für mehr Transparenz und Basisdemokratie.

Und was war nun mit FDP und Linkspartei?

Meinhart Ramaswamy: Es gibt da ein grundsätzliches Problem, das nicht nur diese beiden betrifft: Als politischer Mensch hat man in den arrivierten Parteien heute kaum eine Chance, wenn man nicht sehr ideologisch beziehungsweise linientreu argumentiert.

"Wir wollen neue Wege beschreiten, um die Bürger in die unmittelbare Politikgestaltung einzubeziehen"

Mit dem jüngsten Bundesparteitag der Piraten in Bochum waren viele Hoffnungen verbunden. Sind Ihre erfüllt worden?

Meinhart Ramaswamy: Ganz ehrlich? Ja, das sind sie. Es konnten zwar längst nicht alle Anträge bearbeitet werden und ich persönlich hätte mir gewünscht, es wären deutlich mehr gewesen. Aber wir haben wichtige Entscheidungen getroffen, etwa in der Wirtschafts- und Umweltpolitik.

Davon abgesehen halte ich es auch nicht für nötig, dass die Piraten zu jedem Politiksegment ein detailliertes Programm entwickeln. Wir müssen noch viel arbeiten und bestimmte Punkte präzisieren. Aber wir sind keine Volkspartei.

Trotzdem: Der Ruf nach mehr Inhalten begleitet die Piraten seit ihrer Gründung. In Niedersachsen haben Sie ein Wahlprogramm vorgelegt, das knapp 100 Seiten umfasst. In welchen Bereichen unterscheiden Sie sich von der Konkurrenz, wo haben die Piraten ein besseres Konzept?

Meinhart Ramaswamy: Drei Punkte halte ich für wesentlich. Da ist zunächst die Bildungspolitik, die viel öfter diskutiert als tatsächlich gestaltet wird. Die Piraten wollen ein klares Signal für Bildungschancen und Fairness im Bildungszugang setzen und plädieren für die Einsetzung der Gesamtschule als Regelschule. Die Vielfalt der anderen Schulformen soll erhalten bleiben, aber die Gesamtschule bietet aus unserer Sicht die größte Gewähr, allen Kindern und Jugendlichen gleiche Startvoraussetzungen zu geben.

Außerdem können wir uns vorstellen, langfristig das Abitur abzukoppeln und die Frage der Hochschulzugangsberechtigung in einem eigenen Jahr zwischen Schulzeit und Studium zu klären.

Auch in der Energiepolitik fahren die Piraten einen sehr eigenständigen Kurs, der auf Dezentralisierung und den Bau flächendeckender Bio-Energiedörfer zielt. Wir wollen, dass der Haushaltsstrom dezentral - mit erneuerbaren Energien und genossenschaftlich organisiert - erzeugt wird. Technisch ist das längst möglich, aber für die Großwirtschaft sind andere Konzepte rentabler.

Dritter Punkt: Wenn wir in den Landtag einziehen, wird die Fraktion der Piraten neue Wege beschreiten, um die Bürger in die unmittelbare Politikgestaltung einzubeziehen. Wir arbeiten an einem modifizierten "Liquid-Feedback-Modell", das während der laufenden Legislaturperiode die Möglichkeit bietet, Anträge zu stellen, zu diskutieren, zu kommentieren und abzustimmen.

Papier ist bekanntlich geduldig und das gilt, um in der Piraten-Sprache zu bleiben, im Prinzip auch für pdf-Dokumente und Wikis. Wie und mit wem wollen Sie Ihre Vorstellungen in die politische Praxis umsetzen? Rein programmatisch ergibt sich keine große Schnittmenge mit CDU und FDP.

Meinhart Ramaswamy: So sehe ich das auch, aber wir konzentrieren uns jetzt im Wahlkampf ohnehin nur auf unsere eigenen Themen. Grundsätzlich gibt es im Bereich der Bildungspolitik eine Schnittmenge mit der SPD, bei der Frage der Energieversorgung auch Übereinstimmungen mit den Grünen. Ich kann mir also gut vorstellen, dass die Piraten eine rot-grüne Landesregierung in vielen Punkten unterstützen. Allerdings herrscht bei uns bekanntlich kein Fraktionszwang …

Wann ist man dann überhaupt Pirat? In der Präambel des niedersächsischen Programms werden "grundlegende Prinzipien politischen Handelns" definiert. Da heißt es:

  • Piraten sind frei
  • Piraten handeln nur auf freiwilliger Basis
  • Piraten leben privat
  • Piraten fragen nach
  • Piraten sind erfinderisch
  • Piraten fördern freies Wissen, Bildung und Kultur
  • Piraten sagen, was sie denken
  • Piraten sind fair
  • Piraten achten das Leben
  • Piraten sind friedlich
  • Piraten zeigen Zivilcourage
  • Piraten sind tolerant und verabscheuen Diskriminierung
  • Piraten sind keine Räuber
  • Piraten denken, handeln und arbeiten global
  • Piraten zerschlagen gordische Knoten

Für die versammelte Schwarmintelligenz ist es möglicherweise kein Problem, all diese Vorgaben zu erfüllen. Aber als einzelner Durchschnittsbürger …

Meinhart Ramaswamy: … bin ich schon ein Stück weit Pirat, wenn ich frei denke und frei handele. Diese Maximen sollen eine Art Leitfaden sein, aber es wird selbstverständlich nicht erwartet, dass man sich zu jeder Zeit mit allen Punkten identifizieren kann. In der Gesamtheit bilden die Prinzipien aber ein Spektrum ab, in dem sich die Piraten, also die Parteimitglieder, und auch die sympathisierenden Freibeuter wiederfinden können.

"Vertrau keinem Plakat"

Im Aufgabenbereich "Wahlplakate aufhängen" waren Sie die Nr.1 in Niedersachen. Was ist das Ziel der Kampagne "Ideenkopierer"?

Meinhart Ramaswamy: Wir wollen einerseits deutlich machen, dass Ideen frei sind und aufgegriffen, verändert, weiterverarbeitet werden dürfen. Das ist ja auch ein philosophisches Grundprinzip. Aber es geht außerdem um einen ironischen Umgang mit der Werbeindustrie. Auf einem Plakat steht: "Vertrau keinem Plakat". Gemeint ist: Beschäftige dich lieber mit Inhalten, mit Programmen, mit den Menschen, die dahinter stehen.

Wahlplakate tragen aber in der Regel wenig zum Charme einer politischen Gruppierung bei. Die meisten Bürgerinnen und Bürger sind doch froh, wenn die Dinger wieder abgenommen werden.

Meinhart Ramaswamy: Ich glaube, das läuft hier anders. Wir haben in den Städten, in denen wir schon plakatieren durften und Infostände aufgebaut haben, sehr positive Resonanz bekommen. Ein Lächeln ist mindestens drin, und die Postkarten gehen weg wie warme Semmeln. Wir haben die Leute auch schon gebeten, die Plakate doch bitte nicht vor der Wahl zu klauen.

Kommen wir abschließend zur berühmten Signalwirkung. Vom Urnengang in Niedersachsen könnte eine solche für die Bundestagswahl 2013 ausgehen. Steht am 20. Januar schon die Zukunft der Piratenpartei auf dem Spiel?

Meinhart Ramaswamy: Nein, aber die Wahl in Niedersachsen bedeutet für die Piraten eine große Herausforderung und wir stehen auch unter besonderer Beobachtung. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir deutlich mehr als 5 Prozent bekommen. Die Umfragen werden langsam wieder freundlicher, und wenn die Wähler sehen, dass ihre Stimme bei uns nicht verloren ist, werden wir weiter zulegen.

Über eine mögliche Signalwirkung will ich nicht spekulieren. Die Bundestagswahl findet erst im September 2013, also neun Monate später, statt.

Ärgern Sie sich manchmal, dass in Niedersachsen nicht auch schon im Frühjahr 2012 gewählt wurde?

Meinhart Ramaswamy: Die Landesregierung hat den Wintertermin ja mit Bedacht gewählt. Für die kleineren Parteien ist er alles andere als günstig, und ab und an habe ich auch die Kollegen in Nordrhein-Westfalen beneidet. Der Wahlkampf dort war anstrengend, aber auch sehr kurz und extrem konzentriert. Doch nun müssen wir die Dinge so nehmen, wie sie sind. Das wird, wie schon gesagt, ein hartes Stück Arbeit. Ich denke aber, dass wir die Menschen in den kommenden Wochen davon überzeugen können, dass unsere Kandidaten, die sich um ein Landtagsmandat bewerben, ihre Aufgabe sehr ernst nehmen – und dass die Piraten eine echte Alternative darstellen.