"Man muss gegen diese Plage kämpfen, um unsere jungen Mädchen zu retten"

Auch in Tunesien gibt es jetzt Femen

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Es ist mental ein kleiner Schritt zur Seite, raus aus einer Matrix des Gehorsams. Im physischen Leben wird das schnell hinterdrein zum großen Schritt, auf den unweigerlich stärkste Reaktionen folgen, wie die Tante von Amina erklärt: "Unser Mädchen ist das Opfer einer Gehirnwäsche und einer mentalen Manipulation. Man muss gegen diese Plage kämpfen, um unsere jungen Mädchen zu retten."

Amina zeigte ihre nackten Brüste öffentlich. Das hätte ihre Tante wohl niemals gut gefunden; auch nicht, wenn sie zufälligerweise keine Muslima gewesen wäre, es gibt auch hinduistische, evangelikale, katholische, jüdische oder atheistische Tanten, die ihre Nichten ungern barbusig als Seite 3-Girl sehen, weshalb die Ausnahmen ja seit Jahrzehnten immer für ein Zitat unter dem Artikel zum Foto gut sind ("Nein wieso, ich bin stolz auf meine Nichte"). Was Aminas Tante von Gehirnwäsche sprechen lässt, ist das noch Teuflischere an der Sache: dass Amina ihre Brüste programmatisch entblößt. Die Nichte gehört zur Gruppe Femen Tunisia.

"Die Nacktheit", so Amina, "ist wirksamer als ein einfaches Gespräch". Mittlerweile hat eine weitere Tunesierin ein Foto mit nacktem Oberkörper auf der Femen Tunisia- Facebookseite gepostet. Die Aktion kursiert längst in den Medien, in Tunesien und in Algerien. Amina hatte einen Fernsehauftritt bei Ettounissia TV. Man kann, ohne groß zu übertreiben, mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass in ganz Nordafrika das Gespräch irgendwann auf Aminas und Meryems Fotoaktion kommt.

Die Strategie von Femen, mit minimalen Zeichen-/Informationsaufwand größtmögliche Provokationswirkung zu erzielen, trifft dort auf eine ihre völlig entgegengerichtete Bewegung mit enormen Potential und Wirkung: die Verbreitung des Wahabismus aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten in einem ungewöhnlichen Ausmaß, auf allen Ebenen, herumreisende radikale Prediger, neue Tugendgruppierungen, Einführung neuer Sitten, Verbote alter Bräuche usw. So brauchte die erste Reaktion, die Gewalt androhte, nicht lange.

Sie kam von Adel Almi, Präsident einer Tugendwächtergruppe mit salafistischem, wahbistischem Hintergrund (Association Centriste de Sensibilisation et de Réforme), der mit der Forderung wiedergegeben wurde, die Frau angesichts der Größe ihrer Sünde, die "Entheiligung der Frau", auszupeitschen; sie würde gar den Tod durch Steinigung verdienen, denn solche Aktionen müssten bestraft werden, "um mögliche Katastrophen zu vermeiden".

Desweiteren riet Adel Almi dazu, das Mädchen auf ihren Geisteszustand und eventuellen Drogenkonsum untersuchen zu lassen. In einer Fernsehsendung widersprach der Tugendwächter gestern, dass er die Steinigung gefordert habe, bestätigte aber nochmals die Notwendigkeit der von ihm geforderten Untersuchungen des Mädchens Amina. Das Gehirnwäscheargument der Tante also, vorgebracht von einem, der die Anschauung verficht, dass sämtlicher Naturkatastrophen wie auch Epidemien ursächlich auf die Sünden der Menschen zurückgehen. Deutlicher können sich Gehirnwäscher nicht zu erkennen geben.

Es ist offensichtlich, dass die Frauen, die für Femen agieren, eine Menge Mut aufbringen. Übrigens nicht nur in Regionen, wo der Antimodernismus wahabistischer Ausprägung sein doktrinäres Haupt zum Dienst an einer Angsteinjager- und Unterwerfungspolitik erhebt, sondern auch in Europa. Todesdrohungen sind die Regel, erfährt man bei einem Guardian-Porträt der Gruppe ukrainischen Ursprungs. In Weißrussland wurden Mitglieder der Gruppe entführt und mit Hinrichtung bedroht.