Indien: 68 Millionen leben in Slums

Sind Privatisierungswellen und die Politik der Großkonzerne verantwortlich?

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Trends, Interessen und Perspektiven: Stellte der UN Human Development Report vor gut einer Woche in Aussicht, dass der "globale Süden" aufholt und skizzierte mit großen Strichen das Zukunftsbild einer neuen globalen Mittelklasse, die in den Schwellen- und Entwicklungsländern in Asien und Lateinamerika entsteht, so fällt der Blick auf die gegenwärtige Verhältnisse einzelner Outreach-Staaten, die als Motoren dieser Entwicklung angeführt werden, ganz und gar nicht so rosig aus. Zum Beispiel Indien.

Die "konsumfreudige Mittelschicht" des Subkontinents beflügelt schon seit mehreren Jahren Wirtschaftsberater aus den Etagen, deren Blick stets auf neue Märkte gerichtet ist. Als eine Art Schlüsselzahl kursieren auffallend oft die 300 Millionen der indischen Mittelschicht, die für westliche Produzenten besonders interessant sind. So heißt es in einem Ivy League-Wirtschaftsberater-Artikel über die neue indische Mittelschicht:

Mit einem Jahressalär von über 3000 Euro verfügen ungefähr 300 Millionen Menschen in Indien über die Möglichkeit, als Käufer für langlebige Konsumgüter und Kraftfahrzeuge in Erscheinung zu treten.

Millionen Menschen wird das Land entzogen und an Privatfirmen übergeben

Den 300 Millionen stellt die indische Autorin Arundhati Roy in einer ihrer scharf geführten Bestandsaufnahmen des Landes (Capitalism: A Ghost Story, auf deutsch im vergangenen Jahr erschienen in den Blättern für deutsche und internationale Politik) 800 Millionen gegenüber, "die in die Armut getrieben und enteignet wurden", um für die neue, "aus den IWF-'Reformen' hervorgegangenen Mittelschicht" der 300 Millionen, die den Markt bilden, Platz zu machen.

Roy geht mit großer Verve an ihre Sache, knöpft sich die Privatisierungswellen und die Politik der Großkonzerne in Indien als Feinde der 800 Millionen Armen vor und lässt nichts Gutes daran - vermutlich auch das mit der ein oder anderen Übertreibung. Auch Roy zeichnet mit Sinn für die großen Linien und Überspitzungen:

In Indien wird Millionen Menschen das Land entzogen und an Privatfirmen übergeben - im "öffentlichen Interesse": für Sonderwirtschaftszonen, Infrastrukturvorhaben, Dämme, Fernstraßen, Auto-oder Chemiefabriken und Formel-1-Rennstrecken.

Mit dem darauf folgenden Satz - "Dass Privatbesitz heilig ist, gilt niemals für die Armen" - trifft sie allerdings ins Schwarze und die konkreten Beispiele, die sie in ihrem Artikel dazu anführt, belegen dies überzeugend und erschütternd. Sie beschreiben eine von Konzernen mit staatlicher Unterstützung betriebene Vertreibung der armen Landbewohner aus Gebieten mit wichtigen Ressourcen, bzw. als geplante Standorte für große Bauprojekte. Aus ihren Dörfern vertrieben bevölkern sie Slums-und Barackensiedlungen von Kleinstädten und Megacities.

Ein neuer Slum-Report der Regierung

Das Commitee of Slum Statistics/Census hat nun im Auftrag der Regierung in einem Bericht (PDF) aktuelle Zahlen über Slumbewohner in indischen Städten vorgelegt. Nach den Zahlen des Zensus von 2011, die die Grundlage des Berichts bilden, leben insgesamt etwa 68 Millionen Inder in Slums. Der zuständige Regierungsmann, der "Registrar General of India, Union Housing and Urban Poverty Alleviation Minister" Ajay Maken, sieht darin einen guten Trend. Waren es 2001 noch 23,5 Prozent der städtischen Haushalte, die in einem Slum lebten, so sind es jetzt nun mehr 17,4 Prozent", wie er der Zeitung Outlook India mitteilte.

Schaut man sich den Report an, so ist ein großer Teil der Frage der Berechnungsgrundlagen gewidmet, der Schweirigkeiten mit der Zählung und der Definition dessen, was ein Slum ist. Neueste Definitionsgrundlagen, wonach bereits ab einer Zusammenhäufung von 20 Haushalten, die in Behausungen mit hygienisch unakzeptablem Wasser, archaischem Abwassersystem, häufig ohne Toilette, auf kleinstem Raum leben, würden die Zahlen deutlich vergrößern, sagen Fachleute.

Nach den im Bericht veröffentlichten Zahlen wohnen in Mumbai die meisten Slumbewohner 20, 5 Millionen. Das entspricht 41 Prozent aller Bewohner. Den höchsten Anteil an Slumbewohnern hat Visakhapatnam mit 43 Prozent. In Neu Dehli sind es 15 Prozent, in Kalkutta 30 Prozent; in Bangalore, das als High-Tech-Zentrum gilt, sind es nur 9 Prozent. Zehn Städte, deren Bewohner auf etwa 5.000 geschätzt werden, die vor allem auf die Bundestaaten Jammu und Kaschmir, Uttar Pradesch, West Bengalen and Sikkim verteilt sind, bestehen ausschließlich aus Slums.

Weder die Regierungen noch die privaten Unternehmen engagieren sich für sozialen Wohnungsbau

Bemerkenswert sind zwei Beobachtungen, die aus dem Bericht hervorgehen. Zum einen, dass es anscheinend staatlicherseits keine nennenswerte Intiativen gibt, um so etwas wie einen sozialen Wohnungsbau zu fördern. Zum anderen, dass die Hoffnung auf private Initiativen vergebens scheint. Der Guardian zitiert dazu den Vertreter einer Bürgerrechtsgruppe, die sich für eine bessere Lebens-und Wohnverhältnisse in Mumbai einsetzt:

Anders als in der Vergangenheit engagieren sich die Regierungen in den Bundesstaaten nicht mehr darin, für Wohnraum zu sorgen, den sich Arme leisten können. Nach 1991, mit der wirtschaftlichen Liberalisierung, wurde diese Aufgabe den Privaten überlassen. Aber das Geschäft, Wohnräume für Arme zu schaffen, verspricht keine Profite, also wird es im privaten Sektor als keine versprechende Investition gesehen.

Billige, flexible Arbeitskräfte

Die zweite Beobachtung ergänzt das Bild, das zu dieser Äußerung passt: Es gibt Abwanderungsbewegungen in den Slums, sie folgen der Industrie bzw. den Arbeitsmöglichkeiten, so ist die Zahl der Slumbewohner Mumbai etwas zurückgegangen, seit Industrie abgewandert ist. Dafür ziehen dann kleinere Städte Arbeiter im "informellen Sektor" an.

Aus dieser Perspektive ist es interessant zu sehen, wie die technische Ausstattung der Haushalte in den Slums laut Bericht aussieht: 63,5 Prozent haben ein Mobiltelefon, 72,7 Prozent Festnetz; 70 Prozent ein Fernsehgerät und 10 Prozent einen Computer oder einen Laptop - alles Beigaben bzw. Ausrüstung für eine Niedriglohnworkforce, die man bei Bedarf informell schnell einstellen kann - und auch wieder ausstellen. Die Fernsehsender sind eng mit großen Industriekonzernen verknüpft, so Roy.

"Gush up" nennt sie die große Geldfontäne, die für die Reichsten im Land sprudelt wie nie zuvor. Deren Evangelium laute: "Je mehr du besitzt, desto mehr kannst du kriegen."