"Alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten"

Ausstellung "Maschinen der Phantasie". Bild: Hektor Haarkötter

Zur Geschichte einer ausgestorbenen Medientechnik

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In die Reihe der sterbenden, wenn nicht der schon gestorbenen Medien darf man den Zettelkasten mit Fug‘ und Recht einreihen. Dabei stellt die Verzettelungstechnik die vermutlich mächtigste Verwaltungstechnologie des 19. und 20. Jahrhunderts dar, die das Bürowesen ebenso revolutioniert hat wie die Bibliotheksverwaltung und als Mindmapping- und Kreativitätswerkzeug an der Wiege einiger der bedeutendsten literarischen und wissenschaftlichen Werke stand. Den Zettelkasten zeichnet aus, dass er als universelles Verweissystem erstmals in der Kulturgeschichte die Technik des Verlinkens etabliert hat. Er diente damit als erste relationale Suchmaschine, die Antwort auf eine der uralten Menschheitsfragen gab: "Wo stand das noch mal?" Der Zettelkasten ist darum viel mehr als nur ein technisches Medium, er stellt ein geistiges Ordnungsprinzip dar. Aber nicht nur das: Durch Umadressierung lassen sich aus Zetteln auch ständig neue Texte erzeugen. Einer der berühmtesten Schriftsteller, der seine Romane aus Zettelkästen generiert hat, ist Jean Paul (1763-1825). Anlässlich seines 250. Geburtstags hat das Deutsche Literaturarchiv Marbach eine bemerkenswerte Ausstellung über Zettelkästen als "Maschinen der Phantasie" eröffnet.

Jean Pauls kleiner Roman Leben des Quintus Fixlein trägt die Zettelsammlungen schon im Untertitel: "Aus funfzehn Zettelkästen gezogen". Jean Paul war nämlich nicht nur Bücherschreiber, sondern vor allem auch Bücherleser. Die Früchte seiner extensiven Lektüren sammelte er in ellenlangen Auszügen, den sogenannten Exzerpten.

Jean Paul hat eine schier beängstigende Fülle an solchen Exzerpten und Zetteln hinterlassen: In den Nachlasskisten der Staatsbibliothek zu Berlin finden sich 12.000 Zettel samt Register, ungefähr ein Drittel des gesamten Dichternachlasses. Hätte man die jemals editieren wollen, wären im Layout der bisher erschienen Nachlassbände bei Verzicht auf jegliche Kommentierung etwa acht bis zehn jeweils tausendseitige Bände herausgekommen.

Der fränkische Romancier war aber doch nur der Zauberlehrling der Verzettelungstechnologie, als deren Meister sich sein Zeitgenosse Johann Jacob Moser (1701-1785) erwies. Die Verzettelungstechnik des schwäbischen Juristen und Schriftstellers ist ein nachdrücklicher Beleg dafür, wie man allein durch Umadressierung aus den Exzerpten alter Bücher neue machen kann. Seine auf über 500 Titel veranschlagte Publikationsliste hätte Moser nach eigenem Bekunden ohne das von ihm geschaffene Hilfsmittel nicht bewerkstelligen können. Moser war auch einer der ersten Theoretiker des Zettelkastens. Unter der Überschrift "Meine Art, Materialien zu künfftigen Schrifften zu sammlen" hat er selbst die Algorithmen beschrieben, mit deren Hilfe er seine "Zettelkästgen" füllte.

Die Notwendigkeit, ein technisches Mittel zur Wissensverwaltung zu ersinnen, entstand, als das Angebot des verfügbaren Wissens die Summe der zur Wissensaneignung verfügbaren Zeit überstieg. Nach Erfindung des Buchdrucks in der Renaissance schwoll die verfügbare Informationsmenge so stark an, dass es praktisch keinem Menschen mehr möglich war, alles verfügbare Wissen zu rezipieren.

Der vermutlich letzte Mensch, dem dies noch gelang, war der Schweizer Humanist Conrad Gesner. Gesners Bibliotheca Universalis, die zwischen 1545 und 1548 in zwei Foliobänden mit jeweils über 1000 Seiten erschien, sollte alle Bücher verzeichnen, die seit Gutenberg erschienen waren. Gesner entwickelte auch die erste systematische Methodik des Exzerpierens, womit er nichts Geringeres leistete, als die Wissensproduktion in einen Festspeicher (Read-only-memory = ROM) und einen flüchtigen Speicher (Random-access-memory = RAM) aufzuteilen.

Erste Begegnung von Computercode und Zettelkasten

Der Festspeicher, also die Universalbibliothek, war im frühneuzeitlichen information overload aufgrund seiner Unüberschaubarkeit kein probates Arbeitsmittel mehr. Der Gelehrte griff bei der Wissensproduktion nur noch auf den flüchtigen Speicher der Exzerptsammlungen zurück, die die loci communes enthielten: die "Gemeinplätze", die wir auch heute sprichwörtlich noch so nennen. Gesner nannte diese Sammlungen "chartaceos libros", also Karteibücher. Er erfand ein eigenes Verfahren, mit dem die einzelnen Notate jederzeit derangierbar und damit auch neu arrangierbar waren, um der Informationsflut Rechnung zu tragen und ständig neue Einträge hinzugefügen zu können. "Du weißt, wie leicht es ist, Fakten zu sammeln, und wie schwer, sie zu ordnen", schrieb der Basler Gelehrte Caspar Wolf, der Herausgeber der Werke Gesners.

Karteikarten von Philosoph Hans Blumenberg. Bild: Hektor Haarkötter

Exzerpieranleitungen wurden im Barock und der beginnenden Aufklärungszeit zu den wichtigsten Ratgebern in Sachen Wissensorganisation, da doch "keiner der Zeit hat/alle und jede Bücher zu durchlesen/welche sonderlich keine Schulbücher sind/und nur zu dem nachschlagen dienen", wie der fränkische Barockdichter Georg Philipp Harsdörffer feststellte. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der nicht nur angesehener Mathematiker und Philosoph war, sondern auch Bibliothekar der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, soll sich eigens einen Karteischrank als Büchermöbel nach eigenen Vorstellungen haben bauen lassen. Da Leibniz zugleich der Erfinder des binären Zahlensystems ist, das jeden Wert ausschließlich aus Einsen und Nullen darstellt, könnte man sagen, dass sich in seiner Studierstube zum ersten Mal Computercode und Zettelkasten begegnet sind.

Von der Bücherordnung zur Buchführung

Von der Lesetechnik zur Verwaltungstechnik wurde der Zettelkasten im Jahr 1773. Ursache war ein Papierstau. Nach der Auflösung der österreichischen jesuitischen Klosterbibliotheken durch Kaiser Joseph II. ergießt sich eine unbeschreibliche Bücherflut über die Wiener Hofbibliothek und stellt Hofbibliothekar Gottfried Freiherr van Swieten vor das verwaltungstechnische Problem, wie Tausende von Bänden in eine Büchersammlung zu integrieren seien, die ohnehin schon seit Jahrzehnten keinen aktualisierten Katalog mehr besitzt. Letzterer Umstand war auch der kuriosen Tatsache zu verdanken, dass man das Anfertigen von Bücherverzeichnissen für eine Privatangelegenheit der Bibliothekare erachtete, die nicht zu den offiziellen Dienstobliegenheiten zählte. Van Swieten stellt in seiner Not sieben Bibliothekshelfer ein und legt ihnen, erstmalig in der Bibliotheksgeschichte, eine schriftliche Anweisung vor, wie zu bibliographieren sei: Unterricht und Anweisung für diejenigen, so die Titel und Bücher abschreiben sollen.

Der Josephinische Katalog enthielt am Ende inklusive eines ausgefeilten Verweissystems ca. 300.000 Zettel. Dass er aber als erster Zettelkatalog Bibliotheksgeschichte schrieb, lag eher an einem Fehler im Programm. Eigentlich hätten nämlich nach van Swietens Vorstellungen am Ende des Vorgangs alle bibliographischen Angaben von den Zetteln in einen Bandkatalog übertragen werden sollen. Der Grund für diesen Programmierfehler bestand in ökonomischem Kalkül: Der geplante Katalog hätte gut und gerne 50 bis 60 Folio-Bände umfasst und wäre doch kurz nach Fertigstellung schon wieder veraltet gewesen. Darum wurden die Wiener Zettelkästen zur ersten relationalen Suchmaschine mit Erweiterungsfunktion.

Von der Bücherordnung zur Buchführung war es nur noch ein kleiner Schritt, den der US-amerikanische Bibliothekar und Unternehmer Melville Dewey (1851-1931) gegangen ist. Dewey führte als Chefbibliothekar der Columbia University und der New York State Library das nach ihm benannte Dezimalsystem ein (Dewey Decimal Classification), das bis heute weltweit von vielen Bibliotheken genutzt wird. Daneben gründete er eine Firma namens Library Bureau, die sich auf Bibliotheksmobiliar spezialisierte.

Ausstellung "Maschinen der Phantasie".Bild: Hektor Haarkötter

Mit der Normierung von Karteikarten für die Karteikästen eigener Fabrikation machte Dewey sich um die Weiterentwicklung der Verzettelungstechniken verdient, ohne etwas damit zu verdienen. Um den ökonomischen Ruin zu verhindern, stellte das Library Bureau im Jahr 1888 die eigene Buchführung vom traditionellen Verbuchungssystem auf das schnellere und kostengünstigere System des "card index" um. Der "Technologietransfer zwischen Bibliothek und Büro" (Krajewski), nämlich die Buchführung in Zettelkästen, wird ein Erfolgsschlager: Banken und Versicherungen, Stahl- und Eisenbahnunternehmen übernehmen das Karteisystem und damit auch die Karteikästen von Deweys Firma. 1896 schließen das Library Bureau und Hermann Holleriths Tabulating Machine Company, die spätere Firma IBM, einen Kooperationsvertrag: Die Zettel bekommen Löcher und werden zu Lochkarten, die maschinelle Informationsverarbeitung kann beginnen.

Bis zur Digitalisierung des Büroalltags waren im 20. Jahrhundert die Zettelkästen die dominierende Verwaltungstechnologie. Seine Bedeutung auch für die geistige Produktion ist, auch in der Abgrenzung zum "alten Medium" Buch, durchaus mit der des Computers in den vergangenen Jahrzehnten vergleichbar. Dafür spricht das Credo des Literaten Walter Benjamin:

Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kartotheksystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers, der's verfaßte, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Kartothek.

Systematisiert hat den produktiven Einfluss des Zettelkastens auf die geistige Arbeit der Schöpfer der Systemtheorie, Niklas Luhmann. Selbst Besitzer des vielleicht wissenschaftlich bedeutendsten Zettelkastens im 20. Jahrhundert, hat Luhmann mit seinem kleinen Erfahrungsbericht Kommunikation mit Zettelkästen Erhebliches zur Theorie der Verzettelung beigetragen. Luhmann begreift nämlich seine Zettelsammlung als vollwertigen und kreativen Kommunikationspartner, und das aus einem einfachen Grund:

Ohne zu schreiben, kann man nicht denken; jedenfalls nicht in anspruchsvoller, anschlussfähiger Weise.

Aus Holzkisten sind Schaltkreise geworden

Aus Büros, Buchhaltungen und sogar aus den Bibliotheken sind die papiernen Zettelsammlungen mittlerweile vollständig verschwunden - eine der großen Medienvernichtungen der Menschheit. Aus den analogen Algorithmen, wie sie Conrad Gesner & Co. entwickelt haben, sind digitale geworden. Die elektronische Zettelsammlung hat das random access memory elektrifiziert.

Die Buchführung bestimmen heute Excel und SAP. Für den Computer-User gibt es eine schon durch ihre Vielzahl verwirrende Menge an Softwaretools zum Notieren und Verzetteln, von simplen Notizzettelprogrammen über graphisch aufwändige mind mapping-Software bis hin zu komplexen Datenbanklösungen. In öffentlichen Bibliotheken hat der Online Public Access Catalogue (OPAC) den analogen Zettelkasten ausgerottet.

Der heutige Zettelkasten ist digital, aus Holzkisten sind Schaltkreise geworden. Dabei stellt uns die unbestimmte Alterungsbeständigkeit der neuen, digitalen Medien vor ganz neue Archivierungsprobleme.Während wir bei Stein, Holz, Pergament oder Papier recht gut unterrichtet sind, wie lange sie die Zeitläufte überdauern, sind wir uns bei CD-Roms, USB-Sticks und Festplatten noch nicht völlig im klaren, wie lange sie Informationen bewahren. Vielleicht werden die Speichermedien von heute zu den Vergessensmedien von morgen.

Und die nächste Herausforderung steht schon vor der Tür oder vor den USB-Slots. Die Unüberschaubarkeit digitaler Medienangebote, die Größe heimischer Festplatten und die schier endlosen Speichermöglichkeiten des cloud computing erzwingen völlig neue Antworten auf die uralte Frage, auf die vormals die Zettelkästen antworten wollten: Wo stand das noch mal? Erst recht gilt dies für die sogenannte Rechnerallgegenwart, das ubiquitous computing. Wenn Alltagsgegenstände wie Kühlschränke und Möbel, Kleidungsstücke und Supermarktwaren selbst zu Informationsträgern und Speichermedien werden, ist fraglich, ob Ordnungssysteme der verzettelnden Art überhaupt noch Antworten auf die uralte Frage finden.

Das fragile Gleichgewicht aus Ordnung und Unordnung hat sich im Medienzeitalter womöglich vollends zur Unübersichtlichkeit verschoben, und wir werden uns vielleicht bald nach den Zeiten des guten alten Zettelkastens zurücksehnen, als wir uns noch ordentlich verzetteln durften.

Die Ausstellung "Zettelkästen. Maschinen der Phantasie" ist noch bis 15. September 2013 im Literaturmuseum der Moderne am Deutschen Literaturarchiv Marbach zu sehen.