Die Lady, durchs Fernglas gesehen

Margaret Thatcher: Was hat sie erreicht mit all ihrer Durchsetzungskraft?

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Die Wendung "The lady's not for turning", ironisch anspielend auf ein Theaterstück der Zeit und von einem Redenschreiber Margaret Thatcher kongenial untergelegt, ist in Großbritannien ikonisch geworden. Den Starrsinn zur Tugend machen musste eine Frau, die zu ihrer Zeit im old boys' club der Torys aufsteigen wollte. Etwas anderes als unbedingte Sicherheit und mit dem Kopf-durch-die Wand-Mentalität durfte man in solch feindlicher Umgebung nicht ausstrahlen. Warum vielen ihre Politik noch immer als die Rettung des Vereinigten Königreich vor dem Niedergang und als Vorbild für Nachfolger in ihrem und anderen Ländern gilt, ist allerdings rätselhaft.

Denn was hat sie erreicht mit all ihrer Durchsetzungskraft? Zumindest von weitem betrachtet spricht wenig dafür, dass Thatcher eine Trendwende zum Besseren bewirkte.

Von einer dramatischen Lage kann bei Thatchers Amtsantritt nicht die Rede sein

Thatcher kam an die Macht in einer Zeit, die von allen Seiten des politischen Spektrums als krisenhaft empfunden wurde. Vom Ende des Krieges bis 1972 war die Wirtschaft gewachsen und die Arbeitslosigkeit niedrig gewesen. Gesunken waren dank Wirtschaftswachstums die Schulden im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt. Nun kehrte sich der Trend um, wie auch in der damaligen Bundesrepublik.

Margaret Thatcher. Bild: Chris Collins/Margaret Thatcher Foundation. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Unmittelbarer Anlass für die Mittsiebziger-Rezession war die Ölkrise 1973. Weitere Faktoren mögen eine Marktsättigung nach der Aufbauphase oder die Verschuldung der USA im Verlauf des Vietnamkriegs und die damit verbundene Auflösung des Bretton-Woods-Währungssystems sein. Jedenfalls stieg, ausgehend von sehr niedrigem Niveau, die Arbeitslosigkeit nach 1973 erstmals wieder auf Werte über 6 Prozent (1977-78). Von einer dramatischen Lage kann bei Thatchers Amtsantritt 1979 allerdings nicht die Rede sein.

Die Arbeitslosigkeit hatte den Höchststand bereits überschritten, und der Schuldenstand war nicht der Rede wert. Ja, selten seit 1712 hatte das Vereinigte Königreich ein so günstiges Schulden-BIP-Verhältnis wie zu dem Zeitpunkt, als Thatcher Premier wurde. Vor allem im Vergleich mit der Situation nach Kriegsende.

Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg hatten die Schulden etwa 150 % des BIP betragen. Zudem waren Nahrungsmittel knapp. Die Reaktion der Politik war das Gegenteil heutigen EU-Krisenmanagements. Dank der Gnade der frühen Geburt, unbeirrt von Friedmanscher Ideologie, weitete die Attlee-Regierung massiv die Sozialleistungen und den sozialen Wohnungsbau aus, führte eine kostenlose staatliche Gesundheitsversorgung ein, verstaatlichte Betriebe und Grundbesitz und hielt die Einkommenssteuerspitzensätze im 90%-Bereich.

Um 1950 betrugen die Schulden dann sogar über 200 % des BIP. Trotz der aus Sicht des heutigen wirtschaftspolitischen Zeitgeists hochgradig schädlichen Politik entwickelte sich die britische Nachkriegswirtschaft, ebenso wie bald auch die Staatsfinanzen, dennoch befriedigend. Bis zu dem Schwächeln seit 1973, das sich in einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und in einer beunruhigend hohen Inflation von über 20 % (1975) zeigte. Die Inflation wollte die damalige Labour-Regierung mit Lohnsteigerungen unterhalb der Inflationsrate im großen öffentlichen Sektor bekämpfen. Im kalten Winter 1978/79 führte das zu Streiks.

Eradikationstherapie des britischen "Sozialismus"

Diese aber waren bei dem Regierungswechsel 1979 beendet, die Inflation wieder auf akzeptable Werte gesunken. Es gab keine akute Notlage, in die Thatcher hätte eingreifen müssen. Doch sie lastete die Schwäche der Siebziger dem von starken Gewerkschaften dominierten, betriebswirtschaftlich oft ineffizienten staatsnahen Wirtschaftssystem an und begann eine Eradikationstherapie des britischen "Sozialismus".

Taktisch brillant schwächte sie Gegner im großen Bergarbeiterstreik, in dessen Erwartung sie die Kraftwerke heimlich Kohlevorräte zu bunkern anwies, um den Streik über Monate, ja fast ein Jahr ins Leere laufen zu lassen und so Moral und Autorität der Gewerkschaften dauerhaft zu untergraben. Dabei schreckte sie nicht vor Grausamkeiten wie Streichen der Sozialhilfe für die Angehörigen der Streikenden zurück.

Ihre damals radikal wirkenden Hauptmaßnahmen, durchgesetzt gegen erheblichen Widerstand in der eigenen Partei, waren: Privatisierung von zahlreichen großen und kleinen Staatsunternehmen, Deregulierung der Finanzmärkte, Senkung der sehr hohen Einkommenssteuerspitzensätze bei Erhöhung von Konsumsteuern (die niedrige Einkommen disproportional treffen), eine Politik des knappen Geldes zwecks Inflationsbekämpfung, Schließung der Kohleminen, die über Weltmarktpreis produzierten (das waren die meisten), Kürzung staatlicher Ausgaben in Sozial- und Bildungswesen, Verkauf von staatlichen Sozialwohnungen zu Niedrigpreisen an die Bewohner.

Die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979 zu Besuch beim damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter im Weißen Haus. Bild: Weißes Haus

Im unmittelbaren Gefolge von Thatchers frühen Maßnahmen gab es eine neuerliche Rezession und einen steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf einen seit den Dreißigern nicht mehr gesehene Prozentsatz von 13% (1982). Der Wechselkurs des Pfunds erholte sich (und beschädigte den Export). Doch die innere Inflation, die Thatcher hatte stoppen wollte, stieg zunächst wieder, von ca. 10% bei ihrem Amtsantritt auf einen kurzen Höchststand von knapp 22% ein Jahr später.

Mit anderen Worten, ihre Friedmanesquen Maßnahmen funktionierten zumindest kurzfristig nicht besser als die Keynesianischen, die nach der ersten Ölkrise Helmut Schmidt versucht hatte. Die Wiederwahl gelang wohl nur durch dank Falklandkrieg, in den sie sich mit der gleichen Überzeugung stürzte wie in alle anderen ihrer Projekte. Als sich Mitte der 1980er die Wirtschaftslage wieder erholte, der seit etwa 1950 voranschreitende "Schuldenabbau" im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt sogar kurz beschleunigt werden konnte und die hohe Arbeitslosigkeit wie zuvor schon die Inflation zurückging, schrieb Thatcher dies alles ihrer Politik zu, was insofern verwundert, als auch die BRD, bei völlig anderer politischer Lage, 1981-82 eine Rezession und danach eine Erholung erlebte.

Die nächste Rezession für das Vereinigte Königreich kam schon 1991-92, kurz nachdem Thatcher das nach ihren Vorstellungen umgebaute Staatsschiff verlassen hatte. Auslöser können Finanzprobleme in den USA und Ölpreisanstieg durch den Golfkrieg gewesen sein. Diese neuerliche Rezession war in Großbritannien nun verbunden mit der ersten echten Kehrtwende, was den Schuldenstand gegenüber dem BIP betrifft: Erstmals seit 1950 stieg er wieder.

Die Finanzindustrie und das neue Wachstum

Unterdessen wuchs auch die deregulierte Finanzindustrie, die dank der massiven Steuersenkungen für Höchsteinkommen, Körperschaften und Kapitalgewinne mehr Geld zum Spielen und mehr Anreiz und Möglichkeiten dazu hatte.

Auch deutsche Banken schafften Geld in Londoner Investment-Dependancen, um am großen Rad mitzudrehen. Die nächsten Phasen guten Wachstums in den neunzigern und mittleren Zweitausendern in GB und den USA waren durch private Schuldenaufnahme und Investmentblasen befördert, denen die nun extrem lockere Geldpolitik und weitere Deregulation Feuer gaben. Mit anderen Worten, das Wachstum dieser Zeit war hauptsächlich auf Sand gebaut, nicht auf einer gesunden, weil von staatlichen und gewerkschaftlichen Eingriffen befreiten Realwirtschaft, die sich Thatcher vielleicht einmal erhofft hatte.

Seit der Finanzkrise von 2007/8, der man durch staatliches Auffangen sämtlicher wackelnder Banken und Guthaben, auch der britisch-isländischen, begegnete, hat Großbritannien große Mühe, aus dem Dauer-Wachstumstief herauszukommen. Die Schulden steigen steil, wiewohl sie noch weit von den Werten der Nachkriegszeit entfernt sind. Die Einkommenssteuerhöchstsätze sind heute ebenfalls nicht annähernd so hoch wie in den fünfziger bis siebziger Jahren, bei etwa gleich gebliebener Staatsquote, die heute nur stärker von den kleineren Einkommen bedient wird, was höchstwahrscheinlich den privaten Konsum schwächt.

Als positiv kann man die derzeit und schon lange niedrige Preisinflation sehen, trotz einer liquiditätsfördernden Politik der Notenbank, die das Gegenteil von dem ist, was Thatcher 1979 gegen die Inflation einsetzte. Die Arbeitslosigkeit ist heute jedoch höher als nach der Ölkrise in den siebziger Jahren, wobei wegen der heute geschönten Zählweise einerseits und der erhöhten Partizipation von Frauen andererseits die Zahlen schwer vergleichbar sind.

Auf grundlegende Fragen keine Antwort gesucht oder gefunden

Was ist also langfristig von Margaret Thatchers Politik geblieben? Sie hat das Gemeinschaftseigentum zugunsten des Privateigentums verringert und dafür oft staatliche Monopole durch private ersetzt; ihre Nachfolger aller Parteien haben dies fortgeführt und das Instrumentarium dafür noch um die "Private Finance Initiative" (bei uns "Public Private Partnership") erweitert. Sie hat die Steuerlast zugunsten Wohlhabender umverteilt, die Rolle der Gewerkschaften auf Dauer zurückgedrängt, die zuvor schon einsetzende Deindustrialisierung rapide beschleunigt und der Finanzindustrie mehr Freiheit und eine größere Rolle gegeben.

Sie hat das Vereinigte Königreich aber nicht krisensicher gemacht, nicht vor Rezessionen, Wachstumsschwäche und neuerlichem Schuldenwachstum oder hohen Haushaltsdefiziten bewahrt. Auf die grundlegende Fragen, ob in gesättigten Märkten entwickelter Länder noch reales Wachstum zu erwarten, ja zu wünschen ist und wie man dann Arbeit und Wohlstand am besten verteilt, hat sie keine Antwort gesucht oder gefunden (ebenso wenig wie ihre lange der Zauberkraft der "New Economy" vertrauenden Nachfolger).

Die Grundfrage der künftigen Energieversorgung hat sie nicht angepackt, hat ihre Bedeutung wohl auch noch nicht sehen können. Da Thatchers Politik zwar mutig, aber unterm Strich weder langfristig noch kurzfristig besonders erfolgreich war, liefert sie nicht einmal Antworten auf die Fragen der Vergangenheit, geschweige denn auf die heutigen.

Ihre erklärten Fans in beiden großen Parteien, die schon seit Jahren Eulogien auf sie halten, sind jedenfalls subventionshungrigen Bänkern ganz anders entgegengetreten, als es die eiserne Lady einst mit den Bergarbeitern tat. Auf die Idee, aus der jetzigen Not eine Tugend zu machen und die historisch niedrigen Zinsen für massive staatliche Investitionen in neues Gemeinschaftseigentum an Energieproduktionsanlagen zu nutzen, kommt anscheinend niemand, ebenso wenig wie bei uns, wo die Kosten des schlecht geplanten Umbaus in Form von degressiven Konsumsteuern an den Kunden abgewälzt und die Profite von Privatleuten eingefahren werden.

Eines hat Thatcher geleistet: Den britischen Nachkriegskonsens einer interdependenten, solidarischen Gesellschaft, die jedem eine würdevolle, wenn auch vielleicht bescheidene Existenz sichert, hat sie qua Autorität ihrer Person in Gemeinschaft mit der allgemeinen Zeitgeistwende und den Boulevardmedien ausgehöhlt.