"Wir sind Anarcho-Surrealisten"

Kein Witz: In Reykjavik stellt eine Spaßpartei den Bürgermeister. Der Demokratie scheint das gut zu tun. Zumindest schadet es ihr nicht.

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Wo andere Staaten erst anfangen, hat Island mal wieder längst ernst gemacht. Jon Gnarr, charismatischer Gründer der "Besten Partei", ist seit mehr als 1000 Tagen Bürgermeister von Reykjavik. Der Komiker ist angetreten, um die Lügen der Politiker zu entlarven - und gibt als Bürgermeister keine schlechte Figur ab. Er hofft, dass sein Beispiel für einen neuen, ehrlicheren Politik-Stil Schule macht.

Logo von Besti flokkurinn, der "Besten Partei"

Nein, langweilig wird es mit so einem Bürgermeister nicht. Jon Gnarr postet alle paar Tage witzige Bilder und sorgt für Schlagzeilen: "Bürgermeister springt im Anzug in Pool", "Bürgermeister verkleidet sich als Drag-Queen", "Bürgermeister will fetteste Katze des Landes zur Weihnachtskatze küren" ... So einen Mann haben die Reykjaviker also gewählt. Einen Mann, der findet, dass Politik überschätzt wird, und sich selbst einen Anarchisten nennt. Und sie würden es wohl wieder tun.

1. "Ich werde mich bemühen, ein möglichst hohes Gehalt zu kriegen und so wenig wie möglich zu tun."

Ende 2009 zog der Humor in Islands Politik ein. Jon Gnarr, ein Komiker, der nette Witze über Ikea oder Hitler reißt, gründete mit anderen Künstlern eine Spaßpartei, nannte sie "Besti Flokkurinn" ("Beste Partei"), und trat, nur aus Jux, zur Rathauswahl in Reykjavik an.

Eigentlich wollte er sich über die Politik lustig machen. Ein Spot zeigt, mit welchen Argumenten Gnarr Wahlwerbung betrieb:

"Es macht mir viel Spaß, Arbeitsplätze zu besuchen und all diese Dinge zu erleben, die die Proletarier den ganzen Tag machen, und ich werde mich bemühen, ein möglichst hohes Gehalt dafür zu bekommen, so wenig wie möglich zu tun … Die Beste Partei ist eine transparente und demokratische Partei, deren Wegleuchte das Wohlergehen der menschlichen Wesen ist … die Schwimmbäder werden umsonst sein, ebenso die Handtücher, Busse werden für Studenten umsonst sein, nein, für jeden ..."

(zu sehen in Wir sind Demokratie - Podiumsdiskussion in Stuttgart. Eigene Übersetzung aus dem Englischen)

Weiter versprach Gnarr einen Eisbären für den Zoo, ein Disneyland und anderes. Außerdem kündigte er an, alle Versprechen zu brechen.

Zur allgemeinen Überraschung stieg die Zustimmung zur Besten Partei rapide an, von 0 auf 10 auf 26 Prozent einen Monat vor der Wahl. Gnarr sagte eben, was die meisten dachten: Politiker sind korrupt und tun nur so, als hätten sie die Situation im Griff. Was sollten sie auch gegen eine globale Finanzkrise anrichten?

Gnarr verspottete die Politiker, machte den Wählern aber ein ernsthaftes Angebot: Die Beste Partei hat kein Allheilmittel für die Probleme. Sie wird aber ihr Bestes tun, damit die Leute Spaß haben und es ihnen gut geht. Die Beste Partei ist ebenso korrupt wie die anderen Parteien. Sie wird die Korruption aber bekämpfen, indem sie sie offen auslebt.

Die Reykjaviker wählten daraufhin Gnarr mit fast 35 Prozent zum Oberbürgermeister. Einen Mann, der nach eigenen Angaben ADHS hat, als Jugendlicher mehrfach in der Psychiatrie war, in einer Punkrock-Band gesungen hatte und mit einem Unternehmen Bankrott ging, bevor er als Komiker berühmt wurde.

2. "Es gibt nur gute Kooperation, die Freiheit des Individuums und Verantwortung für sich und andere."

Wer ist Jon Gnarr? Ein sympathischer Spaßvogel, den ein Treppenwitz der Geschichte zufällig an die Macht gebracht hat, weil das Vertrauen in die Politik soweit dahingeschmolzen war, dass nur noch die Parodie ernst zu nehmen war? Gnarr ist lustig, satirisch, ironisch - aber offensichtlich niemals zynisch. Er glaubt an die Menschen und vertraut darauf, dass die Isländer, die diesen Felsbrocken im Nordatlantik bewohnbar gemacht haben, es auch diesmal hinkriegen werden. Er freut sich, dass ihn die Leute so sehr mögen, und appelliert an alle, sich das Leben gegenseitig leichter zu machen und fröhlich zu sein.

Zugleich ist Gnarr subversiv und, wie er in mehreren Interviews zeigt, theoretisch durchtrieben. Die Beste Partei beschreibt er als "Anarcho-Surrealisten. Keiner weiß, was das ist, auch ich nicht." Treffend ist es dennoch. Die Beste Partei nutzt die Parodie, um Widerstand zu leisten. Gnarr und seine Mitstreiter haben sie gegründet, um es den Politikern heimzuzahlen, die sie ihr ganzes Leben geärgert haben. Gnarr findet, dass Politik überschätzt wird und dass Politiker nur so tun, als hätten sie die Macht, während in Wahrheit der Kapitalismus am Drücker sitzt. Politik ist Witz und Theater.

Gnarr will, dass die Leute das begreifen. Er will die Illusion der Allmacht der Politik entlarven, damit die Leute selbst denken und handeln, anstatt die Verantwortung an die Politik abschieben. Sein Ziel ist es, sich selbst unnötig zu machen, und sein Traumpräsident, so Gnarr im Interview mit Kontext, wäre eine Person mit Downsyndrom. Das wäre wenigstens ehrlich. "Die Zeit der Helden ist vorbei … es gibt nur gute Kooperation, die Freiheit des Individuums und Verantwortung für sich und andere."

Soweit die Theorie.

3. "Ich bin öfter müde, denn ich bin rund um die Uhr Bürgermeister."

In der Praxis hat sich indes nicht viel geändert. Anders als es viele gedacht und auch gehofft hatten, war Gnarr kein One-Hit-Wonder, das nach zwei Monaten wieder verschwindet. Er hat eine stabile Koalition mit den Sozialdemokraten gebildet und führt die Geschäfte.

Gefragt, was er verändert habe, antwortet Gnarr, er habe vor allem einen neuen Stil etabliert: "Wenn ich von einem Thema keine Ahnung habe, gebe ich dies als erster Bürgermeister der Stadt öffentlich zu." So plaudert er also aus dem Nähkästchen: Er sagt, dass ihm sein früherer Job als Komiker mehr Spaß gemacht hat, erzählt, wie überfordert er war, als es plötzlich ernst wurde, und äußert sogar Verständnis für die Politiker: "Viele Menschen sind in der Politik, um etwas zu bewegen … Menschen kommen in die Politik, wollen etwas erreichen und arbeiten dann an Dingen, von denen sie keine Ahnung haben."

Ein wenig ist es wie eine Rathaus-Reality-Show, in der jeder beobachten kann, wie sich einer, der noch nie etwas mit Politik zu tun hatte, als Bürgermeister macht. Gnarr inszeniert sich natürlich gern, und er nutzt dies, um Themen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Er verkleidete sich zur Gay-Parade als Drag-Queen, verlegte das Rathaus ins "Problemviertel" Breiðholt, schwärmte von einem Joint in Denver und erklärt, dass auch Dicke oder Schüchterne Staatsführer sein sollen.

Im fulminanten Finale des "Simply the Best Video" verkündet Gnarr seine Wahlversprechen - natürlich über den bekannten Tune von Tina Turner

Die politischen Mühlen laufen währenddessen weiter wie bisher. Geschehen ist, nach fast vier Jahren, weder etwas Grandioses noch etwas Katastrophales. Gnarr ließ die Bürger im Projekt "Besseres Reykjavik" darüber mitentscheiden, was die Stadt macht, immerhin. Ein Disneyland hat er nicht errichten lassen, aber ein Vogelschutzgebiet; Hallenbäder kosten immer noch Eintritt, die Steuern sind gestiegen, Leute im öffentlichen Dienst werden entlassen, die Stadtfinanzen sind weiterhin suboptimal.

Alles andere würde auch Gnarrs Heldentheorie widersprechen. Vielleicht brachte es der isländische Youtube-Nutzer VvEinarvV auf den Punkt, als er in den Kommentaren unter dem Wahlspot der Besten Partei - "Simply the best video" - auf die Frage antwortete, was sich nach fast drei Jahren Gnarr in Reykjavik geändert habe: "Eigentlich nichts. Die Stadt ist sauberer, positiver und er einfach ein epochaler Kerl." Wenn die Politik schon ein Narrenschiff ohne großen Einfluss ist, kann auch ein Narr ans Steuer. Das ist wenigstens ehrlich und unterhaltsam.

4. Ausblick

Ende Mai ist Gnarr drei Jahre im Amt. Damit hat er länger durchgehalten als seine sieben Vorgänger. Falls er sich wieder aufstellt, hat er gute Chancen, erneut gewählt zu werden. In aktuellen Umfragen kommt er auf 32 Prozent.

Gnarr hat aber bereits für den Althing, das Parlament kandidiert. Diesmal nicht für die Beste Partei, sondern für die neue Partei "Bright Future", zu der sich die Beste Partei mit einigen Parlamentsmitgliedern verbunden hat. "Bright Future" ist keine Scherzpartei. Sie setzt sich für einen Anschluss an die EU ein.

Bright Future erhielt bei der Parlamentswahl am 28. April gut 8 Prozent. Genug, um die 5-Prozent-Hürde zu knacken, aber zu wenig, damit Gnarr, der auf dem fünften Listenplatz für Reykjavik-Nord aufgestellt war, mit ins Parlament einzieht. Gnarr selbst hofft dennoch, mehr als eine vorübergehende Erscheinung zu sein, sondern eine Quelle der Inspiration: "In Island braucht man oft nur eine Person. Musik war Schrott hier, und dann kam Björk, die die Szene komplett verändert hat. Jeder realisierte, wenn sie es kann, können wir es auch." Dasselbe soll künftig auch für Politiker gelten.