Wie man als Dozent Arbeiterkinder behandeln solle

Merkwürdige Empfehlungen von der FU Berlin

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Die hochschuldidaktische Abteilung der TU München (deren Kurse ich mehrfach besuchte) wies via Facebook auf die „didaktischen Empfehlungen zum konstruktiven Umgang mit Diversity in der Hochschullehre“ hin, die bei der FU Berlin gesammelt worden sind.

Stets interessiert, die eigene Arbeit zu verbessern, schaute ich mir die entsprechende Website sehr gründlich an, die in mehrfacher Hinsicht einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterließ.

Zunächst einmal erstaunte mich das Wortgeklingel. Kostprobe gefällig? „Wegweisend ist dabei ein mehrdimensionales Verständnis von Diversität, um die Etablierung neuer Exklusionen zu vermeiden.“ Lustigerweise ist bereits die „Mehrdimensionalität“ Kind einer metaphernbrechenden Fehlübersetzung: Im Original handelt es sich um „layers“, und das zugehörige Diagramm zeigt sehr wohl drei „layers“, aber, wie’s halt in der Ebene so üblich ist, nur zwei Dimensionen. Wie auch immer, wir sind ja hier in der Diversitätsabteilung und nicht in der Mathematik (oder Anglistik).

Jedenfalls führt nun die FU-Website Empfehlungen zum hochschuldidaktischen Umgang mit diversen Gruppen auf, so „Internationale Studentinnen und Studenten“, „Studentinnen und Studenten mit Migrationshintergrund/Migrationserfahrung“ und so weiter. Diese Auflistung war wiederum höchst beeindruckend für mich, erfuhr ich doch hier zum ersten Mal, dass auch ich einer Minderheit angehörte, die auf spezielle Weise von der Kursleitung zu behandeln ist: „Bildungshintergrund (Nicht-Akademiker Familien)“ (Kopplungsfehler wie im Original).

Ein paar persönliche Worte

Mein Vater arbeitete als Maurer, solange es gesundheitlich ging, und heute als Schulbusfahrer; meine Mutter zog insgesamt vier Kinder groß und war damit, wenig überraschend, klassische Hausfrau. In der näheren oder weiteren Verwandtschaft in aufsteigender Linie gibt es niemand mit Studium oder auch nur Abitur (außer einer älteren Schwester, die sich trotz Hochschulreife bewusst gegen das Studium und für eine Schreinerlehre entschied). Ich gehörte also ganz eindeutig zu den "Studentinnen und Studenten aus Nicht-Akademiker-Haushalten" (man beachte das nicht-gegenderte Original der Diversitätler; ich beschwere mich nicht, weise nur darauf hin).

So solle man mit Studierenden aus Nicht-Akademikerhaushalten umgehen

Wie hätten also meine akademischen Lehrer damals mit mir umgehen sollen, nach den heutigen Empfehlungen der FU Berlin? Sie hätten „akademische Fach- und Fremdwörter unaufgefordert definieren“ müssen. Meint die FU damit nur Spezialjargon à la (meinetwegen) „Adlektion“ oder aber auch bildungsbürgerliches Allgemeinvokabular wie „Dimension“, das doch eigentlich jeder Mensch mit oder ohne Hochschulreife korrekt verwenden können sollte?

Mich verwirrt insbesondere, dass dieser Hinweis speziell bei den Nicht-Akademiker-Kindern steht; heißt das, dass die Diversitätler davon ausgehen, dass die Akademikerkinder (um beim Beispiel zu bleiben) „Adlektion“ ohnehin verstehen? Oder soll man sich das Arbeiterkind nach dem Kurs unauffällig beiseite nehmen zur Nachschulung in Sachen „Dimension“?

Aber es wird noch lustiger. Meine Lieblingsempfehlung ist die folgende: Man solle „versuchen, Studentinnen und Studenten [aus Nicht-Akademiker-Familien] die Angst vor Redebeiträgen zu nehmen, sie zu Diskussionen ermutigen und jeden Redebeitrag – unabhängig von der Qualität – wertschätzen“. Etwas verkürzt (und zugegebenermaßen polemisch zusammengefasst) bedeutet dies nichts anderes, als dass meine akademischen Lehrer mich wie einen Idioten hätten behandeln sollen.

Oder missverstehe ich die Diversitätsempfehlungen und mit „wertschätzen“ ist lediglich gemeint, dass ich Arbeiterkindern, die eine unglückliche Frage stellen, nicht über den Mund fahren soll? Gut, dieser Ratschlag wäre an sich konsensfähig – würde sich nicht aus dieser Empfehlung e contrario ergeben, dass man Akademikerkindern mit dummen Fragen eine, sagen wir, wenig wertschätzende Antwort entgegenzuschleudern habe.

Wir nähern uns dem Kern des Problems. Es scheint bei keiner dieser Empfehlungen einen Grund zu geben, warum man einen Unterschied machen sollte zwischen Studierenden verschiedenen familiären Hintergrunds.

Wenn die FU-Diversitätler explizit zum Zwecke der Förderung und Integration von Studierenden aus Nicht-Akademikerhaushalten beispielsweise empfehlen, „in Ihrem Kurs eine Atmosphäre schaffen, in der es keine ‚dummen’ Fragen gibt“, dann kann das nicht anders interpretiert werden, als dass man von vorneherein davon ausgeht, dass von solchen Studierenden tendenziell eher „dumme Fragen“ zu erwarten seien. Würde man solch einen Ratschlag hinsichtlich (sagen wir) afrikanischer Studierender geben, müsste man von blanken Rassismus sprechen. Hinsichtlich Arbeiterkindern bleibt es immerhin herablassender Unfug.

Die meisten der Tipps fallen in diese Kategorie der Selbstgefälligkeiten. Doch es gibt auch einen wahrhaft schadhaften Ratschlag, nämlich „die Studentinnen und Studenten bestärken, dass sie in der Hochschule genau am richtigen Ort sind, sich für das richtige Studienfach entschieden haben und über genügend Leistungsfähigkeit verfügen“. Man beachte: Dies wird absolut empfohlen. Man soll also nicht die Situation der oder des jeweiligen Studierenden berücksichtigen. Das heißt also, dass man junge Menschen nicht nur ins offene Messer laufen lässt, sondern sie geradezu sehenden Auges hineintreibt. Nicht jeder kann ein guter Jurist oder Ingenieur oder Lehrer oder was auch immer werden; es ist nichts Verwerfliches daran, das Studienfach oder gar das ganze Studium zu überdenken – wiederum völlig unabhängig davon, welchen Beruf die Eltern ausüben und welche Bildung sie genossen haben.

Die Geburt einer Minderheit

Ich frage mich gerade, wie viele meiner akademischen Lehrer meine familiäre Abkunft kennen. Die allermeisten vermutlich nicht, woher auch? Ich habe mir auch überlegt, bei wie vielen meiner eigenen Studentinnen und Studenten ich über diese Information verfüge. Es sind exakt zwei. Wiederum: Woher auch? Soll ich zur besseren Implementierung von Diversitätsratschlägen zu Semesterbeginn einen Zettel herumgehen lassen, auf dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Bildungsgrad ihrer Eltern zu notieren haben?

Ehe ich auf die FU-Website hingewiesen wurde, war mir nicht bewusst, dass ich einer spezieller Pflege bedürfenden Minderheit angehöre; niemand an der Universität hätte mich dergleichen jemals (und sei es auch nur in Andeutungen) spüren lassen. Was wir hier erleben, scheint die Geburt einer Minderheit zu sein. Aus den Empfehlungen der FU-Diversitätler scheint sich ganz klar zu ergeben, dass man zumindest dort davon ausgeht, dass meinesgleichen eher dumme Fragen stellt und Fremdwörter nicht versteht. Man muss hoffen, dass sich solche Stereotypen nicht von der Diversitätsabteilung zu den Fachwissenschaften ausbreiten.

Und um nicht missverstanden zu werden: Die noblen Intentionen der Diversitätler seien hiermit explizit gelobt. Aber wie so oft gilt: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut.

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