Wir sind doch schlecht, dumm und rücksichtslos

Ein unerwartetes Beispiel für das Problem chronischer Ungleichgewichte

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Die Aussage, wir verfolgten stets nur unser ökonomisches Eigeninteresse, ist die Grundlage unseres Wirtschaftens. Als "self-interest hypothesis" wird sie in den Wirtschaftswissenschaften von Adam Smith bis hin zur heutigen Spieltheorie immer wieder bewiesen. Die meisten Beispiele, etwa das legendäre Prisoners Dilemma, handeln von Gewinn- und Erfolgserwartungen. Es reicht aber auch, die Einkaufswagen vor dem Supermarkt zu beobachten.

Versuchsanordnung: 91.000 Einkaufswagenhütten, 53 Millionen Nutzer täglich

Unsere Supermärkte kennen mindestens zwei Varianten zur Bereitstellung der Einkaufswagen. In Variante 1 befinden sich die Einkaufswagen in einem überdachten und vor Wind und Wetter geschützten Eingangsbereich. Variante 2 hält die Wagen im Außenbereich in einer überdachten Hütte vor. Deren Konstruktion sieht vor, dass drei Reihen Einkaufswagen nebeneinander unter das Dach passen. In der Theorie der Supermarktbetreiber und Konstrukteure nehmen sich die Kunden nun einen Wagen und geben diesen danach wieder ab. Dies geschieht auch - aber anders, als es sich die Veranstalter vorstellen.

Wir sind schlecht, dumm und rücksichtslos - die Einkaufswagen verkünden eine bittere Wahrheit.

Wie wir deutlich auf dem Bild sehen können, ist die rechte Reihe deutlich kürzer, während die vorderen Wagen der linken und mittleren Reihe im ungeschützten Außenbereich stehen und dabei nass werden. Wer tut nun was und warum?

  • Neue Kunden nehmen einen Wagen aus dem trockenen Bereich. Dadurch verkürzt sich die rechte Reihe immer mehr.
  • Die fertigen Kunden scheuen den Aufwand, in die Hütte zu gehen und geben ihren Einkaufswagen in der nassen Reihe ab.

Die Einkaufswagen finden nicht mehr in ihr Gleichgewicht zurück. Da sie nur mit einer Münze bedienbar sind, könnte auch kein wohlmeinender Kunde oder Mitarbeiter das Gleichgewicht mit ein paar Handgriffen wiederherstellen. Ein banaler Service misslingt und eskaliert. An jedem Regentag.

Drei Wochen später. Strömender Regen. Der gleiche Supermarkt. Die gleiche Uhrzeit.

Nach drei Wochen das gleiche Bild: Das kann kein Zufall sein. Selbst der geringste Vorteil scheint es wert, andere zu benachteiligen und zu schädigen.

Einfache Lösungen sind gefragt

Im Beispiel der Einkaufswagen gäbe es einfache Lösungsmöglichkeiten. So könnte die Zahl der Einkaufswagen so vermindert werden, dass das Ungleichgewicht nicht entsteht. Oder man könnte das Dach um 1 Meter 50 verlängern. Oder auf den Pfand verzichten. Dann könnten die Wagen einfach von Kantianern umgeparkt werden. In allen Fällen wäre keine Umerziehung der egoistischen Kunden nötig. Weiterer Vorteil: In beiden Fällen müssen die Kunden nicht gefragt werden, ob sie die Maßnahmen für gut befinden.

Wenn extreme Ungleichgewichte entstehen, das zeigt etwa die Auswertung der Permanenzen im Roulette, pendeln diese sich oft wieder ein. Die gesamte Konjunkturtheorie basiert auf der aus der Astrologie stammenden Annahme einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Als "Zyklen" bezeichnete Zustände lösen sich dann ab. Schöne Aussicht: Man braucht nur darauf zu warten, bis es wieder bergauf geht.

Was aber mit chronischen Ungleichgewichten und Störungen wie den ständig steigenden Staatsschulden, den maroden Alterssicherungssystemen, den veralteten Benzinautos oder der Deutschen Bahn?

Dort hilft keine Pädagogik mehr. Die Systeme sind marode und müssen grundsätzlich reformiert werden. So wie in den drei Beispielen bei den Einkaufswagen ist eine einfache Systemänderung gefragt; einfach nicht in ihrer Durchsetzungsfähigkeit, denn der Widerstand gegen sie ist groß und hartnäckig, sondern einfach im Effekt. Beispiele?

Kann man solche Überlegungen anwenden?

Problem 1: Verbreitung des Elektroautos

Bisherige Förderideen: Steuerbefreiung, mehr Stromzapfstellen, Subvention beim Kauf.

Alternative: Öffentliche Parkplätze schrittweise nur noch für Elektroautos.

Problem 2: Defizit in der Rentenversicherung von derzeit 80 Milliarden Euro pro Jahr, die aus dem Bundeshaushalt beglichen werden, was den Zuschuss zum größten Einzelposten macht.

Bisherige Maßnahmen: Strengere Kontrollen von Scheinselbständigen und Schwarzarbeitern, Niedriglöhne als Anreiz für versicherungspflichtige Beschäftigung, Aufstockung von Hartz IV.

Alternative: Einführung einer Einheitsmindestrente ohne Beitragsbemessungsgrenze und mit Versicherungspflicht für Beamte und Selbständige.

Problem 3: 2,2 Billionen Staatsschulden

Bisherige Maßnahmen: Schuldenbremse, Niedrigzinspolitik, Zwang zum Kauf von Staats- anleihen als "mündelsichere" Geldanlage, höhere Steuern.

Alternative: Rückführung von 50% der Schulden mit einer Zwangshypothek von 20% des Verkehrswertes auf alle Grundvermögen. Danach strikte Schuldenbremse.

Problem 4: Niedriglöhne, von denen man nicht leben und keine Altersvorsorge aufbauen kann.

Bisherige Maßnahmen: Mindestlohn, Aufstockung mit Hartz IV, bedingungsloses Grundeinkommen.

Alternative: Einheitslohn.

Problem 5: Bahn und öffentlicher Nahverkehr funktionieren immer schlechter.

Bisherige Maßnahmen: Privatisierung, Fahrpreiserhöhung, Umstrukturierungen, Sonderangebote, Netzausdünnung, Verkauf von Bahnhöfen

Alternative: Staatlichen Zuschuss um 10 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen, Monatskarte für 100 Euro auf allen Pendlerlinien einführen.

Was bleibt, ist das Phänomen, dass jede noch so gut gedachte Lösung neue, nicht vorhersehbare Probleme erzeugt. Wird der Einheitslohn zur Motivation bei hoher Belastung ausreichen? Werden wirklich mehr bisherige Autopendler für 100 Euro im Monat auf die Bahn umsteigen? Werden die sanierten Staatshaushalte nach der Entschuldung besser wirtschaften? Werden wir uns zur Erhaltung der Individualmobilität noch Elektroautos zulegen? Oder werden wir nur noch mit Rad, zu Fuß, mit Bus und Bahn unterwegs sein?

Die Ungewissheit des Erfolges jeder Reform und Therapie war bisher immer noch das wirksamste Argument gegen jede Systemänderung.